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Szene VI

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Am nächsten Morgen stand d'Artagnan in aller Frühe auf. Die Sonne blinzelte gerade erst schlaftrunken am Horizont und ihre Strahlen reichten nicht einmal aus, um die rot gedeckten Spitzdächer leuchten zu lassen. Der Frühnebel dämpfte noch die meisten Geräusche des jungen Morgens und der Wind trug einen Duft von Jasmin mit sich. Es versprach, ein herrlicher Tag zu werden.

Gut gelaunt wie lange nicht mehr kleidete sich d'Artagnan an und verließ sein Zimmer. In der Küche wartete schon ein Frühstück auf ihn und der Gascogner nickte zufrieden ob des aufmerksamen Dieners, der ohne eine entsprechende Aufforderung seines Herrn den Tisch bereits gedeckt hatte. Etwas behäbig ließ sich d'Artagnan auf einem Stuhl nieder und begann seine Mahlzeit, wobei er sich die Zeit ließ, jeden Bissen vom frischen Brot aufs Neue zu genießen.

Unvermittelt öffnete sich hinter ihm die Tür zur Küche und erstaunt sah d'Artagnan eine Person eintreten, mit der er so früh am Morgen noch nicht gerechnet hätte. Seine Frage musste ihm deutlich im Gesicht gestanden haben, denn leicht empört antwortete ihm die helle Stimme einer Frau: „Ich störe Euch doch hoffentlich nicht, Monsieur? Oder sollte ich Euch besser wieder allein lassen?“

„Aber nein!“ D'Artagnan hatte sich von der Überraschung erholt, erhob sich rasch von seinem Platz und bot ihn galant der zierlichen Frau an, die dem Gascogner trotz ihres tadelnden Tonfalls zuvor, nun ein breites Lächeln schenkte. Sie setzte sich, griff selbst nach einer Scheibe Brot und belegte sie, während d'Artagnan sich einen anderen Stuhl heranzog, wobei er es fertig brachte, gleichzeitig die frische Schönheit neben sich zu bewundern und sich für seinen noch unrasierten Morgenbart zu schämen. „Nein, Madame, im Gegenteil!“ fuhr er munter, seine Verlegenheit überspielend, fort. „Ich war nur etwas verwundert, denn ich glaubte, Ihr würdet noch schlafen.“

„Schlafen! Wenn mein Gatte um diese Zeit bereits durch die Zimmer poltert?“ Schalk blitzte in ihren Augen, als sie den bestürzten Ausdruck im Gesichts ihres Gegenübers sah. Sofort darauf wurde sie jedoch Ernst und ihre nächste Frage klang mehr nach einer Feststellung. „Ihr habt vergessen, was heute für ein Tag ist?“

Der alte Gascogner überlegte fieberhaft, sich des forschenden Blickes, mit dem Madame d'Artagnan ihn musterte, unangenehm bewusst. Allerdings fiel ihm nicht ein, was an diesem Dienstag so besonderes sein sollte und er musste bedauernd den Kopf schütteln. Wie zu erwarten, seufzte seine Frau scheinbar verzweifelt über das schlechte Gedächtnis ihres Gatten und sagte streng: „Bertrand de Batz-Castelmore!“

Es war schon erstaunlich, welch einschüchternde Wirkung eine so kleine Person wie Françoise de Montesquiou-d'Artagnan hervorrufen konnte, selbst, wenn ihr Zorn nur gespielt war. Sie stemmte dabei die Hände in die Hüfte, legte den Kopf ein wenig schief, sodass ihr einige der allmählich ergrauenden Locken aus dem Zopf über die Schulter fielen und funkelte ihren Gegenüber herausfordernd an. Im Laufe der vielen Jahre, die sie nun schon mit ihrem Mann verheiratet war, der sich nach ihr gerne d'Artagnan nannte und der ebenso hitzig wie stur sein konnte, hatten diese Gesten nie ihre Wirkung verfehlt. Auch jetzt wurde Bertrand recht kleinlaut und strich sich nervös übers Kinn. In den beinahe 52 Jahren, die er nun zählte, war ihm noch kein anderer Mensch wie Françoise begegnet, der es mit einem bloßen Blick so gründlich gelang, das Temperament des Gascogners zu zügeln. Andererseits war Madame d'Artagnan auch voller Sanftmut und Herzlichkeit, einer der vielen Gründe, weshalb die Vernunftehe von damals zu der glücklichen Verbindung von heute geworden war.

Schweigend wartete Bertrand die Erklärung Madame d'Artagnans ab, die auch prompt folgte: „D'Orfeuille wird uns während des Mittags besuchen.“

Diese Nachricht wurde von dem Gascogner allerdings nicht so freudig aufgenommen, wie sie eigentlich gemeint war „D'Orfeuille! Er ist schon zurück aus der fernen Hauptstadt?“

Françoises Mundwinkel zuckten belustigt, wusste sie doch genau, was ihr Mann von Monsieur d'Orfeuille hielt. Nichtsdestotrotz sagte sie bestimmt: „Ich bitte Euch, er war über ein Jahr fort und ist erst in der vergangenen Woche von seiner Handelsreise zurückgekehrt.“

Bertrand schnaubte verächtlich. „Handelsreise, ja! Der Fuchs tanzt auch Abends mit den Hühnern. Warum kommt er her? Hier gibt es nichts für ihn.“

Françoise blieb geduldig. „Weil Jean d'Orfeuille nun einmal unser Nachbar ist und wir ihn nach einer langen Zeit wiedersehen. Er hat sicherlich viel von seiner Reise zu berichten.“

Bertrands Gesicht verfinsterte sich noch ein wenig mehr. „Auf diesen Bericht bin ich gespannt.“ knurrte er und schüttelte unwillig den Kopf. Françoise duldete jedoch keine Widerrede. „Immerhin hat es der junge Herr zu etwas gebracht, er kehrt mit den Taschen voller Gold heim in die Provinz. Ich habe Euch vor einigen Tagen schon gesagt, dass d'Orfeuille uns besuchen würde. Wir werden ihn mit Gastfreundschaft empfangen, wie es sich gehört!“

Bertrand verschluckte das 'Wie ihr wünscht', das ihm auf der Zunge lag und begnügte sich mit einem weiteren, finsteren Blick.

*~*~*~*~*

„Mein lieber Herr d’Artagnan! Was für eine Freude, Euch zu sehen!“ D'Orfeuille zog Bertrand in eine herzliche Umarmung, welche mit einem sauren Lächeln Seitens des Gascogners erwidert wurde. Dadurch trübte sich das breite Grinsen Jean d'Orfeuilles, das seine großen, weißen Zähne enthüllte, kein bisschen. Im Gegenteil! Er schlug seinem Nachbarn freundschaftlich und begeistert auf die Schulter, trat schwungvoll einen Schritt fort, wischte mit einer spielerischen Handbewegung einige seiner goldblonden Locken über die Schulter zurück und bewies in seinem ganzen Gehabe eine derart aufgesetzte Eleganz, dass sie dem immerhin zwanzig Jahre älteren Bertrand das beste Beispiel für jugendlichen Übermut bot, wie ihn Schloss Castelmore lange nicht mehr erlebt hatte.

Der große Saal des Gemäuers, in dem sich diese Begrüßung ereignete, war, um den Gast standesgemäß willkommen zu heißen, glanzvoll geschmückt worden. Auf einem Tisch am hinteren Ende warteten die erlesensten Speisen, welche die Küche zu bieten hatte, sogar eine fette Gans war geschlachtet worden und thronte nun knusprig gebraten in der Mitte. Um sie herum standen Obstschalen, Gemüse und Saucen, selbstverständlich Teller und Gläser für den Wein eines ausgezeichneten Jahrgangs. Vielleicht war Castelmore tief im Süden Frankreichs gelegen, ein bäuerlich anmutendes Landgut, einige Meilen entfernt von den Nachbarn, noch weiter zur nächstgrößeren Stadt, aber zu feiern verstanden es die Gascogner allemal!

D'Orfeuille wandte sich nun Madame d'Artagnan zu, und küsste ihr galant die dargebotene Hand, was sie mit Entzücken belächelte. Der junge Mann war wohl erzogen und so fiel es Françoise nicht schwer, mit ihm ein Gespräch im Plauderton zu beginnen, während sich die drei Personen zur Tafel begaben. „Monsieur, wie ist Euer Befinden nach einer so langen Reise? Ich hörte, der Weg nach Paris sei nur mit einigen Anstrengungen zu bewältigen.“

D'Orfeuille winkte die letzte Bemerkung lässig mit einer Hand ab und erklärte mit einem selbstsicheren Lächeln: „Die Straßen sind leider nicht so sicher, wie sie sein sollten und der Weg von der Gascogne in die Hauptstadt ist weit. Allerdings schien mir die Reise mehr erholsam als mühselig. Natürlich ließ sich das ein oder andere Abenteuer nicht vermeiden, doch dank Glück und Geschick ist mir zu keiner Zeit Bange geworden.“

Bertrand verschluckte sich fast an seinem Wein und hustete unterdrückt, was ihm einen besorgten Blick d'Orfeuilles einbrachte. Françoise überging diesen kleinen Zwischenfall und meinte schnell: „Ihr seid wirklich tapfer und es scheint, als hättet Ihr in Paris Euer Glück gemacht.“

D'Orfeuille gab sich bescheiden, doch die leichte Röte seiner Wangen verriet ihn. Er war sichtlich stolz auf seine erfolgreiche Reise, die ihn durch geschickte Spekulation, wenn auch nicht reich, so zumindest wohlhabend gemacht hatte und berichtete der andächtig lauschenden Madame d'Artagnan bis ins kleinste Detail von Paris, sodass sie sich nach einiger Zeit ein lebhaftes Bild von der großen Stadt und ihren Menschen machen konnte. Wenn Françoise etwas besonders interessierte, fragte sie genauer nach und mit leuchtenden Augen erzählte ihr Gast weiter, wodurch das Essen für beide ausgesprochen kurzweilig wurde. Bertrand jedoch schwieg mürrisch, versuchte, sich seine eigenen Gedanken über 'malerische Gärten' und 'pompöse Bauwerke' nicht anmerken zu lassen und konzentrierte sich auf sein Essen. So hörte er nur mit halben Ohr hin, als d'Orfeuille in seiner geschliffen einschmeichelnden Art an ihn gewandt meinte: „Etwas, dass ich noch nicht erzählt habe, was Euch jedoch mit Sicherheit interessieren dürfte, ist, dass es mir vergönnt war, Euren Sohn kennen zu lernen.“

Bertrand sah seinen Gast nicht einmal an, als er gelangweilt, wie schon so viele Male zuvor, antwortete: „Ist das so?“

Erneut zeichnete sich eine leichte Röte auf d'Orfeuilles Wangen ab, als wäre er bei einer Lüge ertappt worden und schnell fügte er hinzu: „Nicht persönlich, meine ich. Aber ich habe viel von dem jungen Leutnant der Musketiere reden hören. Ihr müsst gewiss stolz auf ihn sein, Herr d'Artagnan.“

Erst jetzt horchte Bertrand auf. Nicht sicher, ob er richtig verstanden hatte, wovon d'Orfeuille sprach, warf er einen Blick zu seiner Frau, doch auch in ihrem Gesicht spiegelte sich nur Ratlosigkeit wider. Bertrand musterte daraufhin seinen Gast gründlich, doch d'Orfeuille schien völlig arglos auf eine Antwort zu warten, die ihm der Gascogner schließlich mit einem forschenden Unterton in der Stimme gab. „Verzeiht, Monsieur, aber ich fürchte, ich war einen Moment abgelenkt. Was sagtet Ihr noch zuletzt?“

„Ich sprach davon, dass ich viel von dem Leutnant der Musketiere Seiner Majestät gehört habe.“ erwiderte d'Orfeuille, doch unsicherer als zuvor. „Sein Name lautet Charles d'Artagnan und deshalb hielt ich ihn für Euren Sohn.“

Bertrand überlegte einen Augenblick, ob d'Orfeuille sich einen Scherz mit ihm erlaubte, doch dies schien nicht der Fall zu sein. Nach einer Weile sagte der Gascogner langsam: „Es tut mir leid, aber hierbei kann es sich nur um ein Missverständnis handeln - Ich habe keinen Sohn.“

Françoise sah die Verwirrung im Gesicht ihres Gastes und suchte nach einer Erklärung. „Möglicherweise verwechselt Ihr den Namen?“ Aber d'Orfeuille schüttelte bestimmt den Kopf. „Nein, nein! Ich hörte laut und deutlich von jemandem Namens d'Artagnan reden. Er diene als Leutnant unter Monsieur de Tréville, hieß es weiter.“

„Vielleicht“, scherzte Bertrand an seine Frau gewandt, „hat uns Euer Bruder ein kleines Geheimnis verschwiegen.“

Françoise wurde unmerklich blasser, doch schien dies nicht von der letzten Bemerkung ihres Gatten herzurühren. Ein anderer Gedanke schien sie derart erschreckt zu haben, gegenüber ihrem Gast nickte sie jedoch und lachte leise: „Das ist sicherlich eine Möglichkeit.“ wobei sie Bertrand einen Blick zuwarf, das Thema nun ruhen zu lassen. Auch d'Orfeuille ging nicht weiter darauf ein und überspielte die entstandene Verlegenheit mit einer weiteren Erzählung von seiner Reise.

Bertrand verfolgte das neu einsetzende Gespräch nicht länger. Er grübelte.

Seine Frau hatte keinen Bruder. Wer war also dieser Leutnant?

Mordpakt: Richelieu

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