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Kapitel 5
ОглавлениеDie Katzen halten keinen für eloquent, der nicht miauen kann.
- Marie von Ebner-Eschenbach
Lisa versuchte, ihrem Nachbarn an den folgenden Tagen aus dem Weg zu gehen. Er schien ein relativ unstetes Leben zu führen und besaß keinen offensichtlichen Zeitplan. Mal sah sie ihn joggen, dann mit seiner großen Sporttasche das Haus verlassen. Viel Besuch bekam er nicht, wobei sie ihn natürlich auch nur flüchtig beobachtete. Natürlich.
Dazwischen folgte sie ihrem eigenen Rhythmus. Vor den Spätdiensten und nach den Frühdiensten ging sie selbst laufen und nutzte die freien Stunden um die Nachtdienste herum für Hausarbeit und Einkaufen. Ihre Vermeidungstaktik ging etwa zwei Wochen lang gut, bis sie fulminant scheiterte.
Es war wohl kurz nach 21 Uhr, als sie nach einem anstrengenden Dienst nach Hause kam. Sie war während einer Personensuche in ein Gewitter geraten und hatte jedes Fitzelchen Talent und Erfahrung benötigt, um ihren Hubschrauber Libelle 12 sicher am Flughafen Hannover zu landen. Nach solchen Tagen fühlte sie sich ausgelaugt, am Ende ihrer Kräfte und sie war mehr als dankbar, am Ende der Sackgasse endlich ihre kleine Doppelhaushälfte zu entdecken. Es nieselte und Lisa hörte beim Aussteigen aus dem Auto das klägliche Maunzen einer Katze. Sie folgte dem Geräusch auf die andere Straßenseite und entdeckte nach kurzem Suchen den Kater ihres Nachbarn im Baum einer Kastanie. »Na, da hast du dich ja ordentlich in die Klemme gebracht, mein Schöner.«
Der Kater krallte sich nur an seinem Ast fest und blickte jämmerlich auf sie herunter. Kurz überlegte Lisa, ob sie bei Darrer klingeln sollte, entschied sich jedoch dagegen. »Ist schon gut, Kleiner, ich rette dich!«
Mit einem Seufzen sprang Lisa an den untersten Ast und zog sich Stück für Stück hinauf. Sie zog ihre Beine an und krallte sich in die dicke Borke. Eine Strähne löste sich und rutschte ihr vor die Augen. Gerade als sie Moses’ Ast erreichte, bog ein Motorrad mit lautem Knattern in die Straße ein. Langsam fuhr es weiter, bis es direkt vor ihrem Häuschen stehen blieb. Lisa atmete genervt aus. Ein neuer Bewunderer? Der Mann parkte seine Maschine und nahm den Helm ab.
Darunter kam ein dünner Pferdeschwanz zum Vorschein. Der Kater blinzelte und tappte näher zu ihr. Zuerst legte er seinen Kopf zur Seite, dann tappte er mit der Vorderpfote gegen ihr Bein. Geduld schien nicht seine Stärke zu sein. Wenigstens hatte er aufgehört zu maunzen. Im Elend vereint. Mit einer Katze. Wie wundervoll.
Der Mann kratzte sich am Ohr und drehte sein Gesicht zum Licht der Laterne. Der Großteil wurde von einem dichten Bart verdeckt. Die Züge waren rau und wild. Nicht uninteressant, aber auch nicht wirklich anziehend. Sein Alter ließ sich schlecht schätzen. Vielleicht Mitte vierzig? Das Motorrad war eindrucksvoller. Nicht dass sie sich damit auskennen würde, aber viele ihrer Kollegen taten es und fuhren mit ihren Maschinen zur Arbeit. Es schien eine echte Harley zu sein.
Super, ihre Großmutter schickte einen Rocker.
Lisa drückte den Kopf gegen den rauen Ast. Die Kastanie hatte ihre Blätter größtenteils verloren, dennoch war sie eines der besseren Verstecke. Diesmal gab es glücklicherweise keine Fenster - die Häuser befanden sich auf der anderen Seite des Gehweges und in Darrers Haushälfte war es dunkel. Unschlüssig betrachtete der Rocker ihr Haus, den Vorgarten und ihren alten Renault. Dann schaute er die Straße hinab. Sie folgte seinem Blick und sah Darrer in Laufsachen in ihre Richtung joggen. Seine Schritte waren ausholend und gemütlich. Dieser Mann hatte wirklich ein unfehlbares Gefühl für schlechtes Timing.
Was machte ihn nur so interessant? Seit wann fiel sie auf ein schönes Gesicht und ein paar lustige Sprüche herein? Ein Regentropfen rann ihre Wange hinab. Darrer kam immer näher und als er den Motorradfahrer vor ihrer Tür wahrnahm, stoppte er. Leider direkt unter ihrem Baum. Der Rocker hatte zwischenzeitlich wohl die Entscheidung getroffen, dass er nicht in die Vorstadtidylle passte und startete seine Maschine.
Mit lautem Dröhnen wendete er und nickte Darrer beim Vorbeifahren stoisch zu. Lisa hielt die Luft an. Doch entgegen ihrer pessimistischen Erwartungen passierte nichts. Leider auch unter ihr nicht. Anstatt endlich in sein Haus zu gehen, begann dieser unmögliche Mann tatsächlich vor ihrem Baum mit Dehnübungen. Moses, vom lauten Geräusch des Motorrads irritiert, warf Lisa einen arroganten Blick zu, der in Katzensprache wohl auszudrücken schien, was er von ihren bisher gezeigten Rettungsfähigkeiten hielt. Auf sanften Pfoten kletterte er problemlos den Baum hinab, wo er mit nassem Fell seinem verblüfften Herrchen vor die Füße sprang.
»Na, wo kommst du denn her?« Der undankbare Kater rieb sich an Darrers Beinen und erzählte miauend die ganze leidvolle Geschichte, die Darrer glücklicherweise nicht verstand. Doch dann blickte er nach oben.
Mist.
Seine Augen weiteten sich, als er sie zwischen den Ästen erblickte. Mit einem breiten Grinsen starrte er zu ihr hinauf. Moses nutzte den Moment und hüpfte über den Zaun in den Garten. Darrer räusperte sich. »Sie tauchen wirklich immer wieder an den ungewöhnlichsten Orten auf.«
Lisa strich sich verlegen eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Guten Abend.«
»Möchte ich eigentlich wissen, was Sie da im Baum machen, also mit meinem Kater?«
»Nein, wahrscheinlich nicht.« Ihr Fuß schob sich auf einen tieferen Ast, dann auf den nächsten. Jetzt kam es nicht auf Geschwindigkeit an, sondern darauf, ein Minimum an Haltung zu bewahren. Es war gewiss nicht hilfreich, dass sie ihm einen guten Blick auf ihre Kehrseite gewährte, aber dagegen konnte sie nichts tun. Glücklicherweise hatte sie eine Jeans an.
»Ich muss Ihnen sagen, Sie machen mich neugierig. Sind Sie jetzt Teil einer Rockergruppe? Hells Angels vielleicht?«
Lisa konzentrierte sich aufs Klettern. Immer einen Ast nach dem anderen. Die Rinde war vom Regen feucht. Nicht auszudenken, wenn sie den Halt verlor und wie ein fauler Apfel vom Baum fiel.
»Na, kommen Sie schon, Sie können ganz ehrlich sein. Ein verkappter Drogendeal? Probleme mit den Prostituierten? Gang-Nöte?«
Ihr Fuß rutschte ab. Ihre Fingernägel gruben sich in die Rinde, doch dann fand sie Halt. Darrer stützte sie mit seinen Händen. Mit letzter Kraft klammerte sie sich an ihre Würde und hielt sich am Ast fest, sodass sie direkt vor ihm baumelte.
»Es ging tatsächlich um einen Auftragsmord.« Sie kniff ihre Augen zusammen, aber er lächelte nur. Seine Augen waren so schön. Leuchtend blau, mit dunkelblauen Tupfen. Lisa musste schlucken. Bevor er näher an sie herantreten konnte, öffnete sie ihre Hände und löste sich von der Kastanie. »Und wenn Sie wissen, was gut für Sie ist, erstatten Sie mir meine Pizza zurück.« Nur nicht umdrehen. Langsam ging Lisa auf ihre Haustür zu. Diesmal langsam und cool. Unbeeindruckt.
Sein Lachen klang verführerisch. »Wenn Sie ein Date wollen, müssen Sie es nur sagen - ich stehe Ihnen gerne zur Verfügung.« Lisa verabschiedete sich von ihrer unbeeindruckten Haltung, drehte sich um und streckte ihm die Zunge raus. Sein wissender Gesichtsausdruck scheuchte sie schneller ins Haus, als es ein Platzregen getan hätte. Wie konnte er sich seiner Wirkung nur dermaßen bewusst sein? Es war nervtötend. Anstrengend. Heiß.
Nachdem sie die Haustür hinter sich zugezogen hatte, lehnte sie sich mit klopfendem Herzen gegen das Holz. Die Haare hingen ihr wirr und nass am Kopf herunter. Sie musste sich diesen Mann aus dem Kopf schlagen. Niemals würde sie sich für weniger hergeben, als ihre Großeltern geteilt hatten. Auch wenn Jakob und Sarah das anders sahen, ging sie Beziehungen nicht generell aus dem Weg ging. Aber warum sollte sie etwas ausprobieren, dass so offensichtlich gegen ihre Vorlieben verstieß? Verlässlichkeit war wichtig. Vertrauen und Gemeinsamkeiten. Jedenfalls spielte ein heißer Profisportler mit dem Hang, sie in peinlichen Situationen zu erwischen, eindeutig außerhalb ihrer Liga. Es kam nicht in Frage, dass sie dem Beispiel ihrer Mutter folgte und nur auf ein hübsches Gesicht hereinfiel. Nicht sie.