Читать книгу Mit Herz und Degen - Margo Wendt - Страница 7
Kapitel 2
ОглавлениеÜber Geschmack lässt sich nicht disputieren.
- Immanuel Kant
Im offenen Fenster erschien die Silhouette ihres Nachbarn. Frau Kramer von gegenüber hatte Lisa erzählt, er wäre ein berühmter Kampfsportler namens Darrer. Paul Darrer. Als sie sich nach dem Einzug vorstellen wollte, war er gerade auf irgendeinem Turnier gewesen und seitdem hatte sich nie der richtige Moment für ein Kennenlernen ergeben. Ein paar Mal hatten sie sich über den Gartenzaun höflich zugenickt, aber kein Wort gewechselt, was ziemlich seltsam war, da sie ja nebeneinander wohnten. Auf der anderen Seite war sie mit den Vorgängern, den Friedrichs, auch nicht wirklich warm geworden.
»Hallo«, murmelte Lisa und reckte ihr Kinn vor. Die Gestalt bewegte sich, bis sie ein kantiges Gesicht im Schein der Laterne erkennen konnte.
Darrer war ein großer Mann, der aus jeder Pore Selbstbewusstsein verströmte. Obwohl es eher unüblich sein sollte, fremde Frauen auf Dächern vorzufinden, verzog er keine Miene. Lediglich zwei blaue Augen funkelten belustigt.
»Sollten Sie eine Karriere als Einbrecherin anstreben, würde ich Ihnen raten, kein Rosa zu tragen. Vielleicht eher konventionelles Schwarz.«
Lisa wollte aufstehen, doch ihre Hand rutschte im feuchten Laub aus. Bis auf sein gedämpftes Glucksen war es völlig ruhig. Darrer stützte seine Arme auf dem Fensterbrett ab. Durch die neue Position wurde er von der Straßenlaterne besser angeleuchtet und der schlichte Holzrahmen umgab sein Gesicht wie ein Gemälde.
Seine kräftige Nase wirkte, als ob er sie sich in der Vergangenheit mindestens einmal gebrochen hatte, aber sein Mund ... Lisa schluckte. Ein Mann sollte einfach nicht so einen Mund haben. Im linken Mundwinkel offenbarte sich ein Grübchen. Seine Lippen waren perfekt, die untere etwas voller. Während sie versuchte, weniger wie eine Schildkröte zu wirken, die hilflos auf dem Rücken zappelte, stand er einfach nur da und starrte sie an. Lisas Herz schlug schneller. Aus der Nähe sah er definitiv eindrucksvoll aus.
»Sie sollten meiner Meinung nach auch keine Anstellung bei einem Lieferdienst wählen.« Darrer deutete auf den Pizzakarton neben ihr, den sein Kater endlich aufbekommen hatte und nun plünderte. Es dauerte einen Moment, bis sie Halt auf dem rutschigen Laub fand.
»Hey!« Sie schnappte sich den misshandelten Karton, klappte ihn zu und beförderte ihn außer Reichweite des Räubers. Das Maunzen des Katers hatte etwas Vorwurfsvolles an sich und das Tier sprang mit einem Satz vom Carport herunter.
Darrer grinste. Wieder einmal machte sich Lisa zum Deppen. Eine Blase aus Scham und Wut drückte gegen ihren Hals. Es gab nichts Schlimmeres, als ausgelacht zu werden. Vor allem, wenn sie es verdiente. Lisa kämpfte sich hoch und funkelte ihn aufmüpfig an. »Sie wissen sehr genau, wer ich bin.« Darrer hob seine Brauen, während sich das Grübchen in seiner Wange vertiefte.
Eine braune Strähne fiel in seine Stirn. »Stimmt, ich habe Ihnen doch letztens ein Autogramm gegeben. Über der linken Brust, wenn ich mich nicht irre? Aber ich muss Ihnen sagen, stalken geht für mich einfach zu weit.«
Ihr Puls raste. Am liebsten hätte sie ihn aus dem Fenster gezogen. »Herr Darrer, wir sind Nachbarn und das wissen Sie genau.« Mit einer weit ausholenden Bewegung deutete sie auf ihre Häuserseite, die gerade unglaublich weit entfernt schien. »Ich stalke nicht. Und ganz sicher haben Sie noch nie Hand an meine Brüste gelegt.«
»Ah, jetzt wo Sie es sagen ...« Sein Blick wanderte an ihr herunter und verharrte kurz auf ihrer zugegebenermaßen eher zierlichen Oberweite. »Was, liebe Nachbarin, könnte Sie dann auf mein Carport verschlagen haben?«
Mist. Lisa wischte ihre Hände an der feuchten Jeans ab. »Lustig, dass Sie fragen - es handelt sich um eine Verkettung unglücklicher Umstände.« Etwas Nasses tropfte auf ihre Stirn und sie zuckte zusammen. Na toll, jetzt regnete es auch noch. Ihr Nachbar verschränkte die Arme vor der Brust und schien alle Zeit der Welt zu haben. »Hören Sie, Herr Darrer, es tut mir leid, ich habe ...«, sie schluckte »... einfach das Carport verwechselt?«
Auf ihre lahme Erklärung hin reagierte er nicht. Schweigend sahen sie sich an, während Lisa immer nasser wurde.
»Ein Gentleman würde mir jetzt eine helfende Hand reichen!« Angriff war schon immer die beste Verteidigung gewesen.
»Nichts lieber als das!«, erwiderte er und schloss das Fenster. Verblüfft starrte Lisa einen Moment ins Leere.
»Hey!«, rief sie zum zweiten Mal. Die Skurrilität der Situation traf sie wie ein Hammerschlag und sie rutschte erneut im feuchten Laub aus. Warum passierten diese Dinge immer ihr? Es war zum verrückt werden. Wahrscheinlich sollte sie Darrers Abwesenheit ausnutzen und verschwinden, bevor er zurückkam, um sie weiter zu triezen.
Als sie mit dem Karton zum Rande des Daches trat, knallte eine Tür und jemand schlenderte pfeifend auf den Carport zu. Ihre neue Nemesis.
»Hallo Nachbarin!« Darrer hob grüßend die Hand und schob die Mülltonne aus ihrer Reichweite.
»Was machen Sie da?« Der Karton knackte und sie musste ihren Griff lockern, um den Inhalt nicht weiter zu beschädigen.
»Na los, springen Sie!«
»Ich hatte eigentlich eher gedacht, Sie lassen mich durch das Fenster hinein!«
Sein Stirnrunzeln war eindeutig aufgesetzt. »Also, auch wenn Sie die Pizza mitgebracht haben, muss ich Ihnen sagen, so schnell lasse ich mich nicht rumkriegen.« Darrer klatschte in die Hände. »Nun kommen Sie, seien Sie kein Frosch.«
Es war eindeutig. Ihr Nachbar war verrückt. Wahrscheinlich hatte er in einem seiner Kämpfe ein paar Schläge zu viel gegen den Kopf bekommen. »Ich hätte auch über die Mülltonne runter klettern können.«
»Stimmt. Aber Sie wollten ja unbedingt meine Hilfe.«
Der Regen gab den Ausschlag. Die Tropfen rannen ihre Stirn herab und sie musste blinzeln, um weiter sehen zu können. Mit einem Seufzer reichte Lisa ihm erst den aufgeweichten Pizzakarton, den er auf sein Auto legte. Dann griff sie nach seinen Schultern und er zog sie zu sich. Der Moment war merkwürdig. Obwohl Darrer sie einfach nur hielt, kribbelte es in Lisa. Sein Duft stieg ihr in die Nase, Patschuli und Holz. Was sollte sie sagen? Erst Darrers Stimme holte sie wieder in die Wirklichkeit zurück. »Es war nur Selbstschutz, dass ich Sie nicht hereingelassen habe, wissen Sie?«
Lisa wurde gleichzeitig warm und kalt. Hoffentlich hatte er ihren Aussetzer nicht bemerkt. Ein Feuer brannte sich seinen Weg ohne Umwege direkt in ihre Mitte. Wie ein Schaf starrte sie ihn an. Tu etwas! Sie musste den Kopf in den Nacken legen, trotzdem war er größer als sie. In seinen Augen blitzte der Schalk und er für einen Moment hielt er sie fest. Wann war eigentlich das letzte Mal gewesen, dass ein Mann sie so aus dem Konzept gebracht hatte?
»Da Sie echt nass sind, konnte ich es nicht riskieren, Sie in mein Haus zu lassen. Die Wasserflecken, das verstehen Sie doch?«
Lisa spürte ein Brennen hinter ihren Lidern. Dieser Mann spielte mit ihr! Die Wut über diese Bloßstellung drückte auf ihren Magen. Um sich zu befreien, trat sie zur Seite, nur um auf Darrers Fuß zu steigen. Schon wieder. Sie musste wie eine kindische Psychopatin auf ihn wirken. Mit der Eleganz einer nassen Katze rauschte Lisa auf ihre Haustür zu.
»Sie haben Ihre Pizza vergessen!« Der Stolz verbot ihr sowohl eine Rückkehr als auch eine Erwiderung. Lisa zog den Schlüssel aus der Jackentasche, trat ein und warf mit einem befriedigenden Knall die Tür hinter sich zu.
Paul lachte immer noch, als er mit der Pizza unter dem Arm in sein Wohnzimmer marschierte. Das Zusammentreffen mit seiner Nachbarin hatte seinen Abend gerettet. Neugierig öffnete er den Pizzakarton. Moses hatte keinen großen Schaden angerichtet, sondern nur ein wenig am Käse geleckt. Paul stellte den Ofen an und schnitt ein winziges angeknabbertes Stückchen ab. Etwas anderes wäre ja glatt Verschwendung.
Nach kurzer Zeit war sein ergaunertes Abendbrot wieder aufgewärmt und duftete himmlisch. Philosophisch betrachtet glich eine Calzone einem Überraschungspaket. Man erkannte erst, wie jemand tickte, wenn man die Essgewohnheiten seines Gegenübers erlebte. Paul schnitt ein Stück ab. Käse quoll aus dem Inneren und floss schön sämig über seinen Teller. Auch Tomaten konnte er erkennen, demnach bevorzugte Frau Nachbarin keine typische Calzone. Er probierte ein Stück und genoss den würzigen Geschmack. Gorgonzola. Basilikum. Ein paar frische Paprikastücke. Eine gute Mischung. Seine Nachbarin hatte definitiv Geschmack.