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Kapitel 3

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Jeder, der die Fähigkeit erhält, Schönes zu erkennen, wird nie alt werden.

- Franz Kafka


Der nächste Morgen brach grau und trübe an. Halbwegs motiviert verließ Paul das Haus für seine Laufrunde. An der Kreuzung, die seine Sackgasse vom Rest der Welt trennte, prangte eine große Werbetafel. <Gib jedem Tag die Chance, der Schönste deines Lebens zu werden>, stand dort in verschnörkelter Schrift. Es war eine Werbung für Müsli und dazu noch ziemlich einfallslos. Kein halb nackter Körper, keine Extravaganzen. Nur schlichte Flocken. Wie zum Teufel sollte es Müsli schaffen, einem den Tag zu versüßen, vor allem wenn es zuckerfrei war? Paul hatte selten eine so schlechte Anzeige gesehen und als Kind zweier passionierter Grafikdesigner war er mit dem Zeug aufgewachsen. Kopfschüttelnd ließ er das Plakat hinter sich und jagte mit federnden Schritten über den grauen Asphalt.

Der Himmel war bedeckt von Wolkenungetümen und die Sonne führte einen vergeblichen Kampf. Aufgrund der Temperaturen hatte er sich ausnahmsweise für lange Funktionskleidung entschieden - schwarze Hose, orangenes Langarmshirt und abgenutzte Laufschuhe. Die braunen Haare hielt er sich mit einem schmalen blauen Band aus der Stirn - für eine Mütze war es doch noch nicht kalt genug. Wenigstens sah es nicht nach Regen aus. Nur nach einem weiteren ungemütlichen Herbsttag.

Nach kurzer Zeit überquerte er die Brücke und erreichte den Mittellandkanal. Endlich sog er frische Luft in seine Lungen. Sein Weg führte vorbei an den Schrebergärten, Wohnsilos und den schicken Apartments mit dem Blick auf das Wasser. Links lag der kleine Jachthafen. Die Boote waren bereits für die kalte Jahreszeit eingewintert worden und so ragten nur die Kaianlagen aus dem Wasser heraus.

An der nächsten Brücke erhöhte er sein Tempo, passte die Atmung an und optimierte den Abstand seiner Schritte. Der Weg führte an einer Baumgruppe vorbei, die mehr einem Gerippe als tatsächlichen Pflanzen glichen. Alle hatten ihr Laub abgeworfen, und standen nun wie magere und unbekleidete Models am Wegesrand. Betrübt schüttelte er den Kopf. Der Herbst war die traurigste Jahreszeit, kein Vergleich zum Sommer. Natürlich lag das nicht unerheblich daran, dass Frauen, sobald es warm wurde, strategisch auf Kleidungsstücke verzichteten. Vor ihm joggte eine Blondine mit Pferdeschwanz den ausgetretenen Weg entlang. Er schenkte ihrem durchtrainierten Po einen anerkennenden Blick und nickte ihr beim Überholen freundlich zu. Außerdem schränkte ihn die warme Jahreszeit nicht ein. Er konnte morgens laufen gehen, ohne fürchten zu müssen, in einem Hagelschauer zu landen und sich in seiner Freizeit mit einem Buch in seine Lieblingshängematte im Garten zurückziehen. Sein größtes Problem war immer, einen passenden Zeitpunkt zum Rasenmähen zu finden. Wenn das tatsächlich alles war, was ihn im Sommer bedrückte, sagte es doch auch viel über sein Leben aus. Alles würde sich ändern, wenn er seiner Zukunft eine neue Perspektive gab. Keine spontanen Grillnachmittage mit seinen Freunden, keine Überraschungspartys und vor allem, keine freie Zeiteinteilung mehr. Es war ihm schleierhaft, warum es Menschen gab, die gerne in einem Büro arbeiteten und, gerade wenn die Tage kürzer wurden, die Sonne nur von ihrem Arbeitsplatz aus sahen. Das wollte er nicht.

Auf der Strecke vor ihm waren keine Hindernisse zu sehen. Ein kalter Wind kam auf und zupfte an seinem Zopf. Wenn er ehrlich zu sich selbst war - und das war er meistens -, lag der Höhepunkt seiner Karriere bereits hinter ihm. In den vergangenen Jahren hatte er einige internationale Erfolge erfochten. Viermaliger Europameister und vor drei Jahren hatte er sogar die Weltmeisterschaft gewonnen. Zweimal hatte er an den Olympischen Spielen teilnehmen dürfen. 2004 belegte er in Athen Platz 37. Vier Jahre darauf, bei den Spielen in Peking, den siebten Rang. Paul knirschte mit den Zähnen. Im Viertelfinale unterlag er Fabrice Jeannet mit 12:15. Das war dermaßen knapp gewesen. Ohne Frage hätte er gerne olympisches Gold errungen. Wer träumte nicht davon? London war seine letzte Chance und die Konkurrenz wartete nicht. Es wurde Zeit, sich vom Leistungssport zu verabschieden.

Die nächste Brücke tauchte auf und eine Gruppe älterer Damen bog vor ihm ab. Alle waren mit Walking-Stöcken bewaffnet und ihr Atem dampfte in der kühlen Luft. Paul umrundete die Frauen und konzentrierte sich darauf, Zusammenstöße zu vermeiden. Als er wieder durchstarten wollte, riss ihn ein anerkennender Pfiff aus seiner Konzentration. Überrascht blickte er zu dem Pulk zurück. Die meisten Damen kicherten. Obwohl sie sich bereits im Rentenalter befanden, wussten sie einen durchtrainierten Körper zu schätzen. Rückwärts laufend verbeugte er sich, bevor er sich umdrehte und beschleunigte. Die fröhliche Runde blieb hinter ihm zurück.

Was Paul mehr belastete als der Ausstieg selbst, war die Zeit danach. Ohne jeden Zweifel liebte er das Fechten - die Eleganz, die Energie und die taktischen Möglichkeiten - aber beruflich gesehen er wollte etwas anderes. Etwas Neues. Sein Verein hatte ihm ein gutes Angebot für eine Trainerstelle gemacht, aber dort sah er sich nicht. Im Gegensatz zu anderen hatte er nie die Sicherheit gesucht. Er war kein Sportsoldat und so lag seine Zukunft ganz allein in seinen Händen. Daria hatte davon gesprochen, dass sie Sport auf Lehramt studieren wollte, aber das reizte ihn auch nicht. Sein Vater hatte ihm einen Geschäftsführerposten in der Werbefirma angeboten, die seine Eltern vor vielen Jahren zusammen aufgebaut hatten. Aber von Beruf Sohn zu sein, kam genauso wenig in Frage wie ein geschenkter Posten. Was er auch tun würde, er musste es sich verdienen. Paul sprang über eine Pfütze und lief an den kahlen Sträuchern vorbei, die den nahenden Winter ankündigten. Vielleicht sollte er sich ein paar handwerkliche Fähigkeiten zulegen. Wer wusste schon, ob nicht ein verstecktes Talent in ihm schlummerte? Eine weitere Brücke kam in sein Sichtfeld. Dahinter sah er den schweren Rumpf eines voll beladenen Binnenschiffs. Paul zog sein Tempo an und nahm die Verfolgung des Kahns auf. Meter um Meter holte er auf. Die Anstrengung ließ seine Muskeln brennen und Schweiß rann ihm in die Augen. Seine Füße schienen beinahe den Kontakt zum Boden zu verlieren, als er den Weg entlang flog. Schließlich erreichte er das Heck des Kahns und kämpfte sich weiter. Er brauchte zwei weitere Brücken, bis er das Binnenschiff endlich überholen konnte. Der Skipper legte anerkennend zwei Finger an die Schiffermütze und Paul winkte zurück. Dann verlangsamte er, überquerte die nächste Brücke und lief nach Hause zurück.

Nachmittags fütterte Paul Moses, verstaute die dunkelblaue Fechttasche in seinem schwarzen BMW und machte sich auf den Weg, um Daria abzuholen. Beide gehörten offiziell dem Fechtklub Hannover 1862 an, Deutschlands ältestem Fechtverein, jedoch trainierten sie nur selten am eigentlichen Trainingsort im Schützenhausweg. Der Vereinsmeister, Dr. Anton Sebert hatte sich in den 80er-Jahren eine freistehende Villa gekauft und diese über die Jahre hinweg aufwendig restauriert. Der ehemalige Weinkeller wurde mit anderen Räumen zusammengefasst und es entstand unter dem Herrenhaus ein Fechtzimmer im alten Stil. Die Wände waren vertäfelt und in Schaukästen und Glasvitrinen präsentierte Sebert Waffen und andere Liebhaberstücke. Trotz der antiken Wirkung waren die beiden Fechtbahnen und die Melder auf höchstem technischem Niveau. Nachdem sie sich das erste Mal für eine Europameisterschaft qualifiziert hatten, waren Daria und Paul zu einer Feier in die Villa eingeladen worden und man hatte ihnen in diesem Zuge auch den Keller präsentiert. Eine klassische Einführung. Seither absolvierte er seine Trainingseinheiten hier, in der ruhigen Atmosphäre des ehrwürdigen Hauses. Paul erreichte die kleine Straße nahe des Zoos und quetschte sich in eine freie Parklücke. Daria ließ wie immer auf sich warten. Mit ihrer grünen Fechttasche über der Schulter stürmte sie schließlich aus der Eingangstür heraus und trabte auf sein Auto zu. »Zu spät«, seufzte er.

»Fünf Minuten gelten noch nicht als Verspätung.«

Paul schnaubte und fuhr los, nachdem sie auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte. Ohne auf seinen Vorwurf zu reagieren, klappte Daria die Sonnenblende runter, um sich im Spiegel zu mustern. Als er abbog, fasste sie ihre rotblonden Haare zu einem festen Pferdeschwanz zusammen. Es war ihm völlig unklar, warum Frauen diesen Minispiegel nie für irgendetwas Sinnvolles nutzten. Als er am Zoo vorbeifuhr, beschrieb ihm Daria ihren letzten Verabredungs-Fehlgriff in schillernden Farben. Offenbar hatte ihr der Kerl stundenlang vorgeschwärmt, dass er seit Jahren Gitarre spielen würde und sie angefleht, ihr etwas vorspielen zu dürfen nur um in der Wohnung Guitar Hero anzuwerfen.

Daria fand das zwar durchaus witzig, aber nicht wirklich romantisch und so endete das Date kurz darauf eher unbefriedigend. Im Geheimen befand Paul, dass sein vorheriger Abend um ein Vielfaches amüsanter verlaufen war. Nach einer viertelstündigen Fahrt erreichten sie das schöne Herrenhaus. Seite an Seite schulterten sie ihre großen Taschen und liefen durch den gepflegten Park. Anton Sebert hatte als Spezialist für plastische Medizin ein gutes Einkommen und scheute sich nicht, diesen Wohlstand auch zu zeigen. Sie passierten ein paar immergrüne Büsche, die stolz ihre Blätter der kühlen Luft aussetzten. Obwohl es noch verhältnismäßig früh war, schien sich die Sonne bereits auf das Untergehen vorzubereiten. Paul und Daria betraten den Keller durch den alten Dienstboteneingang.

Nachdem sie in den vertäfelten Umkleidekabinen ihre Fechtanzüge angelegt hatten, reihten sie sich zum Aufwärmen neben den anderen Fechtern ein. Kritisch glitt sein Blick von den geschniegelten Uniformen zu seiner eigenen, die, wenn er ganz genau hinsah, etwas verblichen aussah. Sie schützte seinen Körper und war bequem, aber die Farbe konnte man besten Gewissens nicht mehr als weiß bezeichnen. Eher dunkelweiß. Grauweiß. Aber passte das nicht? Bald würde das bestimmt wunderbar zu seinen zukünftigen grauen Haaren passen. Missmutig strich er durch seine dunkle Mähne und schüttelte den Kopf, um die sarkastische Stimme in seinem Kopf zum Schweigen zu bringen. Eventuell sollte er sich wenigstens einen neuen Fechthandschuh zulegen, die Polster auf seinem Handrücken wirkten tatsächlich sehr fadenscheinig.

Insgesamt trainierten heute neben Paul und Daria noch vier andere Aktive. Zwar waren alle erwachsen, aber Paul war der Einzige über dreißig. Bald würde er zu den Senioren gehören. Veteranen, wie es offiziell hieß. Das klang auch viel besser. Erfahren.

Paul schnaubte und erntete dafür einen fragenden Blick von Daria. Beruhigend schüttelte er den Kopf und leerte seine Gedanken. Er konzentrierte sich alleine auf seine Haltung, die Schritte und den Ausfall. Das Training leitete Meister Mika. Dieser Meister legte besonders viel Wert auf technisch einwandfreie Bewegungsabläufe und sie gerieten schnell ins Schwitzen.

»Ein Gefecht ist wie eine Unterhaltung. Sie müssen zuhören und ihren Gegner lesen«, referierte Meister Mika, während er ihnen bedeutete, sich einen Gegner zu suchen. Ohne sich abzusprechen positionierten sich Paul und Daria.

Paul lehnte ihre Waffen gegen die Wand.

»Zunächst werden wir Trockenübungen durchführen. Sie müssen sich mehr auf das Wesentliche konzentrieren.« Meister Mika ging an ihnen vorbei.

Paul nahm gegenüber von Daria Aufstellung. Mit ausgestrecktem Arm hielt er seine Handkante an ihre. Sie machte ein paar Schritte zurück und er folgte ihr. Eine minimale Erschütterung ihres Arm - sie war bereit zum Angriff. Paul machte einen Satz zurück und entging ihrem Angriff. Sein Konter war schnell. Paul berührte ihre Schulter, bevor sie zurückspringen konnte.

»Nicht schlecht, Paul«, knurrte Daria. Beide nahmen wieder Haltung an. Das nächste Mal löste sie die Bindung zuerst, um ihn mit einem Sprung zurück in den Angriff zu locken. Dort empfing sie ihn und traf ihn am Handrücken. Meister Mika tauchte wie ein Geist neben ihnen auf und nickte zufrieden.

Paul konnte die nächsten drei Treffer landen, zwei weitere fielen Daria zu. Es wurde eng. Sie kannten sich seit Jahren und fochten schon ewig miteinander. Er konnte in ihr lesen wie in einem Buch. Der nächste Treffer bestätigte, dass es ihr ebenso erging. Schließlich gelang es ihm, den Übungskampf mit einem Ergebnis von 10:7 für sich zu entscheiden.

Nach der Trockenübung griff Paul nach seiner Lieblingswaffe und stöpselte das Kabel hinter der Degenglocke ein. Fast zärtlich glitten seine Finger über die Kratzer, welche den Glanz des Metalls durchbrachen. Das andere Ende des Verbindungskabels, das er unter seiner Fechtkleidung trug, fand ebenfalls seinen Weg und er war mit dem Einzug der Kabeltrommel verbunden. Paul liebte das elektronische Fechten. Die Melder, die jeden Treffer anzeigten und alles auf ein einfaches Geräusch reduzierten. Wenn es in den anderen Sportarten ebenfalls so sauber zuginge, würde es viel weniger Diskussionen geben.

Die Waffenprobe verlief fehlerfrei und sie kämpften jeder gegen jeden. Am Ende, als sich Pauls Muskeln bereits beschwerten, bat ihn Meister Mika zu einer Einzellektion.

»Parade! Riposte! Finte!« Die Kommandos des Altmeisters schossen auf ihn zu und forderten ihn immer wieder zur Verteidigung und zum Gegenangriff auf. Paul handelte schneller, als er denken konnte, diese Bewegungen waren ihm nach all den Jahren in Fleisch und Blut übergegangen. »Battuta!« Paul drehte mit knapper Bewegung sein Handgelenk und schlug gegen das vordere Drittel von Mikas Klinge. Dann setzte er zum Ausfall an und überbrückte die Distanz zu Mikas gepolstertem Oberkörper. »Gut, Paul! Weiter!«

Für einen Moment hielt Mika Pauls Degen in der Bindung fest, dann klopfte er lobend mit seiner Klinge gegen das Metall. Ohne ihm eine Ruhepause zu gewähren, feuerte er weitere Befehle. »Coupé! Coupé!« Pauls Waffe tanzte in engen Kreisen um die Spitze des Gegners und schnalzte, als sie sich durch den Luftwiderstand verbog und in Mikas Handschuh bohrte. Grunzend korrigierte Mika Pauls Haltung um einen Millimeter, dann jagte er seinen Schützling weiter durch die Lektion.

Mit Herz und Degen

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