Читать книгу Deutschland und die Migration - Maria Alexopoulou - Страница 5
Verflochtene Geschichten
ОглавлениеAls der deutsche Fußballspieler Mesut Özil im Sommer 2018 bei seinem Rückzug aus der Nationalmannschaft dem Deutschen Fußballbund Rassismus vorwarf, stieß er in der Öffentlichkeit mehrheitlich auf Ablehnung oder zumindest Skepsis. Denn sein eigenes Verhalten in der »Causa Özil« war alles andere als vorbildlich gewesen. Seine offensichtlichen Sympathien für den türkischen Staatspräsidenten wurden als Illoyalität gegenüber der Bundesrepublik empfunden. Das machte sein Handeln aus der Sicht vieler zumindest moralisch fragwürdig, und er schien damit auch sein Recht verwirkt zu haben, Rassismusvorwürfe vorzubringen, die landläufig ohnehin als moralisierend oder als Polemik verstanden werden.
Es bleibt aber dennoch die Frage des Rassismus und der Rolle, die er in der Einwanderungsgesellschaft Deutschland spielt. Denn Özils weithin kritisierte öffentliche Abrechnung mit dem DFB löste die #metwo-Debatte auf Twitter aus, die nicht ohne weiteres mit einer Variante des Moralismusvorwurfs abgetan werden konnte. Unter diesem Hashtag erzählten vor allem junge Menschen von ihren Diskriminierungserfahrungen, die auf ihre nichtdeutsche Herkunft zurückgehen. Damit legten sie – ähnlich wie die Frauen, die unter dem Originalhashtag #metoo sexuelle Belästigung thematisiert hatten – offen, wie alltäglich und banal Rassismus – ebenso wie Sexismus – eigentlich ist und wie sehr er diejenigen, die ihn erfahren, im Innersten treffen oder ihre Lebenschancen beeinflussen kann.
Die durch unzählige Erfahrungsberichte, aber auch durch Studien belegten Diskriminierungen und Ungleichbehandlungen von Migrant*innen in Deutschland machen gerade das aus, was der Psychologe und kritische Migrationsforscher Mark Terkessidis bereits 2004 in Anlehnung an Hannah Arendts berühmtes Buch sehr klug die »Banalität des Rassismus« genannt hat. Damit meint er die strukturellen, institutionellen und sprachlichen Diskriminierungen sowie Alltagserfahrungen, die Migrant*innen in Deutschland als Teil einer vermeintlichen Normalität erleben.
Dieser »banale« Rassismus äußert sich nicht als Gewalt oder Hassrede, sondern in einem höheren Armutsrisiko, schlechteren Zugängen zu Bildung, zum Arbeitsmarkt und zum Wohnungsmarkt, racial profiling, sich ständig wiederholenden Überfremdungs- und Integrations(unfähigkeits)debatten und alltäglichen Mikroaggressionen – also abwertendem Verhalten wie Augenrollen, Nicht-Einbeziehen usw. – gegenüber Minderheiten bzw. Migrant*innen. Aber er manifestiert sich auch in der Tatsache, dass viele Migrant*innen in der zweiten und dritten Generation sich immer noch nicht als gleichwertige Bürger*innen und damit als Deutsche fühlen – oder es faktisch auch nicht sind. Doch diese Zustände werden von der Mehrheitsgesellschaft meist ignoriert, und der Rassismusvorwurf, den Migrant*innen übrigens nicht erst seit einigen Jahren, sondern seit jeher artikulieren, wird als übertrieben und moralisierend abgetan. Doch woran liegt es, dass Rassismus reflexhaft mit Moralismus in Verbindung gebracht wird?
Eine Erklärung besteht darin, dass in Deutschland das Thema Rassismus stets im Kontext des Nationalsozialismus bzw. des Holocausts steht. Das Aufzeigen von Rassismus hat dabei lange Zeit immer und immer wieder die Frage nach der Schuld und somit nach der individuellen Verantwortung für den Holocaust aufgerufen. Dabei geriet das Thema in seiner historischen wie auch in seiner jeweils aktuellen Dimension in eine Schieflage: Denn erstens ist Rassismus weit mehr als eine Frage der Moral oder von individuellen oder kollektiven Gefühlen und Haltungen. Es handelt sich um ein äußerst komplexes, vielschichtiges und vielgesichtiges Phänomen, das nicht nur in die Moderne eingeflochten, sondern gar deren dunkle Seite ist, wie der Philosoph Achille Mbembe das nennt.
Zweitens ist Rassismus nicht mit den extremsten Formen, die er angenommen hat, gleichzusetzen. Die moralische Entrüstung, die diese vermeintliche Gleichsetzung erzeugt und in deren Licht alle anderen Formen der Herabsetzung von Gruppen aufgrund ihrer Herkunft als unbedeutend abgetan werden, machte Rassismus in seinen übrigen Facetten und als Phänomen insgesamt in Deutschland nach 1945 unsagbar und damit unsichtbar, was letztlich mit zu seinem Erhalt beigetragen hat. Die Empörung über die Verwendung des Begriffs Rassismus wurde und wird dabei teils bewusst eingesetzt. Der britische Soziologe Keith Kann-Harris hat in Bezug auf Antisemitismus-Vorwürfe angemerkt, dass es auf ironische Art und Weise ein später Sieg Hitlers sei, wenn selbst offensichtliche Antisemiten den Vergleich zum Holocaust benutzen, um ihre eigenen antisemitischen Haltungen zu relativieren.1
Es gilt also, Rassismus historisch in all seinen Formen und in einem viel breiteren zeitlichen Horizont zu erfassen. Nur so kann man ihn als vergangenes und gegenwärtiges Phänomen begreifen, das auch zwischen 1945 und heute eine Geschichte hat und zudem die Geschichte der jeweiligen Gesellschaften, in denen es sich entfaltete, nachhaltig prägte. Deutschland hat in den zwölf Jahren, in denen das nationalsozialistische Regime herrschte, welthistorisch die radikalste Form des Rassismus hervorgebracht. Doch diese Extremform rassistischer Ideologie und Praxis entstand weder aus dem Nichts noch verschwand sie wieder dorthin. Sie hatte eine Vor- und eine Nachgeschichte, oder korrekter: Die Geschichte des Rassismus in Deutschland ist nicht deckungsgleich mit der Geschichte des Nationalsozialismus.
Sie fällt sicher ebenso wenig mit der Geschichte von Migration und Einwanderung zusammen, sie sind aber eng miteinander verflochten. Schon seit der Gründung des Kaiserreichs 1871 entwickelte sich ein rechtlicher, ökonomischer, politischer und gesellschaftlicher Umgang mit Ausländern,2 der diese nach dem Wert ihrer Herkunft hierarchisierte und dementsprechend zu den Deutschen in Beziehung setzte. Auch die Frage, wer Deutscher war oder sein durfte, wurde immer wieder auch im Kontext von Migration gestellt und ausgehandelt. Dabei entwickelte sich eine Binarität zwischen ›dem Deutschen und dem Ausländer‹, die anhand eines Konglomerats aus Blut und Kultur – beides zusammen wurde unter dem Stichwort Abstammung oder Herkunft zusammengefasst – voneinander unterschieden wurden. Jenes Kriterium bestimmte, ob ein*e Migrant*in als »wertvoller Bevölkerungszuwachs« angesehen wurde und sich einbürgern lassen durfte – oder ob er/sie zu jenen Gruppen gehörte, die höchstens ein begrenztes Aufenthaltsrecht auf deutschem Territorium erhalten sollten. Die Binarität ›Deutscher und Ausländer‹ wurde ergänzt durch eine Hierarchisierung der einzelnen nichtdeutschen Herkunftsgruppen untereinander, die über deren Rechte und Privilegien und damit auch über deren Wahrnehmung innerhalb der Gesellschaft entschied.
All diese Prozesse sind ein wichtiger Bestandteil der Geschichte des Rassismus in Deutschland, aber historiographisch wenig aufgearbeitet und allgemein innerhalb der deutschen Erinnerungskultur kaum bekannt. Dies wirft ein schlechtes Licht auf die Rolle Deutschlands, das sich angesichts der eigenen, inzwischen international als vorbildlich geltenden Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus gern als »Weltmeister der Vergangenheitsbewältigung« sieht bzw. auch oft so gesehen wird. Denn weder das Fortleben des Antisemitismus noch der Rassismus gegen Ausländer oder auch gegen Sinti und Roma sowie Schwarze Deutsche, die vor 1945 Normalität waren und die die ›Stunde Null‹ überlebt haben, können angesichts der aktuellen politischen Entwicklungen einfach als Randphänomene weggewischt werden, mit denen man sich nicht eingehender beschäftigen muss. Es ist höchste Zeit, nachzuzeichnen, durch welche Mittel, auf welche Weise und mit welchen Konsequenzen Rassismus seit 1945 weiterwirkte.
Die Position, die ich in diesem Buch mit Daten und Fakten begründe, lautet, dass die Ausgestaltung der Einwanderungsgesellschaft Deutschland stark von rassistischem Wissen über Ausländer geprägt wurde, das schon weit vor 1933 entstanden war und über unterschiedliche Wege bis heute weitergegeben und neu produziert wurde. Rassistisches Wissen, das sei betont, ist falsches Wissen und damit nicht mit Erkenntnis oder gar Wahrheit gleichzusetzen. Es existiert in Diskursen, etwa als das ewige Gerücht über den kriminellen Ausländer. Es existiert in Institutionen, beispielsweise über lange Zeit im deutschen Staatsangehörigkeitsrecht, das deutsches Blut als Kriterium der Zugehörigkeit festgelegt hatte. Es existiert in Strukturen, etwa in der politischen Partizipation, von der Einwanderer*innen sehr lange bewusst ausgeschlossen wurden.
Rassistisches Wissen ist also nicht allein Bestandteil von individuellen Haltungen, von Vorurteilen oder Ressentiments, sondern findet sich über das oben Erwähnte hinaus auch in eingespielten bürokratischen Praktiken, in unhinterfragtem Alltagswissen, in Begriffen und in Topoi. Dieses Wissen wird aktiv oder unbewusst genutzt, und es kann bewusst oder auch strategisch, aus Unwissenheit und Geschichtsvergessenheit oder einfach aus Desinteresse ignoriert werden. Rassistisches Wissen verdeckt oder legitimiert dabei letztlich die Macht der Privilegierten in diesem Verhältnis. Es ist zudem als Wissen über Rassismus vorhanden, nämlich als Wissen derer, die von Rassismus betroffen sind.