Читать книгу Deutschland und die Migration - Maria Alexopoulou - Страница 6
Gegengeschichten
ОглавлениеIch habe es nie bereut, nach Deutschland gekommen zu sein. Das Einzige, was mich stört, ist diese Betonung auf »Ausländer«, »Gastarbeiter« oder »Mitbürger«. Wenn man »Gastarbeiter« genannt wird, dann wird man nur als Arbeiter betrachtet. Das nenne ich weiße Sklaverei! Deshalb sagen wir: Weg damit! Egal was du von Beruf bist, selbst Rektoren macht es fertig, wenn man sie »Mitbürger« nennt.1
Diese Sätze stammen aus einem lebensgeschichtlichen Interview von 2005 mit einer verrenteten griechischen ›Gastarbeiterin‹. Ageliki Gountenidou kam im Jahr 1958 nach Mannheim, um ihren Bruder zu besuchen. Er war bereits in den 1940er Jahren als sogenannter »fremdvölkischer Zivilarbeiter« aus Athen nach Deutschland gekommen, hatte in den Nachkriegswirren eine deutsche Frau geheiratet und war bei ihr geblieben. Ageliki hatte gar nicht vorgehabt, nach Deutschland auszuwandern, wenn überhaupt träumte sie von Amerika. Doch sie blieb in Mannheim, arbeitete und lebte dort, gründete eine Familie, bekam Kinder, kaufte ein Haus, ging in Rente, verstarb und liegt nun neben ihrem griechischen Mann auf dem Mannheimer Hauptfriedhof begraben. Sie liebte »Lewerknödel« und Sauerkraut, fuhr gern mit ihrer Familie mit dem Mercedes Benz in den Urlaub nach Griechenland und hatte viel Spaß mit ihren internationalen Kolleg*innen in den Fabriken, in denen sie allerdings durch die körperlich schwere Arbeit ihre Gesundheit ruinierte. Sie und ihr Mann ermöglichten ihren zwei Kindern ein Studium, die beide erfolgreiche Karrieren absolvierten. Ageliki verstand sich als echte Mannheimerin, aber nicht als Deutsche.
In dem Interview, das ich im Zuge eines Film- und Ausstellungsprojektes anlässlich des 50. Jubiläums des sogenannten ersten Anwerbeabkommens zwischen Deutschland und Italien mit ihr führte, beklagte sie dennoch klar und deutlich, dass ihr nie aktiv angeboten worden war, die deutsche Staatsangehörigkeit anzunehmen. Deshalb habe sie nie alle Rechte genossen, die ihr als Staatsbürgerin zugestanden hätten, darunter das grundlegende demokratische Recht, mitbestimmen und wählen zu dürfen. Und genau wie viele andere aus ihrer Generation störte sie sich an den Begriffen, mit denen sie zeitlebens benannt wurde: ›Gastarbeiter‹, Ausländer.
Dieser kurze Einblick in ein migrantisches Leben reißt viele Erfahrungen und Perspektiven an, die der Mehrheitsbevölkerung in der Einwanderungsgesellschaft Deutschland bisher wenig bekannt oder bewusst sind: Etwa, wie offen Migrationsprozesse sind und wie wenig sich deren Verläufe bestimmen lassen. Dass Migrant*innen sich eigensinnig beheimateten, auch wenn von ihnen erwartet wurde, dass sie als »Gäste« wieder gehen sollten, und ihnen das durchaus sehr bewusst war. Dass ihnen ebenso bewusst war, dass sie vieler Rechte entbehrten. Und – das ist wohl weniger bekannt – dass ein sehr großer Anteil von ihnen Rassismuserfahrungen gemacht hat. Auch Ageliki Gountenidou erzählte von einem Erlebnis in der Fabrik von ZEWA Mannheim, das sie noch vierzig Jahre später bewegte:
Einmal hat unser Schlosser bei Zellstoff, als ich ihn bat, etwas an meiner Maschine auszubessern, gesagt: »Hau ab, du dreckiger Ausländer!« Das hat wehgetan. Die Augen haben nicht geweint, aber das Herz.2
Freilich werden diese Erlebnisse von den Betroffenen nur selten als Rassismuserfahrungen bezeichnet. Diese Geschichten gehören vielmehr auch für sie selbst zum typischen Leben eines ›Gastarbeiters‹. Rassismuserfahrungen sind ohnehin in ihrer Mehrzahl unspektakulär, werden durch ihre Häufigkeit normalisiert und in ihrer Normalität unsichtbar, was es noch schwieriger macht, sie zu erfassen. Oft können Betroffene nicht mit Sicherheit sagen, ob sie wegen ihrer Herkunft, ihrer Zugehörigkeit zur Gruppe der Ausländer, ungleich, abwertend oder aggressiv behandelt wurden. Auch das habe ich in zahlreichen biographischen Interviews mit Migrant*innen erlebt, die offenbar mitten im Erzählen anfingen, darüber nachzudenken, inwiefern ihre Lebenschancen von Diskriminierungen beeinträchtigt worden waren, die sie wegen ihrer Herkunft oder ihrer Zugehörigkeit zur Gruppe der Ausländer erlebt hatten.
Diese Gegengeschichten zum dominanten Erfolgsnarrativ der Bundesrepublik als einer pluralistischen, rassismusfreien Demokratie sind essentiell, um die Geschichtsschreibung und das historische Bewusstsein der Einwanderungsgesellschaft Deutschland zurechtzurücken. Die Gegengeschichten und Gegenperspektiven der Eingewanderten, die nicht nur in Form von mündlichen Erzählungen vorliegen, sondern auch bei der neuerlichen Analyse und Interpretation von Dokumenten, Texten, Praktiken und Ereignissen zutage treten, müssen also nicht nur gehört und am Rande erzählt werden. Nein, sie müssen in die große Meistererzählung einfließen, in eine veränderte Version der neueren deutschen Geschichte.
Da Migrant*innen als Akteur*innen vor allem lokal greifbar werden, so wie ihre Einwanderungsprozesse insgesamt lokal verortet sind, werde ich in diesem Buch die Geschichte der deutschen Einwanderungsgesellschaft vom Lokalen ausgehend erzählen. Die Industriestadt Mannheim, die, so der retrospektive Blick, seit ihrer Gründung eine Migrationsstadt war, dient mir dabei als Bezugspunkt, auf den ich immer wieder episodisch und themenspezifisch zurückkomme. Daraus ergibt sich auch der klare Schwerpunkt auf die Geschichte der (alten) Bundesrepublik Deutschland.
Der Blick auf die vorrepublikanische Zeit ermöglicht es zunächst, die Parameter der Geschichte der Einwanderungsgesellschaft sichtbar zu machen, die seit der Kaiserzeit bis direkt vor der ›Stunde Null‹ gesetzt wurden und die über diese scheinbare Epochengrenze hinweg weiterwirkten. Es folgt ein Kapitel zur ersten, meist vergessenen Ausländergruppe der BRD, den »heimatlosen Ausländern«, und deren Aufnahme. Anschließend wird es um die arbeitenden »Gäste« und darum gehen, wer sie waren, warum sie kamen und weshalb sie nicht bleiben sollten. Nach einem Kapitel zur Genese des »ausländischen Mitbürgers« und des »Scheinasylanten« befasse ich mich mit der lang anhaltenden Konjunktur des Rassismus, die von 1980 bis zur Mitte der 1990er Jahre anhielt und die ihren Höhepunkt im vereinigten Deutschland erreichte. Zuvor wird ein kurzer Blick auf die andere Seite der Mauer geworfen.
Angesichts der 30-jährigen Archivsperre und des daraus folgenden weitgehenden Fehlens von regierungsamtlichen Quellen ist die Abhandlung der Jahre nach 1990 nur eingeschränkt möglich. Ab diesem Zeitpunkt muss meine historiographische Analyse auf andere Quellen zurückgreifen, weshalb ich die jüngste Vergangenheit lediglich in einem eher auf Hypothesen basierenden Ausblick behandle. Das Buch schließt mit einigen Kontrapunkten migrantischer Akteur*innen zu den damals und teilweise heute noch aktuellen Debatten.