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Vor der ›Stunde Null‹ – Migrationen, Herkunftshierarchien und die Geburt der »Volksgemeinschaft«

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Kurz vor dem Ersten Weltkrieg war das Deutsche Kaiserreich weltweit das zweitgrößte Zuwanderungsland nach den USA. Allerdings betrachtete man die Migrant*innen in der Regel nicht als Einwanderer*innen, die sich dauerhaft niederlassen und schließlich neue Deutsche werden konnten. Vielmehr war in den Jahrzehnten zuvor, von der Initiative Preußens ausgehend, ein Migrationsregime aufgebaut worden, das massenhafte Arbeitsmigration mit einem Anti-Einwanderungssystem zu verbinden suchte. Dadurch konnten zwei entgegengesetzte Tendenzen koexistieren: Der hungrige Arbeitsmarkt versorgte sich mit allzeit verfügbaren, günstigen und weitgehend rechtlosen ausländischen Arbeitskräften, und gleichzeitig war eine zunehmend an völkischen und rassentheoretischen Ideen orientierte »deutsche Bevölkerungspolitik« möglich. Beide Strategien zielten primär auf die östlichen Nachbarn, die als Arbeitskräfte gefragt, aber nicht als »wertvoller Bevölkerungszuwachs« geschätzt waren.

Die »Arbeitseinfuhr« von jenseits der östlichen Grenzen Deutschlands changierte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zwischen saisonaler Wanderarbeit mit Rückkehrzwang und erzwungenem Arbeitseinsatz bei Rückkehrverbot: Im Ersten wie im Zweiten Weltkrieg stellten Arbeiter*innen aus dem Osten Europas die Mehrheit der Zwangsarbeiter*innen. Zwangsarbeit und Konzentrationslager waren allerdings schon zuvor in den überseeischen Kolonien Deutschlands erprobt worden. Sie wurden dort zur Bestrafung und Disziplinierung eingesetzt, etwa im Fall der widerständigen Nama in Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia. Allerdings war die Arbeit der »Eingeborenen«, die weder als Teil der deutschen Bevölkerung angesehen noch rechtlich auch nur annähernd als solche behandelt wurden, in den deutschen »Schutzgebieten« auch aus wirtschaftlichen Gründen gefragt und wurde dort ebenfalls oft erzwungen.

Die extreme NS-Rassenideologie und die Radikalität ihrer Umsetzung, besonders auch im Umgang mit Zwangsarbeiter*innen aus dem Osten Europas während des Zweiten Weltkrieges, haben Geschichtswissenschaftler*innen lange dazu bewogen, die deutsche Migrationsgeschichte vor 1933, jene in den zwölf Jahren zwischen 1933 und 1945 und jene der Zeit danach als mehr oder weniger eigenständige historische Etappen zu betrachten. Das galt umso mehr, nachdem die sogenannte Sonderwegthese vom Tisch war: Deren Anhänger*innen hatten postuliert, dass die Entwicklungen in Deutschland seit dem Kaiserreich – etwa der deutsche Militarismus oder die völkische Bewegung – zwangsläufig zum »Dritten Reich« geführt hätten. Zwar ist ein derart deterministisches Denken, das historische Ereignisse quasi als Schicksal begreift und damit die Akteur*innen bzw. die gesamte Gesellschaft aus der Verantwortung entlässt, schwerlich plausibel. Ebenso wenig ist die Behauptung haltbar, es habe keine anderen Handlungsoptionen gegeben. Dennoch muss die Zeit vor 1933 auch als Vorgeschichte des Nationalsozialismus betrachtet werden.

Als gleichermaßen irreführend erwies sich die Auffassung, das Jahr 1945 trenne die NS-Zeit wie eine Barriere sauber von der Zeit danach. Die Historiographie hat die Vorstellung einer ›Stunde Null‹, nach der in Deutschland vermeintlich alles neu begann, inzwischen hinter sich gelassen. Somit ist ein frischer Blick auf den Umgang mit Migration bzw. mit Herkunftsdifferenz in Deutschland über einen langen Zeitraum hinweg geboten. Dabei geht es nicht darum, Vergleiche zwischen den Epochen anzustellen, sondern in der Zusammenschau neben den Brüchen auch die Kontinuitäten zu erkennen und deren Auswirkungen nachzuspüren – freilich können im Zusammenhang dieses Buches nur einzelne Aspekte beleuchtet werden.

Als wirkmächtige Kontinuität festigte sich etwa der Gegensatz ›Deutscher und Ausländer‹. Migrant*innen wurden zu den ›Anderen‹ der Deutschen, was nicht nur dem Begriff Ausländer ein ganz spezifisches Gepräge gab, sondern auch das Leben und die Chancen dieser ›Migrationsanderen‹ als gedachte Gruppe, aber auch als einzelne Individuen, in der gesamten Zeitspanne sehr stark mitbestimmen konnte. Darüber hinaus wurden Migrant*innen über den gesamten Zeitraum hinweg stets nach ihrer Herkunft hierarchisiert. Noch heute bestimmt der Wert, der der jeweiligen Herkunft zugeordnet wird, den Ort oder auch Nicht-Ort dieser Gruppe in der deutschen Gesellschaft. Dabei blieben einige Herkünfte konstant am unteren Ende der Hierarchie, andere haben im Laufe der Jahre im Rahmen von anderen, parallel verlaufenden ›Identitätsgeschichten‹ die Stufe in dieser Hierarchie gewechselt – etwa mit dem Aufkommen einer ›europäischen Identität‹.

Auf welche Weise Herkunft in der Zeit zwischen 1890 und 1945 hierarchisiert wurde, möchte ich am Beispiel der polnischen Arbeiter*innen konkretisieren: Zwar unterschied sich deren Lebensrealität in den drei aufeinanderfolgenden Regimen in Deutschland, nämlich dem Kaiserreich, der Weimarer Republik und dem »Dritten Reich«, wesentlich. Dennoch war sie in ähnliche Gesellschaftsstrukturen und Wissensbestände eingebettet.

Im Kaiserreich hatten die sogenannten »Auslandspolen« weniger Rechte als andere Migrant*innen, was auch in sichtbare Markierungen übersetzt wurde: Ab 1909 erhielten alle ausländischen Arbeitsmigrant*innen Legitimationskarten, die ihnen je nach Herkunft bestimmte Rechte zuteilten, was durch die unterschiedlichen Farben der Karten veranschaulicht wurde. Die rote Karte der »Auslandspolen« bedeutete etwa, dass sie der Karenzzeit unterlagen. Sie mussten also jeden Winter Deutschland verlassen und wurden bei Zuwiderhandeln abgeschoben. Für alle anderen Herkunftsgruppen galt der saisonale Rückkehrzwang nicht. Die jeweils unterschiedlichen Rechte und Gebote, die für eine Gruppe galten, waren für die kontrollierenden Polizeibehörden an der Kartenfarbe sofort ablesbar.

Auch die Rechte und Privilegien der sogenannten »fremdvölkischen Zivilarbeiter« im »Dritten Reich« waren durchgängig nach Herkunft gegliedert: So erhielten die sogenannten »Westarbeiter« aus Frankreich und Holland weitaus großzügigere Essensrationen von besserer Qualität als die polnischen Zwangsarbeiter*innen, die wiederum noch über den »Ostarbeitern« aus der Sowjetunion standen. Die unterste Stufe der Hierarchie war den zumeist jüdischen Sklavenarbeiter*innen zugedacht, die durch Arbeit ohnehin den Tod finden sollten. Die sichtbaren Zeichen ihrer Kategorisierung waren ein an der Kleidung befestigtes, gut sichtbares P bzw. O oder der gelbe Davidstern.

Diese Zeichen dienten dazu, in diesen nach Herkunft segregierten Gesellschaften die unterschiedlichen Gruppen, die mit den Deutschen auf engstem Raum zusammenarbeiteten, erkennbar zu machen. Je extremer das Regime in dieser Hinsicht war, desto wichtiger war die Sichtbarmachung. Schließlich ließ sich die Herkunft der ausländischen Arbeiter*innen oder weiterer Minderheiten in Deutschland nicht an äußeren Merkmalen festmachen. Die Betroffenen trugen das Zeichen ihrer Differenz nicht direkt auf der Haut, im Gegensatz zu den Schwarzen Amerikaner*innen, den mexikanischen oder chinesischen Arbeitsmigrant*innen in den USA, die anhand phänotypischer Merkmale kategorisiert und hierarchisiert wurden. Derartige Assoziationen stellten schon Zeitgenossen wie der Agrarökonom August von Waltershausen her. Er schrieb 1903 in Bezug auf die gesamte ausländische »Arbeiterschicht zweiten Grades« in Deutschland, dass sie die gleichen Funktionen erfülle wie »der Neger in den nordamerikanischen Oststaaten, der Chinese in Kalifornien, der ostindische Kuli in Britisch-Westindien, der Japaner in Hawaii, der Polynesier in Australien«.1

Trotz der beschriebenen Hindernisse migrierten Menschen, wie sie es schon immer getan hatten, über Staatsgrenzen hinweg und wurden sesshaft. Oft widersetzten sie sich dabei den Kontrollansprüchen des Staates und wurden mit Widerwillen und Diskriminierungen innerhalb der Gesellschaft konfrontiert, in die sie einwanderten oder durch Grenzverschiebungen oder koloniale Eroberungen hineinkatapultiert wurden.

Deutschland und die Migration

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