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8. Sizilien und Gianna

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Und die Welt vergeht mit ihrer Lust;

wer aber den Willen Gottes tut,

der bleibt in Ewigkeit.

Brief des Johannes 2,17

Der alte Kahn war besser in Schuss, als es sein Aussehen vermuten ließ. Trotzdem wagte sich der Kapitän nicht aufs offene Meer hinaus und fuhr immer in Küstennähe. Die beiden alten Lenzpumpen an Bord gaben von Zeit zu Zeit ihren Geist auf und Wasser sammelte sich ab und zu knöcheltief im Rumpf. Dann entstand eine Zwangspause, bis die Pumpen wieder flott waren.

An Neapel vorbei ging es zum Golfo di Capitello, nach Süden zwischen der Insel Stromboli und dem Golfo di Gioia hindurch, an der Insel Vulcano vorbei, nach Westen in den Golf von Palermo. Eigentlich hatte er hier vor Anker gehen sollen, jedoch war ihm Palermo viel zu hektisch und der Hafen viel zu groß. Von hier aus fuhren stündlich Fähren nach Livorno, Tunis, Ustica, Neapel, Salerno oder Cefalù. Es gab zwar noch einen kleineren Hafen, aber auch der fand nicht des Kapitäns Wohlwollen. Es waren für seine Gefühle überall in Palermo zu viele Polizisten vertreten. Die Gefahr einer Routinekontrolle im Hafen war ständig präsent. Für seine Geschäfte war dies äußerst ungünstig. Er sehnte sich die Zeiten der Cosa Nostra, wie die Mafia in Sizilien eigentlich heißt, zurück. So sagte er seinem Auftraggeber, dass er im kleinen Hafen von Marsala festmachen würde. Die Einfahrt zum Hafen war zwar sehr eng, trotzdem sorgten große Wellen bei Flut in der Vergangenheit für Schäden, insbesondere an kleineren Booten. So hatte sich vor vielen Jahren die Inselregierung mit Wohlwollen der damals noch stark vertretenen Cosa Nostra entschlossen, eine über hundert Meter lange Betonwand als Wellenbrecher ins Meer zu stellen. Seitdem liegt das Wasser im Hafen fast so ruhig wie in einem Bergsee.

Der Kapitän umfuhr diesen Wellenbrecher und steuerte gleich am Eingang die erste Möglichkeit festzumachen an.

»Schau noch mal nach unserem Gast«, sagte er zum Doc, als er von Bord ging, um auf der Kommandantur an der gegenüberliegenden Seite des Hafens die Anlegegebühr zu bezahlen. Zuvor hatte er einen Anruf getätigt, in dem er seinem Gesprächspartner die Ankunft in Marsala mitteilte.

Sizilien ist mit 25500 Quadratkilometern die größte Insel im Mittelmeer. Die Küstenlänge beträgt über 1000 Kilometer. Sizilien ist der verbleibende Rest einer Landbrücke, die einst Afrika mit Europa verband. Der größte Berg, der Ätna, ist auch gleichzeitig der größte und aktivste Vulkan Europas. Der aus der Sahara wehende »Scirocco« bringt in den Süden Siziliens im Sommer bis zu 40 °C mit. Im Landesinneren jedoch ist es angenehmer, bei sommerlichen 20 bis 30 °C und bei Wintertemperaturen um die 5°C. Mit fast 5 Millionen Einwohnern leben auf Sizilien durchschnittlich mehr Menschen als auf dem Festland. Mehr als ein Drittel von ihnen leben in den Städten Palermo, Catania, Messina, Syrakus und Trapani.

Der Kapitän kannte sich auf Sizilien bestens aus. Er war in Santa Verena, einem kleinen unbedeutenden Örtchen nahe Marsala geboren.

Er stellte in einem Supermercato in der Via Mario Nuccio einige Lebensmittel und Getränke zusammen, bezahlte und teilte dem Marktleiter mit, dass die Ware abgeholt werden würde. Auf dem Schiff angekommen, schickte er seinen Maat mit dem Mofa los, den Karton mit den Sachen und den zwei Flaschen Gin zu holen.

»Wie lange bleiben wir?«, fragte ihn der Doc.

»Wir nehmen noch einen Gast auf. Sie wird morgen früh gebracht.«

»Ein Mädchen …«, stellte der Doc fest. Seine Gesichtszüge verrieten Freude.

»Lass bloß die Finger von ihr. Wir haben schon mal deinetwegen Schwierigkeiten bekommen!«

»Ach was. Die Kleine letztes Jahr wollte nicht stillhalten, da hat sie eine Ohrfeige bekommen.«

»Die drei Zähne sind ihr dabei wohl von alleine herausgefallen? Wir sind für ein unversehrtes Liefern bezahlt worden. Also sorge nur dafür, dass die beiden ruhig bleiben.«

Wie aufs Stichwort kamen gedämpfte Hilferufe aus dem Bauch des Schiffes.

»Los, beruhige ihn!«

Der Doc ging unter Deck.

Gegen sechs Uhr morgens am nächsten Tag fuhr ein VW Caddy älteren Modells mit Hecktür auf der Contrada Zizza, einer der drei großen Hauptstraßen Siziliens, über die Via Sebastiano Lipari direkt zum Hafen. Keine zehn Meter von dem alten Kahn entfernt, blieb er stehen. Zwei Männer stiegen aus und öffneten die Hecktür. Sie entnahmen dem Caddy ein Brett, auf dem offensichtlich ein Ballen Segeltuch festgezurrt war, und trugen es zu zweit zum Kahn. An Deck legten sie es relativ vorsichtig ab, drehten sich wortlos um und fuhren in die Richtung, aus der sie gekommen waren, davon. Der Doc band das betäubte Mädchen auf dem Brett los, noch bevor der Kahn aus dem Hafen fuhr. Er trug sie in den Bauch des Schiffes, wobei er ausgiebig ihren Hintern betatschte. Um die Insel herum, immer auf Sichtkontakt zum Land, tuckerte der Kahn um den Stiefel Italiens herum zur Adria.

Am Mittag des nächsten Tages ging der Doc wieder einmal unter Deck. Hier auf offener See konnten sie es riskieren, ihre beiden Gefangenen ohne Betäubung zu lassen. Zweimal hatte er ihnen schon ein Anästhetikum gespritzt, was sie sofort ruhigstellte. Erstens aber war dies auf lange Zeit zu gefährlich, bei einem fünfzehnjährigen Jungen machte vor zwei Jahren der Kreislauf schlapp, sodass er kollabierte. Mit Mühe und Not konnten sie ihn zwar retten, mussten ihn dann aber an Land zurückbringen. Der Auftrag wurde nicht erfüllt. Es gab anstatt Geld Ärger. Zweitens mussten die beiden essen und noch wichtiger, sie mussten etwas trinken. Beide saßen im mittleren Bereich des Kahns, jeder mit einer Hand an eine Eisenschlaufe, die in die Wand hinter ihnen eingelassen war, gefesselt. Anfangs hatten sie versucht zu schreien, das wurde aber schnell durch ein paar kräftige Ohrfeigen unterbunden.

»Los trinkt!«, befahl der Doc und stellte ihnen je eine Flasche Wasser hin.

Stephan trank gierig, denn er hatte Durst und einen bitteren Geschmack im Mund. Dieser rührte noch von der Betäubung her. Das Mädchen jedoch sträubte sich. Sie trat in ihrer Wut und Verzweiflung nach dem Doc. Der sah dieses als willkommenen Anlass, ihr etwas näher zu kommen. Er packte sie am Hals und schlug ihr zweimal mit der flachen Hand ins Gesicht. Stephan wollte ihr helfen und trat nach ihm. Seine Beine reichten jedoch nicht bis zum Doc. Der beachtete ihn und seine Aufforderung: »Lass sie in Ruhe!« gar nicht. Mit der linken Hand drückte er ihr den Unterkiefer herunter und mit der Rechten setzte er die Wasserflasche in ihren Mund. So blieb ihr gar nichts anderes übrig als kräftig zu schlucken. Das machte dem Doc sichtlich Freude.

Die Flasche war halb leer, als sie anfing zu husten. Der Doc nahm die Flasche aus ihrem Mund heraus und schüttete den Rest über ihr Gesicht und ihre Brust. Gierig leckte er sich die Lippen, als sich ihre Brustwarzen auf dem nassen T-Shirt abzeichneten. Mit beiden Händen griff er zu und umklammerte ihre Brüste mit festem Griff. Sofort schrie sie vor Schmerz auf. Er ließ los und sie beruhigte sich wieder einigermaßen. Dann zog er ihr T-Shirt hoch und verdeckte damit ihr Gesicht. Dass sie ihn nun beide anschrien, schien ihn nicht zu stören. Er kam mit seinem Mund dicht an ihren rechten Busen und wollte gerade mit seiner Zunge ihre Brustwarze umkreisen, als sie ihm mit den Fingernägeln durchs Gesicht fuhr. Verdammt, ich hätte ihre freie Hand nicht loslassen sollen, war sein Gedanke.

In diesem Moment kam der Maat die steile Stiege herunter und sagte zu ihm: »Der Kapitän will dich sehen.«

Der Doc verpasste der jungen Frau noch eine Ohrfeige. Beide Männer gingen nach oben und überließen die Gefesselten weitere lange Stunden ihrem Schicksal. Als der Kapitän die Kratzer im Gesicht des Docs sah, war sein Grinsen nicht zu übersehen. Die Frage: »Haben wir Katzen oder Pumas an Bord?«, bereitete ihm sichtliches Vergnügen.

Der Doc kochte vor Wut. Er entdeckte in der Kajüte die Flasche Gin, die der Maat vom Einkauf mitgebracht hatte. Er nahm sie ohne ein weiteres Wort zu sagen und ging mit ihr nach Achtern.

Da die beiden unter Deck bisher noch keine Gelegenheit hatten sich zu unterhalten, sprachen sie nun fast gleichzeitig. Sie einigten sich, dass man nacheinander schnell seine Geschichte erzählen sollte. Stephan sprach über sich und wie er in Rom gefangen genommen wurde. Wie er auf das Schiff kam, wusste er nicht, da war er schon betäubt worden. Dann erzählte sie ihm ihre Geschichte. Ihr Name war Gianna. Ihre Eltern hatten sie nach der Rocksängerin Gianna Nannini so genannt. Sie stammte, wie die Nannini auch, aus einer Konditorfamilie und wurde zufällig auch noch, genau wie die Rocksängerin, in Siena in der Toskana geboren. Aber das war auch schon alles, was sie mit ihr gemeinsam hatte.

Ihre Musik war nicht gerade das, was Nannini sang. Sie bevorzugte Techno. Der monotone Grundton der elektronischen Musik brachte sie immer wieder in Ekstase. Sie war 18 Jahre alt. Nach der zehnten Klasse hatte sie die Schule verlassen, wonach ihr sämtliche finanziellen Mittel von den Eltern gestrichen wurden. Die hatten ein Studium und eine Karriere als Anwältin oder zumindest einen Fachwirt als Abschluss geplant. Zwei Jahre trampte sie mit einem Startkapital ihrer inzwischen verstorbenen Oma und gelegentlichen Diebstählen durch Österreich, Deutschland und die Schweiz. Wenn sie in der Koje des einen oder anderen LKWs lag, geschah das nicht immer zum Zweck des Versteckens an den Grenzen, an denen es noch Kontrollen gab. Es hatte auch den Vorteil, leicht und relativ gefahrlos mal schnell fünfzig Euro zu erarbeiten.

Meist aber wurde ihr nur einen Zwanziger oder gar nichts für ihre Dienste gegeben. Sie war keine »Professionelle« und wurde es in den drei Jahren auf der Straße auch nicht, obwohl sie mit ihrem Mund sehr schnell war. Schneller als manch ein LKW-Fahrer die Hose unten hatte, brachte sie ihn in höchste Verzückung. Vor einem Jahr war sie auf Sizilien gelandet und hier geblieben. Ein Freund mit bisexueller Neigung machte ihr den Vorschlag, bei ihm in einer Kellerwohnung in der Fonto Tinnirello zu wohnen. Er gehörte zur abgefuckten Schickimicki der Insel. Das Haus lag in unmittelbarer Meeresnähe, was ihr sehr gefiel und so sagte sie zu. Ihr Gönner verlangte von ihr fast nichts, nur ab und zu bei einer der skurrilen Partys, die er gab, dabei zu sein. Hier trafen sich die unterschiedlichsten Leute und es wurde ihr nie langweilig. Alkohol und Pillen sowie Gras waren für sie immer gratis.

Vor zwei Tagen gab es wieder eine solche Party. Zwei nette Herren aus Rom kümmerten sich liebevoll um sie.

»Mann, so viel Gras, wie ich in der Lunge hatte, wird wohl im ganzen Jahr nicht angebaut.«

»Was war dann? Mach schon«, drängelte Stephan.

»Sie fragten mich, ob ich ihnen für einen Hunderter den Weg zur Piazza dalla Dittatura in Salemi zeigen könnte. Klar habe ich mich gewundert, warum ich das machen sollte. Es gibt doch für so was Navis. Aber den Hunderter haben sie mir gleich gegeben. Und irgendwie dachte ich, ich könnte ihnen sonst wie behilfl ich sein und vielleicht noch ’ne Zulage bekommen. Dann bogen sie bei Vita ab, weil der eine mal musste. Als ich aussteigen wollte, bekam ich die volle Ladung Chloroform ab. Aufgewacht bin ich hier unten, wie du. Was wollen die von uns? Umbringen hätten sie uns schon längst können. Das macht keinen Sinn.«

Stephan, der in Physik eine Arbeit über Rausch- und Betäubungsmittel geschrieben hatte, wusste, dass der Einsatz von Chloroform in Deutschland und einigen anderen Ländern der EU aufgrund unerwünschter Nebenwirkungen verboten war.

CHC13, die chemische Formel für Chloroform, wurde bis 1977 auch als Pflanzenschutzmittel eingesetzt. Es ist lebertoxisch und kann Schädigungen hervorrufen.

Herzflimmern ist ein weiterer Gefahrenpunkt, der zur Absetzung des Mittels beitrug.

»Sie wollen uns nicht umbringen. Jedenfalls jetzt noch nicht. Für irgendetwas brauchen sie uns noch.«

Am nächsten Morgen bekamen sie unter Deck Besuch vom Maat und dem Doc. Die Spritzen mit dem Langzeitschlafmittel Diazepam, was auch als Psychopharmaka zur Behandlung von Angstzuständen eingesetzt wird, konnte ihnen der Doc nur mit Mühe geben. Erst nachdem sich der Maat auf die Gefesselten setzte und den jeweiligen Arm bis kurz vor dem Ausrenken nach hinten bog, konnten sie keinen Widerstand mehr leisten. Das Stechen in die Vene war keine rücksichtsvolle Tat eines Arztes, somit war die Prozedur ziemlich schmerzhaft. Fünf Minuten später war das den beiden egal, sie dämmerten ins Reich der Träume. Dass sie in zwei Särge, die von einer Plane verdeckt im hinteren Bereich des Kahns standen, gelegt wurden, bekamen sie nicht mehr mit.

An Deck wurde der Maat vom Kapitän gefragt: »Was ist? Alles in Ordnung?«

»Aye, hoffentlich schaut nicht mal einer von der Küstenwache in die Särge und stellt fest, dass die Toten noch leben.«

»Na, die können doch lesen und sehen die Dokumente an den Särgen doch.«

Außen an den beiden Särgen klebte je ein Schreiben auf den Deckeln, auf denen man so etwas wie »Überführung von Strahlungsopfern« lesen konnte.

»Die Überführungspapiere sind doch echt, von einem echten Doc ausgestellt.«

Bei diesem Satz konnte sich der Kapitän vor Lachen kaum auf den Beinen halten.

Als der Kahn am nächsten Tag in einer kleinen Bucht in Ulcinj in Montenegro vor Anker ging, wurden die Särge auf einen Kastenwagen verladen, der schon seit dem Vormittag aus sie wartete. Über Virpazar ging die Fahrt an der albanischen Grenze entlang nach Norden über Berane und Bijelo Polje nach Serbien. Es kontrollierte sie keiner. Sie waren noch nie kontrolliert worden.

Hexen gibt es nicht

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