Читать книгу Der Sommernachtsmörder - Marianne Berglund - Страница 10
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ОглавлениеAls Eva-Britt Bixe am Samstagmorgen aufwachte, wusste sie gleich, noch ehe sie die Augen geöffnet hatte, was los war. Und dieses Wissen ließ sie die Augen wieder schließen, sie ganz fest zusammenkneifen und so tun, als werde es noch einige Stunden lang Nacht sein. Nicht, dass sie aufstehen musste, sie hatte dienstfrei und war nur später mit ihrer Tochter Fia auf dem Marktplatz verabredet. Dann, um elf, würde sie, wenn auch nicht munter und lebhaft, aber doch so weit in Form sein, dass sie die drei Straßen durchaus hinter sich bringen könnte. Mit etwas Glück würde sie nicht absagen müssen.
Doch jetzt sah es noch ganz düster aus. Gütiger Himmel, dachte sie, und wagte es dann, langsam ein Auge aufzuzwingen, um sich die Bestätigung zu holen – Migräne. Ein kleiner weißer Blitz leuchtete auf, und gleich darauf funkelte es, als jagten glänzende Aquariumsfische in ihrem Blickfeld hin und her. Sie kniff die Augen zusammen, doch jetzt schwammen sie unter ihren Augenlidern, flammengelbe, brennende Fackeln. Sie konnte nur die Augen zumachen und warten. Es würde aufhören, früher oder später, und entweder bohrende Kopfschmerzen oder einen Druck wie von Ziegelsteinen auf ihren Schläfen zurücklassen. Normalerweise hatte Kommissarin Eva-Britt Bixe nie das Gefühl, ernsthaft krank zu sein, sie war wirklich keine Hypochonderin, aber bei jedem Migräneanfall glaubte sie, sofort tot umfallen zu können. Die Migräne traf sie jedes Mal wie eine Bombe.
Sie schob ein Bein über die Bettkante und tastete grunzend nach ihrem Morgenrock, den sie abends irgendwo am Fußende abgelegt hatte. Als sie die Arme in den dicken Frotteestoff schob, fühlte sie sich ein wenig besser, das flackernde Licht war nicht mehr so intensiv, und ihre Sicht hatte sich wieder ein wenig normalisiert. Was sie sah, war das Zimmer mit dem riesigen Doppelbett, über das sie inzwischen allein verfügte, die klumpigen Kissen, die sie wild auf der Matratze verstreut hatte, die dicke Daunendecke und auf dem Nachttisch der kleine Radiowecker mit den roten Ziffern sowie die Bilder der beiden erwachsenen Töchter. In der einen Zimmerecke thronte ein alter, geerbter Korbsessel, der zwar knarrte und an einigen Stellen zerbrochen war, von dem sie sich aber einfach nicht trennen konnte. Der Sessel hatte etwas, das Geborgenheit versprach, etwas Gebieterisches, sie konnte ihre Kleider darauf ablegen und er bildete das nötige Gegengewicht zu den hellen Farben des Zimmers.
Mit der Hand fest auf dem Geländer ging sie die Treppe ins erste Stockwerk hinunter, in der Dreizimmerwohnung, die sie seit einigen Jahren bewohnte und die ihr vorkam wie ihr erstes eigenes und echtes Zuhause. Das Haus, in dem sie fast zwanzig Jahre mit Gösta gewohnt hatte, hatte ihr Dasein kleinkariert und eng werden lassen. Eva-Britt war damals für das Einkaufen, das Kochen, das Aufräumen und die Wäsche zuständig gewesen. Ihr Ehemann hatte den Hang gehabt, sich endlos im Gefängnis herumzudrücken, wo er arbeitete, und wenn er dann endlich nach Hause kam, behauptete er, wenn auch mit einem freundlichen Lächeln, dermaßen erschöpft zu sein, dass er keinen Finger mehr rühren könnte. Am Ende hatte sie das alles so satt gehabt, dass sie der Sache ein Ende gemacht und den Mann vor die Tür gesetzt hatte. Übrigens eine Entscheidung, die sie noch nie bereut hatte. Das Einzige, was sie bereute, war, so lange gewartet zu haben. Auch sie war abends müde, wenn sie von der Wache nach Hause kam, und sich dann um zwei kleine Mädchen und außerdem um einen Ehemann kümmern zu müssen, der rauchend auf dem Sofa saß, das war einfach zu viel gewesen.
Das Licht von unten stach ihr in die Augen. Sie kniff sie wieder zusammen, als sie in die Küche ging. Das eine Auge fest geschlossen, das andere nur minimal geöffnet, warf sie einen Blick auf die Wanduhr. Erst zwanzig nach sieben. Da hatte sicher die Migräne sie geweckt, und dazu das vage Gefühl von Unlust, das immer damit einherging.
Mit den Jahren stellten die Migräneanfälle sich seltener ein. Nach der Scheidung hatte die Anzahl sich fast halbiert. Inzwischen kamen sie nur noch selten vor, meistens nach hektischen Phasen im Beruf. Als sollte sie einfach niemals Ruhe und Entspannung finden. Irgendetwas war immer. Als sie im vergangenen Jahr die Ermittlungen im Mord an einem Arzt beendet hatten, hatte sie innerhalb einer Woche gleich drei Migräneanfälle erlitten. Trotzdem, Eva-Britt hatte noch Glück gehabt, jedenfalls nach ihren eigenen Maßstäben. Es war Weihnachten gewesen, und zum ersten Mal seit Jahren hatte sie einen guten Grund gehabt, die Feiertage allein und im Morgenrock zu verbringen, wonach sie sich schon seit Ewigkeiten gesehnt hatte. Kein Schinken, keine Verwandtschaft, kein Weihnachtsmann, und vor allem kein Gösta. Denn meistens fand er sich zu solchen Gelegenheiten ein. Ihre ältere Tochter Klara, die jetzt in London wohnte, bestand darauf. Im vergangenen Jahr aber hatte die Familie ohne Mama zurechtkommen müssen. Eva-Britt hatte einen schönen Heiligen Abend verbracht, mit lindernden Schmerztabletten, Spaghetti carbonara und einem großen Stück Butterkuchen, das sie sich abends aus der Tiefkühltruhe gefischt hatte. Sie war früh ins Bett gegangen, hatte sich in die warme Daunendecke gewickelt und fast zwölf Stunden geschlafen.
Jetzt saß Kommissarin Eva-Britt Bixe am Küchentisch und schaute aus dem Fenster. Draußen im Regen leuchteten die Bäume in sattem Grün. Der Hof sah aus wie ein schönes, in gesättigten Farben gehaltenes Bild. Der Regen klopfte dumpf gegen die Fensterscheibe. Es regnete jetzt seit einer Woche, nicht übermäßig und nicht ununterbrochen, aber als gleichmäßiges Nieseln, das ein Gefühl von Herbst hinterließ. Vor Mittsommer war das anders gewesen, fast unerträglich heiß, die Leute hatten nach Luft geschnappt und sich beklagt. Dass das Wetter auch nicht Maß halten konnte, entweder war es brennend heiß oder es goss. Ja, so ist es wohl mit dem Leben und der Gesundheit, dachte Bixe, entweder so viel Stress, dass man kaum zum Nachdenken kommt, oder Stille und bohrende Kopfschmerzen. Das Wort mäßig schien nicht mehr zu existieren. Auch bei der Arbeit machte sich das bemerkbar, die Verbrechen wurden immer zahlreicher und raffinierter, ehrliche Schlägereien wichen schweren Misshandlungen, aus Ladendiebstählen und anderem Kleinkram wurden Körperverletzung und Raubüberfall.
Sie führte die Tasse an die Lippen und trank. Das Koffein tat seine Wirkung, und bald fühlte sie sich fast wieder normal. Es pochte nur noch hinter der rechten Schläfe, diesmal würde sie sich also wohl nicht wieder ins Bett legen müssen. Und würde Fia wie verabredet auf dem Marktplatz treffen können. Ihre Tochter brauchte Rat bei irgendeinem Einkauf, es ging um einen Mantel oder so etwas. Nicht, dass Bixe gern in Kleiderläden herumwühlte, aber für ihre jüngere Tochter konnte sie gern einmal eine Ausnahme machen.
Als sie ihre zweite Tasse Kaffee getrunken hatte und sah, wie Hausmeister Simonsson mit einer Mülltüte über den Hof ging – dieser Mann versah seine Arbeit aus lauter Pflichtgefühl sogar am Wochenende –, klingelte das Telefon. Bixes erster Gedanke war ihre Tochter, und für einen Moment fühlte sie sich erleichtert. Vielleicht würde sie sich doch nicht in Umkleidekabinen mit greller Spiegelbeleuchtung und Warenhäusern mit schriller Musik herumtreiben müssen. Aber als sie den Hörer vom Telefon an der Küchenwand nahm, hörte sie nicht Fias Stimme, sondern die von Polizeiinspektor Janne Ring.
»Eva-Britt, entschuldige, falls ich dich geweckt habe.«
»Macht doch nichts, ich war ohnehin schon wach.«
Ring räusperte sich. Bestimmt hält er dabei die Hand vor den Mund, dachte Bixe. Sie sah seinen Siegelring und die weißen Manschetten vor sich.
»Es ist etwas passiert«, sagte jetzt ihr immer so tadellos in einen Anzug gewandeter Kollege. »Es wäre gut, wenn du so schnell wie möglich herkommen könntest.«
Seine Stimme war so glatt wie seine Hosen mit den Bügelfalten.
»Kannst du sagen, worum es geht?«
»Ja, in einem Friseursalon in der Hamngata hat es gebrannt.«
»Ich habe an diesem Wochenende frei«, sagte Bixe. »Muss ich wirklich los, bloß weil es irgendwo gebrannt hat?«
»Offenbar ist dabei jemand verbrannt.«
»Ach?«
»Ja, aber wie und warum wissen wir noch nicht.«
»Wo genau hast du gesagt?«
»Hamngata 3«.
»Liegt das Engers nicht in der Hamngata?«
»Doch ...« Auf der anderen Seite der Leitung wurde mit Papier geraschelt. »Ja, das ist derselbe Salon. Er heißt jetzt aber nicht mehr Engers, sondern Klipp-it. Offenbar hat er den Besitzer gewechselt.«
»Ich komme. Aber ich habe heute frei. Hast du schon Erik angerufen?«
»Da meldet sich niemand. Deshalb wollte ich doch dich sprechen.«
»Da meldet sich niemand? Aber er hat doch diese Woche Bereitschaftsdienst.«
»Ich mach noch einen Versuch. Und übrigens, soll ich dir einen Wagen schicken?«
»Einen Wagen? Wie meinst du das? Das sind vier Straßen, Janne.«
»Du fährst doch sonst immer.«
»Jetzt nicht mehr.«
»Ich weiß ja, dass deine Karre ihren Geist aufgegeben hat, deshalb frag ich ja gerade.«
»Danke. Aber das ist wirklich nicht nötig.«
»Dann sehen wir uns gleich?«
»Sobald ich fertig bin.«
Und vom Stuhl hochkomme, dachte sie und legte auf. Neue Ermittlungen konnten ein sehr wirksames Kopfschmerzmittel sein, der Stress ließ für die Migräne einfach keinen Platz mehr. Dennoch hätte sie natürlich einen entspannten Stadtbummel mit Fia vorgezogen. Eine verbrannte Leiche war ja nicht gerade das, wonach man sich an einem ruhigen Samstagmorgen vor allem sehnte. Noch dazu, wenn es erst fünf nach acht war und der Kopf sich weiterhin wie eine leere Blechdose anfühlte, auf deren Deckel irgendwer unerbittlich einhämmerte, mit gedämpften, aber hartnäckigen Schlägen.
Ist das hier das Leben?, überlegte Eva-Britt Bixe. Gedankenlos wie üblich hatte sie sich zu dünn angezogen, nur einen einfachen Mantel und dazu Pumps, die ihre besten Tage ohne Zweifel bereits hinter sich hatten. Jetzt stand sie vor der Hamngata 32 und fror. Was war das für ein Sommer? Es war zwar erst halb neun, aber dass sie mitten im Sommer frieren musste!
Vor ihr wehten die blauweißgestreiften Plastikbänder leicht im Wind; aus einer zerbrochenen Dachrinne ein Stück weiter tropfte das Regenwasser, das Einzige, was an diesem Samstagmorgen in der Straße passierte, wo bisher nur wenige Menschen aufgewacht waren. Die wenigen, die es bereits in die Stadt geschafft hatten, hatten sich jedoch hier versammelt. Es half wenig, dass die Polizei sie zum Weitergehen aufforderte, stur stand die kleine Gruppe von Neugierigen weiterhin da und betrachtete abwechselnd das schwarze, ausgebrannte Ladenlokal und die beiden Feuerwehrwagen, die mit ihrem blinkenden Blaulicht die Straße versperrten.
Eva-Britt Bixe hob das Plastikband und ging zu einem der jungen Polizisten, der vor einem Teppich aus funkelnden Glasscherben stand. Er nickte zur Begrüßung.
»Weißt du, was hier passiert ist?«, fragte Bixe.
Der junge Mann schüttelte den Kopf und zeigte auf den Laden.
»Fridén ist drinnen.«
Eine schwarze Silhouette in grober Arbeitskluft lief hinter den zerbrochenen Fenstern hin und her. Nils Fridén war der fähigste Techniker, den sie hatten, sorgfältig und systematisch.
»Ach, ist er schon lange hier? Ich habe gehört, hier sei jemand verbrannt.«
»Ich weiß keine Einzelheiten.«
Bixe schaute zum Laden hinüber. Dort war alles schwarz und verrußt. Die Überreste zweier Friseurstühle waren in Form von spitzen Metallteilen mitten im Raum zu erkennen. Ein Waschbecken stand etwas weiter hinten auf einem schwarzen Sockel. Ansonsten sah sie vor allem verkohlte Rußflocken. Offenbar hatte das Feuer heftig gewütet. Vor dem Lokal standen zwei Wagen. Die Nummernschilder waren wie Papier zusammengeschnurrt und die Scheinwerfer geschmolzen wie Zucker in einer heißen Bratpfanne.
Ein plötzlicher Windstoß veranlasste sie, den Mantelkragen hochzuschlagen. Der Wind durchdrang alles. Sie wandte sich wieder dem jungen Polizisten zu.
»Ich gehe zur Wache«, sagte sie. »Oder kann mich jemand fahren?«
»Frag Ring. Der war eben noch hier.«
»Und wo ist er jetzt?«
Der Mann zuckte mit den Schultern. Bixe spürte einen stechenden Schmerz, als sie sich umschaute. Wollte der denn gar nicht nachlassen? Naja, noch ein Grund mehr, zur Wache zu fahren. Wobei die Kälte und ihre blödsinnige Kleidung auch schon reichten.
»Da sitzt er, im Auto«, sagte die Polizist und nickte zu einem Streifenwagen hinüber.
»Hab ich’s doch geahnt«, murmelte Bixe ärgerlich, zog den Mantel fester um sich zusammen und ging auf den Wagen zu – warum sie sich ärgerte, wusste sie gar nicht genau, vielleicht darüber, dass Ring einfach lässig in einem Auto saß und sich die Verwüstung anschaute, als sei das hier ein Urlaubsvergnügen.
»Hier ruhst du dich also aus«, sagte sie.
Ring schaute überrascht zu ihr hoch.
»Mir war so verdammt kalt«, entschuldigte er sich und schüttelte sich fröstelnd.
»Hast du inzwischen mehr erfahren?«, fragte Bixe.
»Wir müssen abwarten, was Fridén sagt.«
»Dann zurück zur Wache«, sagte Bixe. »Hier können wir nicht viel ausrichten. Fährst du?«
»Ich? Nein ...«
»Wie bist du denn hergekommen?«
Ring wohnte fünf Kilometer außerhalb der Stadt, und seine Kleidung ließ annehmen, dass er nicht mit dem Rad gefahren war.
»Also ... ich fahr nicht den hier.« Er klopfte neben sich auf den Sitz. »Mein Wagen steht da hinten.« Er zeigte auf einen blauen Golf.
»Na dann. Worauf warten wir noch?«
»Wolltest du nicht zu Fuß gehen?«, fragte Ring mit aasigem Lächeln im Mundwinkel.
»Ich hab’s mir anders überlegt«, sagte Bixe. »Außerdem hab ich eine höllische Migräne. Also sei lieber vorsichtig mit mir.«
»Noch vorsichtiger als sonst, versprochen. Aber nicht deinetwegen, sondern aus purem Egoismus.«
Der Morgen hatte zwar nicht gerade strahlend begonnen, aber er hätte doch ein wenig ruhiger weitergehen können, fand Eva-Britt Bixe, als sie ihr Zimmer im vierten Stock der Wache betreten hatte und keuchend in ihren Sessel gesunken war. Es war einwandfrei nicht ihr Tag. Die Kopfschmerzen waren inzwischen zwar fast verschwunden, aber jetzt konnte sie ihre Brille nicht finden. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, wo sie die hingelegt haben könnte. Seit die Schnur, an der sie sie trug, abgerissen war, fand sie ihre Brille an den seltsamsten Orten. Einmal war ihr Kollege Erik Sander mit einem überaus zufriedenen Lächeln auf den Lippen ins Zimmer gekommen.
»Das ist ja wohl deine?«, hatte er gesagt und die Brille vor sie hingehalten.
Bixe hatte überrascht von dem Text aufgeschaut, den sie gerade zu entziffern versucht hatte.
»Sicher, Erik, danke. Ich hab ja schon so gesucht. Wo hast du sie gefunden?«
Sie hatte sein Lächeln gesehen, ein strahlendes Lächeln, das sich über seinem sonst so bleichen Gesicht ausbreitete, und sich doch gefragt, was so komisch sein mochte.
»Das willst du gar nicht wissen«, sagte er mit einem Grinsen.
Sogar die normalerweise ziemlich gelassene Bixe war verunsichert gewesen.
»Im Kühlschrank«, hatte ihr Kollege dann gesagt. »Auf einem Butterbrotpaket.«
Sanders Lachen war im ganzen Haus zu hören gewesen, und am nächsten Tag hatte die Truppe eine neue Redensart entwickelt, die seither immer angewandt wurde, wenn sie im Laufe der Ermittlungen Probleme hatten: »Ganz kalt bleiben und im Kühlschrank nachschauen.« Damit hatte sie es sogar in das hauseigene Käseblatt gebracht.
An diesem Morgen aber lag die Brille weder im Kühlschrank noch im Bücherregel. Bixe machte sich ans Suchen, das war sie schließlich gewohnt. Auch ihr Schlüsselbund verschwand ab und zu. Beide Gegenstände schienen ihre eigenen Füße zu besitzen, mit denen sie sich jederzeit von ihr entfernen konnten. Deshalb zog sie jetzt gewohnheitsmäßig Schubladen auf und hob Papierstapel hoch. Als sie die Brille auch auf der Fensterbank und in ihrer Tasche nicht fand, ging sie zur Personaltoilette. Dort lag sie, auf dem Waschbecken. Bixe atmete erleichtert auf. Diesmal blieb ihr immerhin die Demütigung erspart, andere um Hilfe bitten zu müssen. Fragen wie »habt ihr meine Brille gesehen?« oder »weiß irgendwer, wo mein Schlüsselbund liegt?« wurden immer mit lautem Lachen quittiert.
Auf dem Rückweg zu ihrem Zimmer klopfte sie bei Janne Ring. Von drinnen war ein Grunzen zu hören, gefolgt von einem unhöflichen »Komm rein!«
Ein Ring mit müden, schmalen Augen saß zurückgelehnt in seinem Schreibtischstuhl. Vor ihm auf dem Tisch lag ein Papierstapel, in der Hand hielt er einen Kugelschreiber.
»Du siehst heute ganz schön fertig aus«, sagte Bixe, in dem Versuch, die Stimmung zu heben.
Aber es war wirklich normalerweise nicht leicht, Ring ein Lächeln zu entlocken. Auch heute nicht. Missmutig blickte er zu seiner Chefin hoch, dann zuckte sein einer Mundwinkel ein ganz klein wenig. Und das sollte nun ein Lächeln sein, dachte Bixe.
»Gestern ist es ein bisschen spät geworden«, gestand er. »Aber ich konnte doch nicht ahnen, dass ich heute arbeiten muss.«
»Die Verbrecher nehmen eben keine Rücksicht auf uns Kripoleute«, seufzte Brixe und ließ sich vor seinem Schreibtisch im Besucherstuhl nieder. »Hast du übrigens Erik erreicht?«
Ring schüttelte den Kopf.
»Ich hab mehrmals angerufen, aber er meldet sich einfach nicht.«
»Seltsam.«
Bixe blickte auf ihre Finger, spielte an der Nagelhaut herum. Ihre Nägel kamen ihr fremd vor, wenn sie nicht lackiert waren. Gelblich irgendwie. Früher hatte sie gedacht, das komme vom Rauchen. Sie hatte viel geraucht, vor allem in hektischen Arbeitsphasen. Obwohl sie mehr als ein halbes Jahr zuvor aufgehört hatte, war immer noch ein gelber Schimmer zu sehen. Also musste es wohl mit dem Alter zu tun haben. Sechsundfünfzig, eine schreckliche Zahl. Als sie jung gewesen war, hatte sie es kaum für möglich gehalten, dass jemand so alt sein könnte, und wer es doch wäre, müsse grauhaarig und altersschwach sein. Grauhaarig war sie nun auch und bisweilen todmüde, aber nicht alt und schwach. Eher kam sie sich mit den Jahren jünger vor. Seltsamerweise. Wahrscheinlich auch, weil sie nicht mehr rauchte, und deshalb war sie recht zufrieden mit sich selbst.
»Ja, das ist seltsam«, unterbrach Ring ihre Gedanken. »Er ist doch sonst sehr zuverlässig.«
Bixe nickte und runzelte nachdenklich die Stirn. Ihre Denkfurche, so nannten das die Kollegen. Mit den Jahren war die Furche immer tiefer geworden. Aber auch das lag vielleicht eher am Alter als am vielen Denken.
»Erik ist das Pflichtbewusstsein in Person«, sagte sie. »Sein Telefon wird doch nicht defekt sein, oder was meinst du?«
»Ich habe es auch auf seinem Mobiltelefon versucht.«
Ring legte den Kugelschreiber auf den Tisch und beugte sich vor.
»Glaubst du, wir sollten bei ihm vorbeifahren?«
Bixe musterte wieder ihre Nägel. Papierkram, dachte sie. Blätter umdrehen, im Computer suchen. Denken. Die Denkfurche hervorholen.
»Wir warten. Und hören uns an, was Fridén im Friseursalon gefunden hat. Vielleicht ist es ja nicht so wichtig.«
»Ist es doch«, sagte Ring.
»Woher weißt du das?«
Erst jetzt lächelte Ring, ein schwaches, bleiches Lächeln, das sein adrett glatt rasiertes Gesicht kaum zu erhellen vermochte.
»Ich weiß es nicht«, sagte er. »Ich spüre es.«
»Seit wann arbeitet die Polizei nach Gefühl und nicht nach Vernunft?«, fragte Bixe.
»Samstagmorgen. Freies Wochenende. Regenwetter. Da kann doch nur eine nervige Ermittlung auf uns warten. Ich meine, wenn schon, denn schon, oder wie siehst du das?«
»Tja. Wenn ich an meine Kopfschmerzen denke, dann hast du vielleicht Recht.«
»Ein Unglück kommt selten allein.«
»Und außerdem können wir Erik nicht erreichen. Nein, das verheißt nichts Gutes. Überhaupt nichts Gutes.«