Читать книгу Der Sommernachtsmörder - Marianne Berglund - Страница 5
1
ОглавлениеDer Stein war grau, kompakt und schwer, lag aber seltsam leicht in der Hand. Er war aus der Mauer gefallen, vor einen der alten Apfelbäume.
Der Stein hatte dort gelegen, und sie hatte das als Zeichen aufgefasst. Er hatte auf sie gewartet, war vor langer Zeit von seinem Platz gekullert und hatte ebenso lange darauf gewartet, dass sie kam und ihn aufhob. Die Zeit wusste es, die Zeit lag in Schichten aufeinander und wusste, wann der richtige Augenblick gekommen war, sie wusste, worauf sie gewartet hatte.
Jetzt ruhte der Stein sicher und glatt in ihrer Hand.
Als sie zurückgekommen war, hatte sie seine Umrisse gesehen. Schon vom Weg her hatte sie ihn auf der Veranda bemerkt, geschützt vor dem Regen, unter dem Vordach. Sie hatte gestaunt und hatte Angst gehabt, mit keinem Gedanken hatte sie die Möglichkeit in Betracht gezogen gehabt, dass er immer noch dort sein könnte. Und deshalb hatte sie den Stein aufgehoben. Diesmal sollte er sie nicht hindern können. Sie würde ihm zuvorkommen.
Schweigend ging sie jetzt über das Gras. Noch immer tat es ihr überall weh, ihr Mund brannte und schmeckte nach Blut. Es würde lange dauern, bis dieser Geschmack verflogen war. Der Regen prasselte auf den Boden. Die Wolken hatten sich geöffnet, ein Spalt klaffte dazwischen. Durch diesen Spalt jagten die Blitze. Bestimmt konnte er nichts hören. Er würde sie nicht bemerken, diesmal nicht.
Er hatte Schutz auf der Veranda gesucht. Als der Regen herunterprasselte und das Gewitter sich genau über seinem Kopf befand, war sein Blick plötzlich und wie von der Vorsehung geleitet auf die Hütte gefallen, die an die fünfzig Meter von ihm entfernt stand.
Jonas Sjögren hatte beschlossen, zu Fuß nach Hause zu gehen. Was für eine idiotische Idee, dachte er jetzt, als er ein wenig atemlos auf der fremden Veranda stand und hörte, wie der Regen auf das Dach trommelte. Vorhin, als er das Fest verlassen hatte, hatte er sich auf diesen Spaziergang fast gefreut. Er war ein wenig wirr im Kopf gewesen, vielleicht deshalb.
Mittsommer. Einmal im Jahr kam dieser Tag mit seiner ganz eigenen Magie. Obwohl er selber eher fand, es sei ein Abend wie jeder andere – nur ein wenig heller, aber schließlich gab es viele helle Abende. Noch war viel von diesem Sommer übrig, der bisher schon schrecklich heiß gewesen war, auch wenn sich ausgerechnet an diesem Abend dunklere Wolken am Himmel zeigten. Ein graulila Deckel über den Tannenwipfeln in der Ferne. Er hatte jemanden darüber klagen hören, als er vor das Haus gegangen war, um sich eine Zigarette anzuzünden. Und dann hatte plötzlich der Gastgeber neben ihm gestanden. Hatte einfach nur dagestanden und ihn wütend angestarrt.
»Was zum Teufel machst du denn hier?«, hatte er gefragt, dieser Gastgeber, den er überhaupt nicht kannte. Mit einer polternden, unangenehmen Stimme.
Und Jonas Sjögren war hilflos gewesen, stumm und ratlos. Ein nachlässig abgestelltes Glas rollte lautlos durch das Gras, etwas Trinkbares versickerte im trockenen Boden, etwas Goldgelbes, Glitzerndes.
»Mach, dass du wegkommst, klar?«
In einer Mittsommernacht war alles möglich. Zauber und Magie und Elfen über dem Wasser. Was für ein Unsinn. Er hatte die Kippe ins Gras geworfen, die Hände in die Taschen gebohrt und war gegangen, während er die Augen des Mannes im Nacken spürte. Nein, hier wollte er nicht bleiben. Der Kies knirschte freundlich unter seinen Schuhen. Ein Spaziergang mitten in der Nacht würde seinen Kopf auslüften, diese kleine Wanderung, die er in einer guten Stunde hinter sich bringen könnte. Ein Spaziergang, nichts weiter, kein Problem. Er war ein gesunder, durchtrainierter Mann.
Die Nacht war hell und warm, der Wald duftete würzig und das Schweigen zwischen den hohen Bäumen erschien ihm als willkommener Kontrast zu dem Lärm des Festes, das er eben verlassen hatte. Gesichter, Lachen und Parfümgeruch, Gläser, die achtlos abgestellt wurden, auf Tischen, auf dem Boden, auf dem Kiesweg unterhalb der Treppe, wo sie in der nie ganz schwarzen Nacht geraucht hatten.
Aber dann hatte, wie gesagt, der Regen eingesetzt. Zuerst hatte er gedacht, er könne einfach weitergehen, auf das Wetter pfeifen und hoffen, dass es nicht schlimmer werden würde. Eine alberne Hoffnung. Denn die Tropfen wurden stärker, bald war der Donner zu hören, ein leises Grollen, und dann gab es nur noch Wasser, Licht und Krach. Er rannte los, der Regen peitschte auf den Kies. Aus den Wolken wurden in ununterbrochener Folge scharfe Blitze geschleudert.
Und da hatte er die Hütte entdeckt. Die schwarzen Augen der Fenster hatten ihn aufgefordert, dort Schutz zu suchen. Hier bist du in Sicherheit, sagten sie, hierher kommt der Regen nicht, hierher kommt gar nichts. Es war wie eine Eingebung, dachte er, als habe dieses Häuschen auf ihn gewartet, oder als habe das Gewitter den schlimmsten Donner zurückgehalten, bis er die Ecke erreicht hatte, von der aus das Haus zu sehen war. Wundergläubige hätten jetzt wohl gesagt, das hier sei vorherbestimmt gewesen, alles gehöre in einen großen Zusammenhang. Beseelte Dinge, Steine und Bäume, das Wesen der Natur, das sich in dieser Mittsommernacht manifestierte, in der alles passieren konnte. Er selbst fand, er habe einfach ein Schweineglück gehabt.
Vor der Tür der Hütte lag eine offene Veranda. Auf dem Boden standen einige Pelargonien und ein mit Kippen gefüllter Aschenbecher. Scheinbar alles normal – doch etwas stimmte hier nicht, es stimmte ganz und gar nicht, und plötzlich und ohne Vorwarnung traf ein betäubender Schlag seinen Hinterkopf. Er verlor das Gleichgewicht und stürzte zu Boden. Als er die Augen wieder öffnete, schob sich ein schwarzer Vorhang vor seine Blicke. O verdammt, er war doch nicht allein, jemand hatte sich von hinten unbemerkt an ihn herangeschlichen. Er presste die Handflächen auf die groben Bretter und versuchte, sich hochzustemmen. Bis ein weiterer Schlag seinen Hinterkopf traf, und diesmal tat es so weh, dass er einige Sekunden lang nicht mehr wusste, wo er sich befand und warum. Als er diesmal die Augen öffnete, war das Licht verschwunden. Nichts war da, alles war leer, er sah nichts. Seine Finger fühlten sich an wie gelähmt. Als habe er keinerlei Gewalt mehr über sie. Und das Seltsamste von allem war, dass der Schmerz, den er zuerst im ganzen Kopf verspürt hatte, jetzt verflogen zu sein schien.
Er wollte schreien, konnte es aber nicht, und wer hätte ihn hören sollen? Vor seinem inneren Auge flackerte ein vages und bleiches Bild auf. Er sah, wie er vorhin noch über einen Weg gegangen war, wie seine Beine sich bewegt hatten. Es war ein schöner, kurvenreicher Weg gewesen, mit gröberem Kies in der Mitte, feinerem außen, Gras am Rand, dahinter Tannen. Kilometer von strömendem Regen. Ein Blitz hatte den Himmel erleuchtet, und der Donner war wie Steine durch den Wald gerollt. Ja, daran erinnerte er sich. Auch wenn das Bild verschwommen war und alles schon eine Ewigkeit zurückzuliegen schien, obwohl es doch nur wenige Minuten her sein konnte.
Er merkte, dass er auf dem Bauch lag, in einer seltsam verkrümmten Haltung, die Arme starr und unbeweglich. Er versuchte nicht mehr, sich aufzurichten. Ein Gewicht schien sich auf ihn gelegt zu haben, und das Letzte, was er noch wahrnahm, war ein langes, tiefes Grollen. Dann verschwand auch dieses Geräusch, und alles wurde so still, wie es das nur nach dem Sturm sein kann, wenn die Gewitterwolken wie graue Fetzen über den Himmel gezogen sind, in einer stillen Mittsommernacht, in der alles möglich ist, noch dazu, ohne dass man weiß, warum.
Evelina Palm saß rauchend auf dem Sofa. Ungeduldig, die Zigarette zwischen zwei Fingern. Fast hätte sie sie auf dem Boden ausdrücken mögen, wenn es hier nicht so elegant und ordentlich gewesen wäre. Aber eigentlich war ihr das schnurz. Und ihr Boden war es schließlich auch nicht. Also ließ sie die Kippe fallen und trat sie mit ihrer Sandale aus. Ein schwarzer Fleck zeigte sich auf dem hellen Holz.
Sie war als Letzte übrig geblieben. Die anderen Gäste hatten sich einer nach dem anderen verzogen. Eigentlich hätte sie es ihnen nachtun sollen. Eigentlich hätte sie sogar überhaupt nicht herkommen dürfen, aber niemand hatte doch voraussehen können, dass der Abend zu einem solchen Fiasko werden würde.
Ja, verdammt, dachte sie. Was für ein tolles Scheißmittsommerfest!
Im Haus war es jetzt verhältnismäßig still, während sie hier in dieses sicher viel zu teure Sofa versunken saß. Bosse verkaufte Bilder wie andere Leute Gummibärchen. Immer malte er sie von derselben Stelle aus, im Obergeschoss, mit Aussicht auf See und Wald. Im Moment war Annie dort oben, ihre Schritte waren zu hören, rasch und wütend, auf dem alten Dachboden, wo ein Stück Dach entfernt und auch ein Fenster ersetzt worden war, damit es jedes Mal dasselbe Motiv sein konnte. Nicht die geringste Variation gebe es auf seinen Bildern, sagten manche. Nuancen, meinten die eher Wohlwollenden. Ein ständiges Spiel mit Farbtönen, so, wie auch die Natur sich veränderte, langsam und schrittweise. Er selbst schien sich um die Kommentare der anderen nicht zu scheren, so lange er seine Werke für viel größere Summen verkaufen konnte, als sogar die Wohlwollenden für angemessen erklärten. Jetzt saß er ihr gegenüber und zog gierig an seiner Pfeife. Und oben im Obergeschoss lief, wie gesagt, Annie hin und her, mit Schritten, die die Dachbretter lauter als sonst knacken ließen. Evelina hätte gern gewusst, warum Annie so böse war. Warum sie und Bosse sich diesmal gestritten hatten.
»Du hast ihn doch nicht gesehen, oder?«, fragte Evelina und schaute mürrisch zu Bosses mit Pantoffeln bekleideten Füßen hinüber, die lässig auf dem Tisch lagen. Bei dieser Hitze!
»Hätte ich ihn sehen sollen?«
Schlaffe müde Augenlider, Worte, die zähflüssig aus seinem Mund tropften. Dazu ein Lächeln, aber das galt nicht ihr, sondern ihm selbst. Er lächelte immer auf diese Weise in sich hinein.
»Was ist denn so komisch?«
Evelina konnte sich die Frage nicht verkneifen.
»Dass du auf einen Trottel wartest, der gar nicht da ist.«
»Er ist mit mir hergekommen, und jetzt ist er verschwunden.«
»Du solltest deine Typen sorgfältiger aussuchen, Evelina.«
»Im Moment habe ich nur einen Typen, und zwar diesen.«
»Das ist aber eine schlechte Wahl.«
Jetzt lächelte er wieder, und diesmal hatte er dazu sogar die Pfeife aus dem Mund genommen, so dass seine Zähne zu sehen waren. Wenn er nicht so aasig gelächelt hätte, dann hätte Evelina Bosse dieses eine Mal sogar zustimmen können – dass sie eine schlechte Wahl getroffen hatte, dass eine schlechtere kaum möglich gewesen wäre. Denn wie sollte man das sonst nennen, wenn er einfach verschwand, vor ihren Augen, vermutlich mit irgendeiner Frau, die er gar nicht kannte, und die er aufgelesen hatte, wie man einen Grashalm aus dem Boden zieht.
Naja. Vor ihren Augen, das war wohl etwas übertrieben. Dann würde sie ja nicht hier sitzen und Bosse Fragen stellen, die sonst absolut unter ihrer Würde gewesen wären.
»Du weißt also nicht, wo er hingegangen ist?«
Bosse lachte vor sich hin und erhob sich vom Sofa. Streckte sich und gähnte.
»Fahr nach Hause, Lina. Worauf wartest du denn noch?«
Ja, worauf? Dass er wie ein Springteufelchen hinter dem Türpfosten auftauchte, um ihr dann um den Hals zu fallen?
Sie litt sonst nie unter Schwermut, aber jetzt fühlte sie sich wie gelähmt. Sie hatte nicht einmal gesehen, dass er gegangen war. Das war wirklich übel, wenn sie es sich genauer überlegte. Eine Sauerei, Evelina Palm so zu behandeln.
»Ja, dann werd ich wohl nach Hause fahren«, sagte sie. Fauchte sie. Sprang auf und wünschte, sie hätte mehr als nur eine Kippe auf dem Boden ausgedrückt. Das wäre Bosse nur recht geschehen, denn auf irgendeine Weise hatte sie das Gefühl, dass er an allem schuld war.
»Danke für die nette Einladung«, murmelte sie dann, während sie sich die Tasche über die Schulter warf und auf die Tür zuging, die noch immer weit offen stand, nachdem alle anderen Gäste hinausgetorkelt waren.
Sie lief zu ihrem alten grünen Wagen, der ein Stück entfernt im Gras stand. Als sie die Tür öffnete, hörte sie einen lauten Donner. Sie ließ sich auf den Sitz fallen, hatte das Gefühl, noch immer den Duft seines Rasierwassers wahrnehmen zu können. Einen unverkennbaren Hauch von Zitrone. Aber vielleicht war das ja auch Einbildung. Was wusste denn sie. Vielleicht hatte ihr eifriges Gehirn die gesamten Ereignisse dieser Nacht zusammenphantasiert. Und vielleicht wollte ihr Gedächtnis sie an der Nase herumführen.
Nun legte das Gewitter richtig los, ein Wolkenbruch zwang sie dazu, einige Minuten am Wegesrand stehen zu bleiben. Als das Schlimmste vorüber war, fuhr sie schneller, mit Wut im Bauch. Der nasse Kies spritzte hinter ihr hoch, der alte Sitz ächzte und jammerte. Für einen kurzen Moment glaubte sie, jemanden am Straßenrand stehen zu sehen, jemanden, der zur Hälfte im Straßengraben verschwunden war. Aber die Scheinwerfer jagten hastig und trügerisch über den Boden, die wolkenverhangene Dunkelheit war kompakt, und auf nichts war wirklich Verlass. Vielleicht war es nur ein Schild gewesen, irgendeine Abzweigung. Er jedenfalls war es nicht. Sie fluchte und biss sich in die Lippe. Sah noch einen Blitz, diesmal jedoch in der Ferne.
Erst, als sie endlich zu Hause war und unter die Decke kroch, hörte der Regen auf. Endlich, dachte sie. Sie schaltete die Nachttischlampe aus, und das Zimmer wurde von der Straßenlaterne draußen beleuchtet. Die Stille nach dem Regen war angenehm.
Es war schon lange nach Mitternacht. Die Frau und der Mann saßen im Garten hinter dem Haus. Auf dem Tisch stand eine brennende Kerze. Die Mittsommernacht war in den Mittsommertag übergegangen, und die Wolken am Himmel lockerten sich langsam auf.
»Du bist lange weggeblieben«, sagte die Frau.
Der Mann sah sie an, sie konnte seinen Blick nur ahnen. Glaubte zu sehen, wie er auswich. Aber sicher war sie sich nicht.
»Ich war hier«, sagte er. »Unten im Schuppen.«
»Da war kein Licht«, sagte sie. »Hast du im Dunkeln gesessen? Was hast du gemacht?« Sie sah seine Hände an. »Hast du gemalt?«
»Gemalt?«, fragte er überrascht.
»Ja. Hast du?«
»Nein, heute Abend nicht. Wieso fragst du?«
»Nur so. Hat mich eben interessiert.«
Sie ließ sich in den Holzstuhl zurücksinken.
»Das hier ist der längste Tag im Jahr«, sagte sie. »Oder die kürzeste Nacht.«
»Nicht ganz«, sagte er.
»Wie meinst du das?«
»Der längste Tag im Jahr ist schon drei Tage her.«
»Seltsam«, murmelte sie.
Wieder glitt ihr Blick zu seinen Händen.
»Was denn?«
»Ich dachte ... ich meine, ich bin einfach nicht auf die Idee gekommen, dass du dort unten sitzen könntest.«
»Ich aber«, sagte er.
Sie schaute zum Himmel hoch.
»Das Gewitter ist jetzt vorbei, du kannst ganz beruhigt sein, das Unwetter hat sich verzogen.«
Erst nach vier Tagen beschloss Evelina Palm, in Erfahrung zu bringen, was eigentlich passiert war. Wohin der Typ verschwunden war. Erst am Dienstagmorgen also schluckte sie ihren Stolz hinunter und schaute auf dem Weg zur Arbeit an seinem Frisiersalon vorbei. Sie hielt die Hände wie Scheuklappen an ihre Schläfen und schaute durch das Fenster. Drinnen war alles leer. Kein Mensch zu sehen, Stühle und Spiegel im Dunkeln. An der Tür hing ein weißer Zettel mit der Aufschrift »Geschlossen«, er hing an zwei dünnen weißen Fäden.
Evelina Palm wollte an diesem Morgen nicht zu spät in den Laden kommen, in dem sie für einen ihrer Ansicht nach erbärmlichen Lohn arbeitete. Gelinde gesagt. Die Gewerkschaft hätte getobt, aber Evelina Palm war nun einmal kein Mitglied irgendeiner Gewerkschaft, weil sie fand, es gebe wichtigere Dinge im Leben. Außerdem war gerade das eine Voraussetzung dafür gewesen, dass sie diesen Job bekommen hatte. Mieses Gehalt für einen miesen Job. Aber sie biss die Zähne zusammen, Arbeitsstellen wuchsen zur Zeit ja nicht auf den Bäumen.
Jetzt hatte sie lange genug wie eine Idiotin vor dem Laden gestanden und die silbernen Mobiles angestarrt, die an ihren Plastikfäden still hinter dem Fenster des Frisiersalons hingen. Sie hatte überhaupt nicht damit gerechnet, dass hier geschlossen sein würde, als sie diesen Umweg geplant hatte. Sie hatte zur Tür hineinschauen und hallo sagen wollen. Einfach so. Und Jonas hätte sich dann eilig und überrascht umgedreht, mit einer Erklärung auf der Zunge, die er nicht laut aussprechen konnte, weil Kundschaft in dem Stuhl saß, hinter dem er mit Schere, Kamm und Haarspray in der Hand gerade stand. Evelina hatte nur hallo sagen wollen, hier bist du also, wir haben uns ja doch gefragt, was aus dir geworden ist, und dann wäre sie gegangen, mit einem munteren Lächeln vorbei an seinem Fenster mit den silbernen Scheren, und hätte ihn mit offenem Mund dort stehen lassen. Das wäre ihm recht geschehen. Er konnte ruhig ein schlechtes Gewissen haben, nachdem er das Fest verlassen hatte, ohne ihr auch nur ein Wort zu sagen.
Aber es war anders gekommen.
Evelina Palm überkam das unangenehme Gefühl, dass hier etwas nicht stimmte. Konnte ihm etwas passiert sein? Es war doch seltsam, dass er sich so gar nicht bei ihr gemeldet hatte. Und dass er nun auch nicht im Laden war. Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass er etwas über einen Urlaub gesagt hätte. Einige Minuten lang trat sie vor seiner Tür von einem Fuß auf den anderen, aber das führte nur dazu, dass sie noch viel später in den verdammten Laden kommen würde, wo alles viel zu schweineteuer war, um irgendwelche Kundschaft anzulocken.
Sollte sie etwas unternehmen? Die Polizei anrufen? Sie setzte sich in Bewegung und ihre Absätze klapperten über den Asphalt. Allerdings kannte sie ihn eigentlich nicht sonderlich gut, und sie hatte keine Ahnung von seinem sonstigen Bekanntenkreis. Und deshalb, beschloss sie und hob den Kopf, als sie in einem Schaufenster ihr Spiegelbild entdeckte, deshalb wäre es doch idiotisch, ihn als vermisst zu melden. Die Sache an die große Glocke zu hängen. Wo er doch vermutlich einfach nur verreist war. Ja, sie hatte sich einfach in ihm getäuscht, das stand jetzt fest.
Aber dennoch.
Etwas machte Evelina Palm zu schaffen, und sie begriff nicht, warum. Auch später an diesem Tag, als sie in dem rot tapezierten Laden hinter dem Tresen stand, ohne auch nur ein einziges Kleidungsstück verkauft zu haben, obwohl es schon nach drei war, als sie also dort stand und ihre frisch gefeilten Nägel betrachtete, hier einen Rest wegblies und dort ein wenig überflüssigen Nagellack wegkratzte, war dieses Gefühl des Unbehagens nicht verschwunden. Sondern eher noch gewachsen. Es war leichter gesagt als getan, einen kühlen Kopf zu behalten, wenn man acht Stunden lang nichts anderes zu tun hatte, als Kleiderbügel zu sortieren, Leuten am Telefon klarzumachen, dass sie die falsche Nummer erwischt hatten, und sich unter dem Neonlicht über dem Tresen die Nägel zu feilen und zu lackieren.
Um fünf Uhr fühlte Evelina Palm sich so wenig wohl in ihrer Haut, dass sie beschloss, den Laden dichtzumachen und nach Hause zu gehen. Wenn wider Erwarten die Besitzerin vorbeischaute, konnte sie ja immer noch Kopfschmerzen vorschützen. Sie strich ihren kurzen Rock glatt, zupfte ein Haar weg und beschloss, auf demselben Weg nach Hause zu gehen, auf dem sie hergekommen war, vorbei an Jonas’ Frisiersalon.
Als sie zum zweiten Mal an diesem Tag am Salon Klipp-it vorbeikam, konnte sie nur feststellen, dass sich seit dem Morgen anscheinend nichts geändert hatte. Sie wollte schon weitergehen, als ihr doch etwas auffiel. Nur eine Kleinigkeit, aber seltsam war es eben doch. Der handgeschriebene Zettel hing nicht mehr an der Tür. Als sie durch das Fenster schaute, sah sie ihn auf dem Boden liegen.
Hier stimmt etwas nicht, dachte sie. Eigentlich hatte sie mittlerweile beschlossen, den Typen als Trottel abzuhaken und auf ihn zu pfeifen. Aber die Sache ging ihr nicht aus dem Kopf, saß wie ein unangenehmes Kitzeln in ihrem Rücken – das Gefühl, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zuging.