Читать книгу Der Sommernachtsmörder - Marianne Berglund - Страница 6
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ОглавлениеEs war noch deutlich vor sechs am Freitag, dem 29. Juni, als Kriminalinspektor Erik Sander seine Jacke von der Stuhllehne nahm, um nach Hause zu gehen. Er freute sich, weil er so früh fertig war, dass er sich auf dem Heimweg nicht beeilen musste. Dieses eine Mal, dachte er, und schob die Arme in die Jacke.
Dann hörte er ein leises Klopfen an der Tür.
Mit der Aktentasche schon in der Hand schaute Sander überrascht auf.
»Ja?«, fragte er. Als nichts passierte, sagte er etwas lauter: »Herein.«
Die Frau, die vorsichtig seine Tür öffnete und das Zimmer betrat, mochte um die siebzig sein, sie atmete schwer, trug einen schockrosa Nylonmantel, hatte einen großen Busen und mindestens drei Kinne. Ihre blondierten Haare umgaben ihren Kopf wie Zuckerwatte. Ihre Augen waren klein und farblos und zur Hälfte hinter schweren Augenlidern verborgen, ihre Lippen waren bleich und schmal, und zwischen ihren Vorderzähnen klaffte ein Spalt.
Sander seufzte lautlos. Die Frau kam ihm irgendwie bekannt vor, er konnte jedoch nicht sagen, warum.
»Worum geht es?«, fragte er.
»Ich glaube, mein Nachbar ist verschwunden«, sagte sie mit leiser Stimme.
Erik Sander räusperte sich, ging widerwillig zurück zum Schreibtisch, setzte sich hin und forderte die Frau mit einer Handbewegung auf, es ihm nachzutun. Sie blieb stehen. Er ließ sich im Bürostuhl zurücksinken und versuchte gelassen, ihren Blick zu erwidern.
Irre gibt es genug, dachte er. Warum er das dachte, wusste er auch nicht so genau, vielleicht lag es einfach nur daran, dass ihre Mundwinkel so zitterten. Er fühlte sich plötzlich schlecht. Wie kam er dazu, sich ein Urteil über diese Frau zu erlauben?
»Ach. Und warum glauben Sie, dass Ihr Nachbar verschwunden ist?«
»Warum ich das glaube?«
Die Frau sprach mit einer Spur von einem nördlichen Akzent, aber der war wirklich sehr verwässert. Offenbar war sie schon vor langer Zeit von dort weggezogen. Sie spitzte den Mund, der nun aussah wie eine in weißen Teig gedrückte Rosine.
»Ja, wann ... äh, haben Sie das entdeckt?«
»Gestern.«
Sander konnte einen weiteren Seufzer unterdrücken. Er drehte den Stuhl halbwegs herum, zum Bildschirm hin, und ließ seine Finger über die Tasten gleiten.
»Aha. Dann brauche ich einige Auskünfte. Wie heißt Ihr Nachbar?«
Seine Stimme hatte automatisch einen militärischen Klang angenommen, der ihm eigentlich überhaupt nicht gefiel. Die Frau biss sich auf die Lippe.
»Himmel, was hat denn das mit dem Fall zu tun?«
Sander schaute die Tastatur an, seine Finger schienen nicht gehorchen zu wollen. Er mahnte sich zur Ruhe. Langsam atmen, die Schultern senken.
»Aber wir müssen doch wissen, nach wem wir suchen sollen«, sagte er.
Die Frau starrte ihn misstrauisch an.
»Reicht es denn nicht, wenn Sie wissen, wie er aussieht?«
»Naja, vielleicht nicht so ganz.«
Sander gelang ein Lächeln. »Also, wie heißt er?«
»Hören Sie, junger Mann, ich bin nicht hergekommen, um ...«
Sander seufzte nun doch. Zeitverschwendung. Unnötige Arbeit. Aber na ja, wenn es die Frau beruhigen konnte, dann bitte. Wenn es nur schnell ging.
»Wir brauchen seinen Namen, wenn wir nach ihm suchen sollen. Oder wie sehen Sie das?«
»Ich glaube, Sie nehmen mich nicht ganz ernst«, sagte sie plötzlich leiser.
»Ach, und warum sollten wir das nicht tun?«
»Im Moment kann man doch kaum jemandem vertrauen.«
Sander spürte, wie seine Wangen zuckten. Er versuchte, sich zusammenzureißen. Die Frau starrte ihn aus ihren Schneckenaugen wütend an.
»Aber wollen Sie denn nicht fragen, wie er aussieht?«
»Doch, natürlich. Wie sieht er aus?«
»Dunkle Haare, so an die eins achtzig, schätze ich, ist meistens schwarz gekleidet.«
Sander schrieb. »Weitere Kennzeichen?«
»Ja. Oft hat er die Haare im Nacken zusammengebunden.«
»Das haben Sie sich ja gut gemerkt.«
»Wir wohnen auf derselben Etage. Ich sehe ihn morgens immer.«
»Wissen Sie, wie alt er ist?«
»Tja, so um die fünfunddreißig, vielleicht vierzig. Glauben Sie, Sie können ihn finden?«
»Ich glaube sicher, dass er wieder auftauchen wird, ja.«
Die Frau schaute sich um, zog scharrend den Besuchersessel über den Boden, ließ sich hineinsinken und atmete dabei so heftig aus, dass alle Papiere vom Schreibtisch geweht worden wären, wenn sie etwas tiefer gesessen hätte. Jetzt aber traf der Luftstrom direkt auf Sanders Gesicht, und instinktiv wandte er sich ab. Der Bildschirm flackerte ein wenig. Früher war alles besser gewesen, mit Formularen, Kugelschreibern und Ordnern. Jetzt, nach einem langen Tag am Bildschirm, brannten seine Augen und er fühlte sich ungeheuer müde. Mit Mühe und Not konnte er ein Gähnen unterdrücken.
»Wie haben Sie bemerkt, dass Ihr Nachbar verschwunden ist?«
»Ich sehe ihn morgens, wenn er losgeht, wie gesagt. Aber das ist jetzt nicht mehr der Fall.«
»Dann ist er vielleicht verreist?«
»Das wüsste ich doch. Wenn er sonst verreist war, und sei es nur für zwei Tage, hat er immer bei mir geklingelt und mir Bescheid gesagt. Es ist ihm nämlich sehr wichtig, dass seine Topfblumen versorgt werden.«
»Er kann diesmal doch jemand anderen darum gebeten haben«, sagte Sander.
Die Frau machte ein beleidigtes Gesicht.
»Das glaube ich nicht. Warum hätte er das tun sollen? Um seine Post kümmert sich jedenfalls niemand, denn als ich heute in den Briefkasten geschaut habe, war der ganz voll. Das fand ich komisch.«
Sander fuhr sich über die Stirn.
»Hat er denn irgendwelche schweren Krankheiten?«
Die Frau schnaubte kurz.
»Behaupten Sie, dass er tot in seiner Wohnung liegt?«
»Das kann leider vorkommen.«
Sie zuckte mit den Schultern und schaute zum Fenster hinüber. Draußen war es durch den Regen ungewöhnlich dunkel, und in der beschlagenen Scheibe spiegelte sich die Neonröhre.
»Er sieht jedenfalls ganz gesund aus.«
»Er ist also seit einigen Tagen verschwunden«, murmelte Sander. »Und er hat Ihnen nicht gesagt, dass er verreisen wollte?«
»Ich glaube nicht. Auch wenn meine Erinnerung nicht immer die beste ist. Wenn Sie verstehen, Herr Wachtmeister.«
Aber sicher, dachte er. Das verstehe ich nur zu gut.
Ein Jammertal, dachte er dann und warf einen Blick auf die Uhr. 17:46. Er hätte jetzt zu Hause sein und sich für den Abend fertig machen müssen. Es war Freitag, und zum ersten Mal seit drei Jahren wollten er und Henrietta ins Kino und danach essen gehen. Sie würde sich durchaus nicht freuen, wenn er nun schon wieder zu spät käme. Es wäre der dritte Freitag hintereinander, und vergangene Woche war auch noch Mittsommer gewesen. Sie hatte die Babysitterin wieder abbestellen müssen und hatte ihm anschließend vorgeworfen, sich absichtlich verspätet zu haben. Aber war es vielleicht seine Schuld, dass, als er gerade gehen wollte, dieser Irre hereingeplatzt war und sich als Mörder ausgegeben hatte? Und jetzt passierte schon wieder so etwas. Warum hatten sie sich ausgerechnet die Freitage ausgesucht, um ihn in den Wahnsinn zu treiben?
Die Frau sah ihn an und kniff dabei energisch die Lippen zusammen. Sie hatte jetzt rote Flecken auf den Wangen. Die standen ihr nun gar nicht. Bissen sich mit der rosa Kleidung.
»Wenn Sie wollen, dass wir Ihren Nachbarn suchen, müssen Sie seinen Namen und seine Adresse nennen. Sonst können wir nichts unternehmen. Leider.«
»Meine Güte. Was wollen Sie denn mit der Adresse? Er ist doch gar nicht zu Hause. Deshalb bin ich ja hier.«
»Wohnt er allein?«
»Er hat zwar ab und zu mal eine Frau dabei, aber so viel ich weiß, wohnt keine bei ihm. Allerdings hat er eine Katze. Die kommt und geht. Er lässt sie raus, und wenn sie dann vor der Tür steht, geht er nach unten und lässt sie wieder rein.«
Wieder spitzte sie verärgert die Lippen und presste die Hände auf eine kleine Handtasche aus offenkundigem Kunstleder.
»Haben Sie die Katze gesehen, als Sie durch den Briefkastenschlitz geschaut haben?«
Warum um alles in der Welt musste er danach fragen? Besser wäre doch wohl gewesen, die Alte dahin zu schicken, wo sie hingehörte. Er hatte wirklich keine Lust, hier den Irrenarzt zu spielen.
»Nein, die ist meistens unterwegs.«
Nach Hause, dachte er. Und nicht erst um Viertel nach sechs und Henriettas Gesicht sehen müssen, wenn sie sich weigerte, ihn anzusehen. Er konnte sie ja verstehen, er hatte unendliches Verständnis, aber was half das, wenn sie sich weigerte, ihm zu glauben?
»Sie haben nicht zufällig einen Zweitschlüssel für seine Wohnung?«
»Den hatte ich nur im Winter, als ich bei ihm Blumen gießen sollte.«
»Na dann ...«, Sander fuhr sich mit zwei Fingern übers Kinn und spürte seine Bartstoppeln, die seit dem Morgen wieder ein wenig gewachsen waren. »Das findet sich schon alles. Die meisten Verschwundenen sind eigentlich gar nicht verschwunden. Sie tauchen wieder auf, als sei nichts passiert.«
»Ach was«, murmelte die Frau. »Aber es ist ja auch nicht meine Aufgabe, ihn zu suchen. Irgendwas müsst ihr für unsere Steuern ja wohl auch tun.«
Erik Sander erhob sich, in der Hoffnung, die Frau werde seinem Beispiel folgen. »Dann danke ich für Ihre Auskunft. Wenn Sie sich die Sache anders überlegen und uns doch noch seinen Namen verraten mögen, dann machen Sie uns die Sache damit sehr viel leichter.«
Es war vier Minuten vor sechs, und auch wenn er die Jacke vom Bügel risse und in einem Rekordtempo geradewegs nach Hause führe, wäre der Kinoabend doch unwiderruflich verdorben.
Sie stand jetzt an der Tür mit ihrem grellen Nylonmantel, der sie einhüllte wie eine zerknitterte Decke. An den Füßen trug sie schmutzige Turnschuhe und weiße, über schwarzen Strumpfhosen aufgerollte Tennissocken. Wieder kam sie ihm auf irgendeine Weise bekannt vor. Wie um dieses Gefühl zu vertreiben, wandte er sich für einige Sekunden ab. Als er dann wieder zur Tür blickte, war sie verschwunden.
Erik Sander schaltete den Computer aus und schob seinen Stuhl an den Tisch. Er schaute auf die Uhr. 17:58. Der Film fing um halb sieben an. Auf seinem Weg über den Flur warf er einen vorsichtigen Blick durch Egon Eskilssons gläserne Zimmertür. Egon saß an seinem Schreibtisch und beugte sich über eine Zeitschrift. Vor sich hatte er ein Butterbrot und einen dampfenden Becher mit Kaffee. Die Schreibunterlage war von Krümeln übersät, es war also offenbar nicht sein erstes Brot. Er zuckte zusammen, als er hörte, wie die Tür geöffnet wurde.
»Hier sitzt du also, und das in aller Seelenruhe.«
Sander konnte sich nicht beherrschen. Eskilsson schaute auf und räusperte sich.
»Ich bin gerade erst gekommen und hatte eben Hunger, das verstehst du doch.«
Die Wangen des Kollegen röteten sich ein wenig. Dass Eskilsson sich im Büro lieber in die Lokalpresse vertiefte als in Protokolle, war kein Geheimnis. Dass er inzwischen bisweilen ohne Entschuldigung zu spät kam und manchmal vorzeitig Feierabend machte, war auch bekannt. Aber wirklich zu interessieren schien das alles niemanden, vielleicht, weil ihn nur noch ein gutes halbes Jahr von der Pensionierung trennte. Ein Ereignis, auf das nicht nur er sich freute, auch wenn niemand das sagte.
»Ich hatte Besuch von einer Frau, die behauptet hat, ihr Nachbar sei verschwunden«, sagte Sander.
Er hatte den Kopf durch die Tür gesteckt.
Mit voll gestopften Backen schaute Eskilsson ihn an. »Du siehst gestresst aus«, sagte er, nachdem er geschluckt hatte. »Irgendwas Besonderes?«
Sander schüttelte den Kopf.
»Nein, nichts. Ich hab’s nur ein wenig eilig.«
»Dann steh hier doch nicht rum.«
»Werd ich auch nicht. Ich wollte dir nur erzählen, dass die Frau keinen Namen nennen wollte, deshalb können wir nichts unternehmen. Sie kam mir wirklich ein bisschen seltsam vor.«
»War der Nachbar zwanzig und über Nacht ausgeblieben oder was?«
»Er scheint eher um die vierzig zu sein und hat sich seit einigen Tagen nicht mehr blicken lassen. Aber er kann verreist sein, das wusste die Frau nicht. Und wie gesagt, einen Namen weiß ich nicht. Das war alles ein bisschen verworren.«
Eskilsson hielt mitten im Kauen inne. »Verdammt, wieso wollte sie keinen Namen nennen!« Er schüttelte den Kopf und kaute weiter, schaute verstohlen zu Sander hinüber und stopfte sich dann den letzten Bissen Brot in den Mund.
»Wie gesagt, ich hab’s ein bisschen eilig. Ich muss jetzt los. Aber wenn sie sich noch einmal meldet, dann bist du informiert. Bei solchen Leuten weiß man doch nie.«
Sander warf noch einen Blick auf die Uhr, obwohl er wusste, dass es keinen Zweck haben würde, sich jetzt noch zu beeilen.
»Dann geh doch endlich. Was ich übrigens auch bald tun werde.«
Eskilsson.
Eskilsson beschrieb eine halbe Drehung mit seinem Schreibtischstuhl, faltete die Zeitung zusammen und trank den Rest des noch immer dampfenden Kaffees. Als er sich dann umdrehte, war Erik Sander verschwunden. Nur seine Schritte waren im Gang noch zu hören. Eskilsson hob die Augenbrauen und wollte sich schon seinem Computer zuwenden, überlegte sich die Sache dann aber anders und zog die Zeitung hervor, deren Sportseiten noch immer aufgeschlagen waren.
Märta Olofsson saß mit einer zerknitterten Plastiktüte auf einer Bank im Gunillapark und sah den Vögeln zu. Sie hatte ihnen altes Brot mitgebracht, und die Vögel langten zu wie mitten im Winter, obwohl Mittsommer doch erst eine Woche zurücklag.
Sie seufzte. Sie bereute, was sie getan hatte, aber jetzt war es zu spät. Sie hatte die eleganten Türen der Wache gerade erst hinter sich gebracht, als ihr auch schon Zweifel gekommen waren, ganz zu schweigen von später, als sie bei diesem Polizisten gesessen hatte, der ihr auf irgendeine Weise bekannt vorgekommen war und der sie anstarrte und ihr Fragen stellte, auf die sie plötzlich einfach nicht antworten konnte.
Wie dumm von ihr. Was ging das Ganze sie überhaupt an? Vielleicht hatte sie einfach nur zu wenig zu tun? In letzter Zeit hatte sie oft herumgesessen und darauf geachtet, wann die Nachbarn kamen und gingen, hatte in den Hausflur hinaus gelauscht. Sie hatte das Radio satt, sie mochte nicht mehr am Küchentisch sitzen und das gegenüberliegende Haus anstarren. Das andere war besser, auf irgendeine Weise fühlte sie sich so näher am wirklichen Leben. Und dann war ihr aufgefallen, dass es in der Wohnung gegenüber so still war.
Aber eigentlich ging das alles sie überhaupt nichts an. Sie stand auf und blickte zur Bushaltestelle hinüber. Wie peinlich, der Polizist hatte ihr nicht geglaubt, aber es war zu spät gewesen, als sie auf seiner Türschwelle gestanden hatte, er war außerdem viel zu gestresst gewesen. Ja, die Polizei hatte sicher viel zu tun, man hörte ja, dass in der Stadt so viel passierte, und dann kam auch noch sie und sagte etwas, das sie nichts anging und das sie außerdem gar nicht hatte sagen wollen.
»Sjögren« stand an der Tür. Sie dachte an den jungen Mann. Er sah sympathisch aus. Sie beobachtete ihn immer heimlich durch ihren neuen Türspion. Er nickte ihr zu, wenn er sie sah, hatte sogar einmal zu dem Türspion hin genickt, als wisse er, dass sie dort stand. Wenn sie einander im Treppenhaus begegneten, lächelte er sie immer an, machte gelegentlich eine Bemerkung über das Wetter. Und einmal, als er verreisen wollte, hatte er sie gebeten, seine Blumen zu gießen. Ja, das hatte er wirklich getan. Er hatte gesagt, seine Topfblumen seien ihm wichtig, und zum Dank hatte er ihr die Haare neu gelegt, ganz umsonst. Er arbeitete als Friseur. Hatte sogar seinen eigenen Salon. Und jetzt war er wieder verreist. Und niemand kümmerte sich um seine Blumen oder seine Post. Drei Tage lang hatte vor seiner Tür ein großer Brief gelegen. Am Ende hatte sie den in den Briefschlitz gesteckt, und dabei hatte sie gesehen, dass unten schon sehr viel Post herumlag. Ja, das war wirklich seltsam. Aber welches Recht hatte sie, sich einzumischen?
Märta Olofsson erhob sich. Ging langsam über den schmalen Parkweg zur Bushaltestelle. Warf die Brottüte in den Papierkorb. Bald würde der Bus nach Andersberg fahren, und dann würde sie wieder zu Hause sein. Sie würde sich mit einer Tasse Kaffee an den Küchentisch setzen und diesen peinlichen Zwischenfall so rasch wie möglich vergessen.
Als Henrietta Sander sich an diesem Freitagnachmittag über ihre Spülmaschine beugte, um das benutzte Geschirr hineinzuräumen, stellte sie trocken, aber ein wenig enttäuscht fest, dass ihr Mann sich offensichtlich wieder verspätete und während der nächsten Stunden wohl nicht auftauchen werde. So war es schon dreimal gewesen, wenn sie beschlossen hatten, zusammen auszugehen, erst ins Kino und dann in irgendein Restaurant. Immer auf Eriks Vorschlag hin. Sie hatte zuerst gezögert, nicht, weil sie nicht gewollt hätte, sondern weil sie sich fragte, ob sie das überhaupt schaffen und ob sie nicht viel zu müde sein würden. In letzter Zeit hatten sie an den Abenden zumeist träge vor dem Fernseher gesessen und waren dann dort eingeschlafen.
Jetzt stand die Babysitterin in der Tür und trat in ihren viel zu warmen Turnschuhen von einem Fuß auf den anderen. Sie trug ein dünnes weißes Baumwollhemd mit einem roten Herzen. Die Kinder hatten schon aufgemacht und drängten sich nun lachend um die Beine des schmächtigen Mädchens; sie fanden es immer wunderbar, einige Stunden mit ihr allein zu sein, da das Mädchen sie, anders als die Eltern und vermutlich aus purer Gleichgültigkeit, auf dem Sofa herumhopsen und im Bett Purzelbäume schlagen ließ, bis ihre Gesichter glühten und ihre Haare schweißnass waren. Henrietta wusste das, wollte die Babysitterin aber nicht zurechtweisen. Wenn man mal jemand Zuverlässigen gefunden hatte, musste man sich alle Mühe geben, ihn zu halten, auch wenn sie den Kindern zu viele Freiheiten erlaubte.
»Komm rein«, sagte Henrietta, trocknete sich an einem Geschirrtuch die Hände ab und ging in die Diele. »Es wird wohl auch heute Abend nichts. Erik ist noch nicht zu Hause, und wenn er in zehn Minuten nicht da ist, dann schaffen wir es nicht mehr.«
Rebecka stand unschlüssig auf der Türschwelle und biss sich auf ihre rosa Lippe.
»Soll ich nach Hause gehen oder ...«
»Warte bitte noch. Man weiß ja nie. Und du wirst auf jeden Fall bezahlt, es ist ja nicht deine Schuld ...«
Nein, es war nicht die Schuld der Kleinen, dass Erik zum x-ten Mal so viel zu spät kam, dass Kinobesuch und Essen sich mal wieder erledigt hatten. »Wir holen das an einem anderen Freitag nach«, hatte Erik beim vorigen Mal gesagt, aber ohne ihr in die Augen zu schauen, und Henrietta schien es, dass er selbst nicht glaubte, was er da sagte. Seine Arbeit fraß immer mehr von den Abenden auf, während Henrietta sich zu Hause um alles kümmerte und die Kinder rechtzeitg ins Bett steckte. Oft kam Erik erst so spät, dass er ihnen nicht einmal mehr gute Nacht sagen konnte. »Wo ist Papa?«, fragten sie manchmal. »Der arbeitet«, antwortete Henrietta dann, und obwohl sie es nicht wollte, hörte sie doch ein gewisses Maß an Bitterkeit in ihrer Stimme mitklingen. Als beiße sie die letzte Silbe des Satzes ab, um sie dann wütend auf den Teppich zu spucken und zu zertrampeln. Als wolle sie auch Eriks Erklärungen und Ausflüchte zertrampeln und sagen, jetzt hör verdammt noch mal auf, so viel zu arbeiten. Ich oder die Arbeit, entscheide dich. Aber so weit kam sie nie, lief nur verärgert hin und her und starrte ihn wütend an. In der Hoffnung, dass er nun endlich begriff.
Ich bin zu nachgiebig, dachte Henrietta, ich zeige nicht, wie mir wirklich zumute ist. Und drückte Rebecka einen Hunderter in die Finger, die anstandshalber protestierte, sich aber sichtlich darüber freute, für gar nichts so viel bezahlt zu bekommen.
»Wir vergessen das für heute Abend«, sagte Henrietta und schaute in die großen, braunen, von zu viel Wimperntusche eingerahmten Augen. »Aber nächste Woche, vielleicht, wenn du dann Zeit hast?«
Rebecka nickte lächelnd, während Henrietta dachte, dass sie sich den letzten Satz hätte sparen können. Sie wusste nur zu gut, dass ihr Mann auch am nächsten und am übernächsten Freitag Überstunden machen würde. Und nur Gott, falls überhaupt, wusste, wie lange das noch so weitergehen würde.
Ab und zu, manchmal, wenn es abends so spät wurde, dass sie fast schon einsam vor dem Fernseher eingeschlafen war, ehe sie seinen Schlüssel im Schloss hörte, hatte sie darüber spekuliert, was er da eigentlich machte. Musste er wirklich arbeiten? Oder hatte er eine andere, war das mit der Arbeit nur ein Deckmäntelchen für etwas, das Henrietta in ihrer Naivität nicht durchschaute? In solchen Momenten schaute sie in den Spiegel und sah dort eine Frau mit viel zu schmalem Gesicht, mit eingefallenen Wangen und gerunzelter Stirn, die so leicht an der Nase herumzuführen war, dass sie jede Lüge schluckte, die ihr vorgelegt wurde. Sollte sie etwas sagen? Immer wieder wirbelten dieselben Fragen durch ihren Kopf, blieben aber zu vage, um wirklich Form anzunehmen. Darüber hinaus war sie sich nicht sicher, dass sie die Folgen der möglichen Antworten tragen wollte.
Also saß sie auch an diesem Abend brav da und wartete. Wenn auch die Wut irgendwo im Hinterkopf auf der Lauer lag. Als Erik Sander um zwanzig nach sechs mit tausend gestammelten Erklärungen und Entschuldigungen in die Diele trat, sah sie ihn kurz an, starr und durchdringend, und machte dann kehrt, ging ins Schlafzimmer der Kinder, sagte, die müssten jetzt ins Bett, hob das Pu der Bär-Buch vom Boden auf, putzte den beiden widerstrebenden Jungen die Zähne und steckte sie ins Bett. Nachdem Erik den Kindern gute Nacht gesagt hatte, fing sie an zu lesen. Die Geschichte von Pu dem Bären im Hundertmorgenwald machte sie ein wenig schläfrig, dämpfte den Zorn, der immer noch in ihr tobte, und versetzte nicht nur die Kinder, sondern auch sie selbst in eine seltsame Ruhe. Es war schon fast halb neun, als sie neben den schlafenden Kindern erwachte, überrascht, weil sie so schnell eingeschlafen war. Sie fühlte sich müde und schlaftrunken, zwang sich aber zum Aufstehen. Vielleicht kam ja etwas im Fernsehen. Als sie zum Sofa ging, war Erik nicht dort, war auch nicht in der Küche. Eine eben erst benutzte Kaffeetasse stand im Spülstein, Sie blickte hinter das Regal, das sie im Wohnzimmer als Raumteiler benutzten, und sah auf dem Bett seine Beine. Er hatte nicht einmal die Tagesdecke weggenommen, so schnell war er eingschlafen. Im Raum herrschte eine bleierne Stille. Viel später, als alles vorüber war, dachte sie, dass an diesem Abend vielleicht alles begonnen hatte, und dass diese Stille die Ursache dafür gewesen sei, dass alles so wurde, wie es eben geworden war.