Читать книгу Gisela und der Frauenarzt - Marie Louise Fischer - Страница 9

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Dr. Burg hatte zwölf Betten in der Klinik Professor Hartmann, die fast immer belegt waren. Auch wenn seine Anwesenheit dort nachts notwendig wurde, weil es Schwierigkeiten bei einer Geburt gab – die komplikationslosen übernahm seine Hebamme Liselotte Stoltow –, war er jeden Morgen Punkt sieben Uhr zur Stelle, um Eingriffe oder Operationen durchzuführen. Dabei assistierte Gisela ihm nicht, sondern eine Schwester aus der Klinik.

Aber zwei Stunden später erschien auch sie dort, um an der Visite teilzunehmen, die Dr. Burg durchzuführen pflegte, bevor er in seine Praxis fuhr. Gisela interessierte sich sehr für diesen Ruundgang durch die Krankenzimmer, denn sie hatte ja alle Patientinnen kennengelernt, noch bevor sie eingeliefert wurden.

Aber am nächsten Morgen platzte sie, ganz im Gegensatz zu sonst, fast vor Ungeduld. Später rannte sie, kaum daß sie das Wartezimmer aufgeschlossen hatte, in das Labor und rief: »Grüß dich, Inge! Wie steht’s mit dem Schwangerschaftstest?«

Inge Fritze, Dr. Burgs medizinisch-technische Assistentin, war eine sehr dünne junge Frau von dreiundzwanzig Jahren. Das ungeschminkte Gesicht, das sie tagsüber zur Schau trug, wirkte farblos, und sie trug das lange blonde Haar einfach im Nacken zusammengebunden. »Sieh selber«, sagte sie gleichgültig.

Das ließ Gisela sich nicht zweimal sagen. Sie wußte natürlich, worauf dieser einfach durchzuführende chemische Test beruhte: auf der Wirkung der Chiriongonadotropine – ein Wort, das sie noch nie auszusprechen gewagt hatte, weil sie fürchtete, sich dabei zu verhaspeln. Jedenfalls waren das Stoffe, die nur im Urin der Schwangeren vorkamen, und zwar schon zehn Tage nach Ausbleiben der Periode.

Inge Fritze hatte den Urin in ein Reagenzgläschen geschüttet, das in einem hölzernen Halter steckte, und eine bestimmte chemische Substanz zugesetzt – jetzt sah Gisela, die das Gläschen betrachtete, daß sich der typische kreisförmige Niederschlag gebildet hatte.

»Also doch!« rief sie. »Verdammtes Pech!«

Die Hände tief in die Taschen ihres kniefreien weißen Kittels geschoben, stand Gisela da und blickte mit weit geöffneten braunen Augen auf das Reagenzglas.

»Betrifft’s dich etwa persönlich?« fragte Inge, die medizinisch-technische Assistentin.

»Das hätte noch gefehlt!« Mit einem Seufzer wandte Gisela sich ab und eilte zur Tür, wobei sie prüfte, ob das Band, mit dem sie während der Arbeit das dunkelbraune Haar aus der hohen, leicht vorgewölbten Stirn zu halten pflegte, auch fest saß.

Es blieb keine Zeit mehr, in den Spiegel zu sehen, denn sie wußte, daß ihr Chef sie schon brauchte.

Eine halbe Stunde später brachte Inge den schriftlichen Befund in das Sprechzimmer. Giselas Augen hingen an Dr. Burgs männlichem, braungebrannten Gesicht, als er ihn überflog. Sie hoffte, er würde sich äußern und ihr so Gelegenheit geben, Ulrikes Situation zu schildern. Aber er sagte kein Wort. Gisela war sicher, daß die ehemalige Schubkameradin Hilfe brauchte, doch sie wußte nicht, wie sie ihm das beibringen sollte.

Den ganzen Vormittag dachte sie immer wieder an Ulrike. Kurz nach ein Uhr – Gisela wollte das Wartezimmer gerade schließen – erschien Ulrike, abgehetzt, die Schulmappe unter dem Arm.

Gisela zögerte keine Sekunde, sie noch einzulassen.

»Also, was ist?« fragte Ulrike nervös.

»Immer mit der Ruhe«, sagte Gisela statt einer Antwort und führte sie in das Sprechzimmer.

Dr. Burg hatte seinen weißen Kittel schon abgelegt; er trug ein am Hals offenes blaues Hemd und eine graue Hose. »Kommen Sie, kommen Sie!« drängte er.

»Ich konnte nicht früher kommen«, entschuldigte sich Ulrike, »es tut mir leid, aber …«

»Schon gut«, schnitt ihr der Frauenarzt das Wort ab, »bitte, setzen Sie sich!«

Ulrike blickte von Dr. Burg zu Gisela. »Der Test! Was hat der Test …«

Dr. Burg drückte sie in einen der Sessel der Sitzecke und rückte sich einen Stuhl so herum, daß er sich selber ihr nahe gegenüber setzen konnte; er nahm ihre beiden Hände.

»Also, Mädchen, jetzt heißt es tapfer sein.«

Ulrike riß sich los. »Es ist also wahr?« rief sie entsetzt.

»Ja.«

Ulrike sprang auf. »Das ist schrecklich! Es ist ganz entsetzlich! Ich kann doch kein Kind bekommen!«

Gisela legte ihr die Hand auf die Schulter. »Bitte, Ulrike, das bringt’s doch nicht.«

Ulrikes verstörte Augen füllten sich mit Tränen. »Aber ich kann kein Kind bekommen. Du kennst doch meine Situation.«

»Kein Grund, herumzutoben. Setz dich und sprich mit dem Doktor!«

Ulrike gehorchte und zwang sich zur Ruhe. »Du hast ja recht!« Sie fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. »Es ist ja auch alles halb so schlimm. Heutzutage braucht man kein Kind mehr zu bekommen, wenn man nicht will.«

Als niemand ihr zustimmte, blickte sie zu Gisela auf. »Es ist doch so, nicht wahr? Der Paragraph zweihundertachtzehn ist doch abgeschafft, ich weiß es.«

»Jetzt erzählen Sie uns erst mal, warum Sie das Kind nicht haben wollen«, sagte Dr. Burg.

Wieder sah Ulrike Gisela an. »Muß ich das?«

»Ja.«

»Aber ich dachte … ich könnte … das ginge jetzt ganz einfach …«

»Ein Schwangerschaftsabbruch wird niemals eine einfache Sache sein«, erklärte Dr. Burg ernst, »er bedeutet das Ende eines werdenden Lebens und nicht nur das: Wenn man die hormonelle Umstellung im Körper der Schwangeren unterbricht, bedeutet das einen sehr schweren Eingriff. Deshalb müssen wir überlegen …«

»Aber es ist doch jetzt erlaubt! Die Fristenlösung …«

»… ist auf eine Verfassungsklage verschiedener Länder hin ausgesetzt«, stellte Dr. Burg richtig, »das bedeutet: Wenn das Verfassungsgericht in Karlsruhe das Gesetz über die Fristenlösung ablehnt, werden Ärzte, die jetzt, solange die Sache noch nicht entschieden ist, eine Schwangerschaftsunterbrechung durchgeführt haben, nachträglich zur Rechenschaft gezogen.«

»Aber das ist doch gemein!«

»Darüber kann man verschiedener Ansicht sein!« Dr. Burg fuhr sich mit der gespreizten Hand durch sein dichtes blondes Haar. »Ich jedenfalls bin nicht Arzt geworden, um derartige Eingriffe durchzuführen. Ich will Leben erhalten und nicht töten.«

»Aber Sie töten mich ja, wenn Sie mir nicht helfen!« rief Ulrike. »Sie bringen mich um! Begreifen Sie das denn nicht?«

»Brüll hier nicht rum!« mahnte Gisela und legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter. »Aber sie steckt wirklich in einer furchtbar schwierigen Situation Herr Doktor!«

Ulrike riß sich los. »Ach, du hast keine Ahnung! Du weißt ja nicht, was mir passiert ist!«

»Na, wie wär’s, wenn Sie es uns erzählen würden«, schlug Dr. Burg vor.

»Ich schäme mich so!« Tränen begannen über Ulrikes Wangen zu laufen; sie versuchte, sie mit dem Handrücken abzuwischen.

Gisela versuchte, ihr das Geständnis zu erleichtern. »Du gehst doch mit Fred Liebermann?« sagte sie.

»Ich bin mit ihm gegangen.« Ulrike konnte vor Schluchzen kaum sprechen. »Aber seit mir das passiert ist, ist es aus zwischen uns. Er glaubt, weil ich nie mit ihm wollte, nicht das Letzte, ich hatte einfach Angst, und ich bin doch noch zu jung …«

»Sie hatten also zu diesem Fred keine intimen Beziehungen?« fragte Dr. Burg.

»Nein.«

Ulrike kam nicht gegen ihre Tränen an, und Gisela reichte ihr ein Papiertuch. Ulrike schneuzte sich heftig.

»Es war an einem Samstag«, berichtete sie, »ich war mit Fred zum Tanzen, in Wykersing beim Feuerwehrball, du weißt schon, Gisela. Aber länger als bis neun darf ich ja nicht dableiben, weil ich erst fünfzehn bin. Und mein Vater kontrolliert auch, wann ich nach Hause komme. Aber Fred sieht das nicht ein. Er hat das nicht eingesehen, und deshalb hat es Krach gegeben. Dann bin ich alleine raus. Ich wußte nicht, wie ich nach Hause kommen sollte, wir waren mit Freds Maschine da. Mit der sind’s ja nur zehn Minuten, aber zu Fuß wären es zwei Stunden gewesen. Und deshalb war ich ganz froh, als einer mich anquatschte. Er war mit dem Auto da und wollte mich heimbringen. Aber unterwegs …« Jetzt konnte Ulrike vor Schluchzen nicht mehr weiter sprechen.

»Hat er sich an dich herangemacht?« fragte Gisela.

»Er ist mit mir in den Wald gefahren. Ich habe mich mit Händen und Füßen gewehrt, geschrien habe ich, aber er hat mir die Hand aufs Gesicht gelegt, daß ich fast erstickt wäre. Er hat gedroht, er bringt mich um. Und er hätte es auch getan. Ich konnte mich einfach nicht gegen ihn wehren.«

»Er hat Sie vergewaltigt?« fragte Dr. Burg.

Ulrike nickte schluchzend.

»Und warum hast du es niemand gesagt?« fragte Gisela.

»Meinem Vater konnte ich damit nicht kommen. Ich war ja froh, daß er mich nicht gesehen hat. Und Fred habe ich es gesagt. Ich dachte, er würde zu mir halten, aber der … ganz wütend ist er geworden. Er hat mir nicht geglaubt, daß ich nichts machen konnte. Seitdem ist es aus zwischen uns.«

»Du hättest zur Polizei gehen sollen«, sagte Gisela.

»Ausgerechnet! Die hätten mir doch auch nicht helfen können!«

»Wer war denn der Mann?«

»Der Sattelmeier, der Jungverheiratete. Seine Frau hat damals ein Kind erwartet.«

»Großer Gott!« Gisela war jetzt so erschüttert, daß sie sich setzen mußte.

»Was würd’s mir denn nützen, wenn der vor Gericht käme? Und die ganze Stadt würde es erfahren?« Ulrike kämpfte mit ihren Tränen. »Ich wollte es mit mir allein ausmachen. Und ich habe doch nicht gewußt …«

»Eine Vergewaltigung«, sagte Gisela nachdenklich, »wäre das nicht ein Grund?«

»Eine sogenannte ethische Indikation«, stimmte Dr. Burg zu, »aber ich kann es trotzdem nicht machen. Nicht so einfach auf Ulrikes Erzählung hin. Wenn sie sofort gekommen wäre oder Anzeige erstattet hätte …«

»Glauben Sie mir etwa nicht?« rief Ulrike.

»Sie müssen doch verstehen, warum sie das nicht getan hat, Herr Doktor«, sagte Gisela.

»Das schon«, gab er zu, »aber ich kann es trotzdem nicht machen.«

Jetzt setzte Gisela alles auf eine Karte. »Ich glaube, Sie haben Angst, Professor Hartmann könnte es übelnehmen«, behauptete sie herausfordernd.

Dr. Burg blieb gelassen. »Übelnehmen? Das ist schwach ausgedrückt. Sie wissen genau, daß Professor Hartmann die Fristenlösung ablehnt und jede Schwangerschaftsunterbrechung an seiner Klinik streng untersagt hat. Und da erwarten Sie, ich soll den Helden spielen?«

»Also doch.«

»Es ist nicht der Hauptgrund, Gisela«, sagte er ruhig, »aber ein Grund ist es schon. Ich brauche die Betten an Professor Hartmanns Klinik. Wenn er sie mir aufkündigt, kann ich meine Praxis schließen.«

»Er braucht es ja nicht zu erfahren!« meinte Gisela.

»Ich werde niemand ein Wort davon verraten«, versprach Ulrike hoffnungsvoll.

Dr. Burg hob abwehrend die Hände. »Genug davon. Ich werde es mir überlegen. Mehr kann ich beim besten Willen nicht versprechen. Kommen Sie morgen wieder. Gisela gibt Ihnen einen Termin.«

Damit war das Gespräch beendet. Ulrike blieb nichts anderes übrig, als sich zu verabschieden.

Gisela und der Frauenarzt

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