Читать книгу Der Verachtete - Marieke Hinterding - Страница 5

Es war 7 Uhr dreißig,

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sein Termin bei der Arge war um 9 Uhr fünfzehn. Wenn er den Bus um 8 Uhr dreißig nahm, war er um 9 Uhr an der Marienstraße. Noch eine Stunde Schonfrist, ehe er aufbrechen musste...-

8 Uhr 27. Udo stand seit drei Minuten wartend an der Bushaltestelle. Nervös lief er auf und ab, umkreiste das Wartehäuschen in kleinen Schritten, immer wieder. Die wenigen Minuten bis zur Ankunft des Busses kamen ihm endlos vor. Dann endlich fuhr der Bus an. Udo zog noch einmal hastig an seiner halb aufgerauchten Zigarette, warf sie dann achtlos zu Boden kramte seine Geldbörse hervor, stieg ein und verlangte ein Vierer Ticket.

„Macht acht Euro vierzig“, sagte der Fahrer. Udo wurde blass. Damit hatte er nicht gerechnet: Die Fahrpreise waren erhöht worden!

Letzten Monat kostete das Ticket noch acht Euro zwanzig. Und nur genau so viel Geld hatte er in seinem Portmonee, 8 Euro zwanzig, nicht einen Cent mehr und nicht einen Cent weniger; denn seit er in der Stadt einmal um sein ganzes Wochenbudget bestohlen worden war, trug er , wenn er dort Erledigungen wie Ämterbesuche machen musste, nur noch abgezähltes Geld mit sich herum.

„Entschuldigen Sie bitte“, sagte er zum Fahrer. „Ich war im Gedanken. Ich wollte eigentlich nur ein Ticket mit Rückfahrschein.“

Der Fahrer schnaubte. „Jetzt hab` ich schon das Vierer-Ticket verbucht. Haben Sie gut geschlafen, kann ich da nur sagen.“ Wütend legte der Busfahrer das Ticket auf die Ablage: „Vier Euro 20.“

Udo bezahlte mit seinem Fünf-Euro Schein. Gut, dass er den noch hatte und den Fahrpreis nicht mit lauter Münzen bezahlen musste! Mit einem Schein machte man doch einen viel besseren Eindruck und niemand würde auf die Idee kommen, dass sein Geld für ein Vierer Ticket nicht langte, da war sich Udo sicher. Scheinbar achtlos steckte Udo das Restgeld in seine Hosentasche, entwertete den Fahrschein und setzte sich auf einen der freien Plätze ans Fenster.

Udo lehnte seinen Kopf an die Fensterscheibe und schaute gedankenverloren hinaus. Sein Blick streifte die vielen Reklametafeln, an denen der Bus nun in schnellem Tempo vorbeizog. “Fliegen Sie mit uns in den sonnigen Süden! Traumziele in der Karibik, jetzt schon ab sensationellen 2480 Euro! Buchen Sie jetzt!“, stand dort in dicken Lettern und darunter waren wohlgeformte und knackig braungebrannte Bikinischönheiten abgebildet.

2480 Euro! Udo rechnete: Das war die Leistung der Arbeitsagentur für mehr als drei Monate, inklusiv Miete für seine kleine Zweizimmerwohnung.

Wer hatte so viel Geld? Udo jedenfalls kannte niemanden persönlich, nur hin und wieder begegneten ihm in der Nachbarschaft oder beim Einkaufen Menschen, deren teuer aussehende Kleidung ihn vermuten ließ, dass sie zu den betuchteren Klasse der Gesellschaft zählten. Aber er wusste auch, dass es sich anhand dieser Indize nur um eine Spekulation seinerseits handeln konnte.

Konnte man nicht heutzutage erstklassige Kleidung zu Spottpreisen bei eBay ersteigern? Handfester wurden seiner Meinung nach die Beweise für viel Geld, wenn er einem vermeintlich Reichen beim Einkaufen in den Einkaufswagen schielte. Manche Leute schienen tatsächlich das Geld für Originalmarken auszugeben, egal ob Nussnougatcreme, Waschpulver oder gar Zigaretten. Und dann bezahlten sie an der Kasse ohne mit der Wimper zu zucken, ihre hohe Rechnung ganz selbstverständlich mit einer Kreditkarte. Udo seufzte: Einmal bei Netto einkaufen, ohne rechnen zu müssen, das würde wohl auf unabsehbare Zeit ein unerfüllter Wunschtraum bleiben! Udo genoss die Wärme der Heizung am Fenster und wünschte sich, die Zeit bliebe stehen und der Bus würde sein Ziel nie erreichen, aber es waren jetzt nur noch zwei Stationen bis zur Marienstraße.

Gnadenlos schnell steuerte der Bus Udos Ziel an und Udo sprang schließlich auf. Mit zugeschnürter Kehle stieg er aus und zündete sich noch eine selbst gestopfte Zigarette an. Jetzt waren es nur noch wenige Fußminuten bis zur Arge und obwohl Udo, um den Termin hinauszuzögern, am liebsten in Zeitlupe gelaufen wäre, zwang ihn seine Uhr zum zügigen Gehen.

Schließlich war es Punkt 9 Uhr, als Udo S vor der Agentur für Arbeit in Neuss stand. Leute kamen und gingen und endlich, als er den letzten Zug von seiner Kippe genommen hatte, betrat auch Udo das Gebäude.

Udo nahm den Aufzug in die zweite Etage und stieg aus. Es hatte sich bereits eine lange Schlange vor der Anmeldung gebildet und er rechnete mit mindestens zehn Minuten Wartezeit.

Nur hier, bei der Agentur für Arbeit, stand er wirklich gerne am hintersten Ende einer Schlange, gewährte ihm die Wartezeit dort doch wenigstens ein paar Minuten länger Aufschub vor der ,von ihm stets als quälend empfundenen, Vorsprache im Büro der Sachbearbeiterin.

Ja, Frau B war eine scharfe Wächterin über die neuen Hartz 4 Gesetze , ihren Adleraugen schien nichts zu entgehen und immer wieder nach einem Besuch bei ihr, hatte er das Gefühl, dieses Mal ausnahmsweise gnädig davongekommen zu sein. Andere hatten da nicht so viel Glück. Er erinnerte sich an das letzte Mal: Vor ihm war ein türkischstämmiger Mitbürger aufgerufen worden und als, nach endlosen Minuten, die Tür wieder geöffnet wurde und ein anderer Sachbearbeiter, der mit Frau B das Büro teilte, geschäftig den Raum verließ und dabei die Tür offenstehen ließ, hörte er die scharfe Stimme von Frau B ., wie sie kalt und ohne Umstände dem Mann erklärte, dass ihrer Meinung nach sein Wille zur Aufnahme eines Beschäftigungsverhältnisses vollständig fehlte! Das sei ihres Erachtens nach aus den mangelhaften Bewerbungsanschreiben an verschiedene Arbeitgeber deutlich zu erkennen! Sie wolle dafür Sorge tragen, dass die Leistungsabteilung davon erführe und ihm die Leistungen für drei Monate um dreißig Prozent kürze!-

Worte wie Peitschenhiebe! Udo wurde wieder schlecht, wenn er daran dachte.

Würde es ihm heute genauso ergehen? Die Warteschlange hatte sich jetzt fast aufgelöst; es waren nur noch drei Leute vor ihm dran. Udo verspürte jetzt den gierigen Drang nach einer Zigarette, aber hier drin war das Rauchen verboten. Hoffentlich hatte er alles bald hinter sich gebracht!

Zwei Minuten später stand er am Tresen der Anmeldung, zückte seinen Personalausweis und ließ sich als anwesend registrieren. „Zimmer 110“, sagte die Frau am Empfang, „Sie werden aufgerufen.“

Es war genau viertel nach neun. Udo setzte sich auf einen der Stühle vor der Zimmernummer 110. Außer ihm saßen noch eine junge Frau mit Kinderwagen und ein Jugendlicher mit einem MP-3 Player dort. „Ist da noch jemand drin?“ fragte er die junge Frau, um abzuchecken, wie lange es noch dauern könnte.

„Ja, da ist jemand drin, und zwar schon ziemlich lange“, antwortete die Frau. Udos Anspannung wuchs, er hatte jetzt ganz dringend den Wunsch, die Sache so schnell wie möglich hinter sich zu bringen.

Die Zeit zog sich endlos hin, dann, nach fast zehn Minuten Ewigkeit, wurde es laut hinter der Zimmernummer 110, es öffnete sich die Tür und heraus trat ein Ehepaar fremder Nationalität. Die Frau war vollkommen verschleiert und der Mann wirkte mit wilden Gesten lautstark auf sie ein. Udo sah den beiden, die doch sehr erleichtert schienen, nach, wie sie den Gang verließen.

Ein bulliger Mann mit kurz geschorenen Haaren kam den Zweien entgegen und er steuerte, langsam und mit wachen Augen alles beobachtend, auf den Gang mit der Zimmernummer 110 zu. Der Blick des Bulligen schien die Personen, die sich auf dem Gang aufhielten , nur nebensächlich zu streifen, aber die Aufschrift, die der Mann auf dem Rücken seines T-Shirts trug, verriet den Anwesenden, dass sie keineswegs nur eine Nebensache für ihn waren, sondern dass er alle sehr wohl im Blick hatte und dass er mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln dafür Sorge tragen würde, dass Ruhe und Ordnung herrscht auf den Gängen dieser staatlichen Behörde. “Security“, las Udo S., als der Mann an ihm vorüberging.-

Endlich, nach weiteren 5 Minuten, steckte Frau B. ihren Kopf aus der Tür: „Herr S.“, forderte sie Udo kurz und knapp auf. Schnell erhob sich Udo und folgte Frau B. mit klopfendem Herzen in das Büro.

„Lieber Gott“, dachte er, „lass alles gut ablaufen.“ Gleichzeitig aber beschloss er, sich darauf einzustellen, dass heute nicht alles gut ablief und die Ahnung, die er am Wochenende hinsichtlich des Verlaufs seines Besuches bei der Arge gehabt hatte, trog ihn diesmal nicht.

„Nehmen Sie Platz“, sagte sie, während sie sich geschäftig dem Computer widmete, um seine Daten abzurufen. Udo setzte sich Frau B. gegenüber vor den großen Schreibtisch. Nur einen kurzen Moment brauchte Frau B, dann forderte sie ihn auf, ihr seine Bewerbungen vorzulegen. Udos Hand zitterte, als er Frau B. seine fünf Bewerbungen vorlegte und es herrschte eine für Udo fast unerträgliche Spannung, als sie schweigend und mit kritischem Blick, in Udos akkurat geschriebenen Bewerbungsnachweisen blätterte. Langsam und aufmerksam studierte sie jede einzelne Adresse der von Udo angeschriebenen Firmen. Nicht ein Wort des Unmuts kam über ihre Lippen und Udo wollte sich gerade der Hoffnung hingeben, dass seine ganzen Befürchtungen umsonst gewesen waren, als sie die unerträgliche Stille unterbrach: „Und wo sind die anderen Bewerbungen?“

Jetzt hatte sie ihn! Stand jetzt seine gesamte Existenz auf dem Spiel?

Udo bekam plötzlich beklemmende Angstzustände und er brachte nur noch tonlos hervor: „Das ist alles, was ich gefunden habe.“ Udo sah sich bereits obdachlos und nach Pfandflaschen suchend auf der Straße leben und er hörte nur noch mit halbem Ohr hin, als Frau B. mit erhobener Stimme zu dem ansetzte, was er immer gefürchtet hatte : Eine nicht enden wollende Tirade darüber, dass der Steuerzahler seit langer Zeit für seinen Unterhalt aufkäme und er die Pflicht habe, seinen Zustand mit aller Kraft zu beenden. Die Zeitungen seien voll mit Stellenanzeigen, hörte er sie sagen, und die Behörde sei nicht gewillt, Untätigkeit zu unterstützen!

Udo ließ die Worte über sich ergehen und er fühlte sich, wie er sich zuletzt als Schüler gefühlt hatte, als er dem Lehrer seine nicht gemachten Hausaufgaben damit erklären wollte, dass er sein Heft vergessen habe.

Nicht, dass er die Hausaufgaben nicht hatte machen wollen, aber er hatte die Aufgaben nicht begriffen und nachzufragen hatte er sich im Unterricht nicht getraut, denn der Lehrer war streng, und manchmal setzte es sogar Hiebe. Der Lehrer aber hatte ihm schließlich den gesamten Inhalt seiner Schultasche auf den Tisch gekippt und ihm befohlen, das Heft zu suchen. Selbstverständlich hatte er als Schüler das Heft zuhause liegenlassen und es war eine furchtbare seelische Tortur für ihn, während der gesamten Unterrichtsstunde nach etwas zu wühlen, von dem er genau wusste, dass es nicht da war. Sagen durfte er aber nichts, denn dann wären die gefürchteten Schläge garantiert gewesen! Und so sagte er auch nichts zu dem Verbal Angriff von Frau B. Und wie damals, als er hoffte, dass die Schulstunde bald vorbei sein möge, wartete er nun sehnsüchtig darauf, endlich von Frau B. verabschiedet zu werden. „Sie hören von uns!“, sagte sie endlich die erlösenden Worte, und Udo S. erhob sich schließlich von seinem Stuhl und verließ mit hochrotem Kopf den Raum.

„Security“. Kaum hatte Udo seinen Fuß aus der Tür gesetzt, begegnete ihm wieder der Bullige von vorhin. Aufreizend langsam schlenderte der Ordnungshüter ihm einige Schritte voraus in Richtung Ausgang. Udo passte sich dem langsamen Tempo des Mannes an und blieb, um ihn nicht überholen zu müssen, dicht hinter ihm.-

Für solche Leute wie ihn waren die Wachen im Amt bestimmt nicht engagiert, dachte er. Da gab es ganz andere Kaliber! Und obwohl er persönlich noch nie so einem begegnet war, wusste er, dass es bestimmt eine ganze Reihe Typen gab, die richtiggehend aggressiv wurden, wenn Angestellte wie Frau B. ihnen so unverblümt daherkamen, wie sie es bei ihm getan hatte. Dass sie da eines besonderen Schutzes bedurfte, war aus seiner Sicht nur allzu verständlich...

Udo atmete tief ein. Einmal, so wünschte er sich, wie wäre das schön, wenn Sachbearbeiter wie Frau B auch nur einmal so viel Respekt vor ihm hätten, wie vor den Aggressiven.

Genüsslich malte er sich aus, wie die Vorsprache wohl verlaufen wäre, wenn er mit der Faust auf den Tisch gehauen hätte und ihr ganz unverhohlen seine Meinung gesagt hätte. Wäre sie dann auf ihrem Stuhl zusammengesunken und hätte sich am liebsten unsichtbar gemacht?

Dann wäre es ihr einmal so gegangen wie ihm! Und bildlich stellte er sich jetzt vor, wie er ihr schlagfertig und wortgewandt Paroli geboten hätte und sie dann völlig hilflos und mit ihm überfordert zurückgelassen hätte.

Diese Vorstellung bereitete ihm nun den Gipfel des Genusses und er wollte sich gar nicht trennen vom inneren Bild der unglücklichen Frau B. Udo gab sich einen Ruck: Nein, er war es nicht. Er war weder schlagfertig noch wortgewandt und auch nicht zu der geringsten Aggression fähig. Er war in der Realität zurück. Gesenkten Kopfes verließ er die Arge und lief Richtung Bahnhof.-

Der Verachtete

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