Читать книгу Der Verachtete - Marieke Hinterding - Страница 8
Um 4 Uhr in der Früh
Оглавлениеriss ihn der Wecker aus seinem oberflächlichen Schlaf und Udo quälte sich müde aus dem Bett. Wieder hatte er gestern zu viel geraucht und dafür nachts die Quittung bekommen. Er hatte fast ununterbrochen gehustet und nur eine Stunde geschlafen.
Udo wankte schlaftrunken in die Küche und machte sich einen Kaffee. Den hatte er sich, trotz seiner miserablen finanziellen Lage, ausnahmsweise erlaubt. Gleich am Samstagnachmittag hatte er für satte 10 Euro bei Netto eingekauft, in der Hoffnung, sein Konto mit seinem zukünftigen Verdienst wenigstens im Laufe der nächsten 4 – 5 Monate ausgeglichen zu haben.
Mit schlechtem Gewissen zündete sich Udo eine seiner selbst gestopften an und kaum hatte er den Rauch in der Lunge hustete er wieder. Mehrere Minuten lang dauerte der Anfall und Udo rang nach Luft, während er zum Fenster lief und es aufriss. Er atmete jetzt mehrmals tief ein und aus. ..
Das hatte geholfen und Udo war, wie so oft in solchen Situationen, wütend auf sich selbst und schimpfte sich willensschwach und selber schuld an seinen Krankheiten. Dann aber stellte er sich unter die Dusche. Es war sehr kalt in der Wohnung, denn Udo hatte aus Kostengründen nicht geheizt und so absolvierte er im Eiltempo sein Körperpflegeprogramm, zog sich an und trank seinen Kaffee.
4:15 Uhr war es jetzt, Udo hatte noch eine Viertelstunde, ehe er aufbrechen musste. Sein Herz begann zu klopfen vor Aufregung und Ungewissheit, wenn er an seinen zukünftigen Arbeitsplatz dachte und sein Blick streifte immer wieder die Tabakdose, die halb leer auf dem Tisch stand.
Eine einzige Zigarette, um die Angst zu betäuben, wollte er sich nun doch noch genehmigen. Wenn er nicht so tief inhalierte, würde es schon ohne Husten gehen und so zündete er sich wider besseren Wissens doch noch eine an. Diesmal hustete er nur wenig und er beschloss, den Tabak mitzunehmen zur Arbeit, obwohl er sich vorgenommen hatte, wenigstens während der Arbeit nicht zu rauchen.-
Die Fahrt mit dem Fahrrad zum Neusser Hauptbahnhof war beschwerlich. Sturm und Regen peitschten ihn endgültig wach und er brauchte fast eine Dreiviertelstunde, ehe er sein Ziel Schweiß überströmt und völlig außer Atem erreicht hatte. Udo `s Herz geriet aus dem Rhythmus, wie in letzter Zeit so oft und er bekam einen Augenblick beklemmende Angstzustände, als er sein Rad in den Fahrradständer schob und anschloss. Dann aber spürte er sein Herz nicht mehr und er beruhigte sich.
Udos nasse Kleidung klebte ihm am Körper und er fröstelte, als er das Bahnhofsgebäude betrat. Er warf einen Blick auf den Fahrplan. 5Uhr 25 würde der Zug nach Grevenbroich abfahren. Gleis 6. Es war jetzt 5 Uhr 15, er hatte noch zehn Minuten Zeit. „Das reicht für eine letzte Zigarette“, dachte er.
Aber zuvor musste er noch die Fahrkarte lösen. Udo hatte am Samstag dreißig Euro extra abgehoben von seinem überschuldeten Konto, um den Fahrschein bezahlen zu können und so steckte er jetzt einen Zehn-Euroschein in den Geldschlitz, drückte sein Fahrtziel und wartete , bis der Automat Fahrkarte und Wechselgeld ausspuckte. Schließlich steuerte er Gleis 6 an, setzte sich in die Raucherzone und drehte sich eine Zigarette...-
Pünktlich rollte der Zug in den Bahnhof ein. Udo stieg ein und die Wärme im Abteil des Zuges ließ ihn jetzt deutlich spüren, wie unangenehm klamm seine Kleidung war. Wie lange es wohl dauern würde, bis seine Sachen getrocknet waren...?
Jetzt übermannte ihn Müdigkeit. Udo schloss einen Moment die Augen und stellte sich vor, in einem warmen Bett zu liegen. Die monatelange Schlaflosigkeit forderte ihren Tribut. Udo stand nun auf und verließ das Abteil. Er zog es vor, die Fahrt im Stehen fortzusetzen, weil er befürchtete, sonst einzuschlafen.
Um 5 Uhr 50 hielt der Zug endlich im Gewerbegebiet Grevenbroich. Udo stieg aus und lief auf den Firmenpark zu. Dicht standen die Betriebe auf einer einzigen langen Straße zusammen .Aufmerksam studierte Udo nun die Namen der einzelnen Firmen, die Hinweisschilder waren Gott sei Dank gut beleuchtet und so brauchte er nicht lange, bis er „seine“ Firma gefunden hatte: die Grevenbroicher Werke für Solarschaltkreise.
Udo sah auf die Uhr: Es war bereits 2 Minuten vor 6 Uhr er musste sich sputen, wenn er seinen Arbeitsplatz rechtzeitig erreichen wollte. Er sah zum Parkplatz herüber, der bereits bis auf den letzten Platz besetzt war, dann suchte er mit den Augen das weitläufige Gebäude nach dem Werkstor ab. Gespenstisch ruhig war es auf der Außenanlage, niemand war da, den er hätte fragen können und so lief er einmal um den Betrieb herum, ehe er den Eingang fand. Hell erleuchtet war es, sein Weg führte ihn als erstes durch das große Lager. Neugierig sah Udo sich um. Kisten von IC‘s und Rollen von Widerständen, Platinen und andere Bauteile stapelten sich in großen Regalen. .
Udo marschierte nun den breiten Hauptgang entlang, bis er vom Lager endlich in die angrenzende Produktionshalle kam. Dort sah er dann die ersten Arbeiterinnen, die dort mit flinken Fingern Platinen mit IC‘s und Widerständen bestückten und die die Lötrahmen mit den Platinen anschließend auf eine Lötstraße setzten. Dort waren sie einem Lötzinnbad ausgesetzt und jedes Mal, wenn am anderen Ende die Prozedur beendet war, qualmte es gewaltig aus der Maschine in den Raum. Ein beißender Dampf aus Flussmittel und verschweltem Plastik schlug Udo entgegen. Als Udo an der Lötstraße vorbeiging packte ihn ein starker Hustenreiz. Er nahm das Getränk aus seiner Tasche, das er als Proviant mitgenommen hatte und betäubte den Reiz.
Es war bereits 6 Uhr 15, als er das Büro des Meisters endlich gefunden hatte. Es war leer und Udo wusste nicht, ob er besser warten sollte, bis sein zukünftiger Vorgesetzter endlich kam, oder ob er jemanden ansprechen sollte. Nervös nestelte er an seiner Jacke und dabei fiel ihm sein Tabak aus der Tasche. Er schaute wieder auf die Uhr.
6 Uhr 20, der Meister kam nicht. Udo entdeckte gleich neben dem Büro den Aufenthaltsraum. Dort würde er warten, überlegte er. Man konnte ja vom Pausenraum aus ganz prima das Büro einsehen, beide Räumlichkeiten waren nur durch eine Glaswand voneinander getrennt.
Udo saß im Aufenthaltsraum und hatte gerade noch Zeit für eine Zigarette, als er einen Mann in blauem Kittel das Büro betreten sah. Das war er! Udo erhob sich sofort und klopfte an. „Guten Morgen“, sagte Udo. „Ich bin Udo S., von der Zeitarbeitsfirma T. Aus Neuss.“
„Die Arbeitszeit beginnt um 6 Uhr! „antwortete der Mann, „nicht um halb sieben! Das war ihnen doch sicher bekannt!“
Udo zog den Kopf ein. „Ich war um 6 Uhr 15 hier“, protestierte er schwach. „Damit wir uns richtig verstehen: Die Arbeitszeit fängt auch nicht um 6 Uhr 15 an, sondern um 6 Uhr!“
Udo war betroffen. Morgen wollte er einen Zug früher nehmen, auch wenn er deshalb um 3 Uhr aufstehen musste!
„Hier ist ein Kittel“, sagte der Meister. „Dürfte Ihre Größe sein!“ Er drückte Udo den Kittel in die Hand und forderte ihn auf, mitzukommen. Ihr Ziel war ein Arbeitsplatz zwischen zwei Frauen am Ende der Lötstraße. „Das ist unsere Frau Schulz“, deutete er auf die Ältere von beiden. „Sie wird Sie einweisen. Und morgen bitte pünktlich!“ Der Meister rauschte davon.-
„Setzen Sie sich hierhin“, sagte Frau Schulz und deutete auf einen leeren Stuhl. Rasch holte sie jetzt eine schon fast fertig bestückte Platine, nahm eines der IC‘s, die auf dem Tisch lagen in die Hand und platzierte es zwischen einigen Widerständen, nahm den Lötkolben und lötete das IC daran fest. „So geht`s. Die IC´s immer zwischen diese beiden Widerstände. Auf der Lötstraße stehen gerade ein paar fehlerhafte Platinen. Holen Sie sich die, machen Sie die fertig und setzen sie die dann auf das andere Band. Hier wird übrigens mit Tempo gearbeitet.“ Frau Schulz setzte sich wieder auf ihren Platz und fing an, überflüssige, zu dicke Lötzinnkleckse auf der vor ihr liegenden Platine zu entfernen.
Udo stand auf und holte sich ein paar Platinen von der Lötstraße. Vorsichtig nahm er ein IC in die Hand und versuchte mit den Augen die Lücke zu finden, zwischen die es gelötet werden sollte. Allein das dauerte fast fünf Minuten und Udo hatte vor lauter Nervosität bereits einen Kloß im Hals, bis er endlich den Platz für das Bauteil gefunden hatte. Vorsichtig wollte Udo es auf die Platine stecken, dabei brach ein Beinchen. Das IC war kaputt.
„Frau Schulz“, sagte Udo. „Das Teil ist kaputt.“ Frau Schulz sprang auf.
„Was machen Sie denn da?“, fragte sie unfreundlich und Udo hatte, wie schon so oft in seinem Leben, das Gefühl, ein Idiot zu sein. „So steckt man das Teil rein!“ Im Bruchteil von Sekunden hatte sie ein neues Elektronikteil auf die Platine gesetzt, verlötet und anschließend zur Weitergabe auf das leere Fließband gebracht Udo nahm die nächste Platine, suchte einige Zeit nach dem
Bestimmungsort fürs IC und fummelte dann sehr lange und umständlich das IC zwischen die Widerstände. Dann warf er nochmal einen heimlichen Blick auf Frau Schulz Löttechnik, um sicher zu gehen, dass er nichts falsch machte. Schließlich fasste er sich ein Herz und verlötete die Teile miteinander. Dann brachte er die Platine auf das leere Fließband. Drei Stunden später hatte Udo gerade mal zwanzig Platinen bearbeitet und jedes Mal dann, wenn er zu Frau Schulz herübersah, trafen ihn ihre Blicke und er sah sie mit ihrer Kollegin tuscheln.-
Endlich, um 9 Uhr 45 klingelte der Werksgong zur Frühstückspause.
Udo wusste um seine schlechte Leistung und peinlich berührt und beschämt suchte er -wie die anderen Arbeiter - den Pausenraum auf. Er setzte sich an einen Tisch und holte seinen Tabak hervor. Über den Umstand, dass sich niemand zu ihm setzte, war Udo eigentlich ganz froh; er hätte niemandem in die Augen sehen können. Zu stark war das Gefühl des Versagens.
Udo sah zu Frau Schulz hinüber. Gott sei Dank, er schien hier wohl kein Gesprächsthema zu sein, denn sie und ihre Kolleginnen würdigten ihn nicht eines Blickes. Udo rauchte in der viertelstündigen Pause vier Zigaretten, dann ertönte erneut der Gong und alle begaben sich auf ihre Plätze.
Kaum hatte Udo seine Arbeit wieder aufgenommen, sah er den Meister, der zielstrebig und mit hochrotem Kopf auf ihn zutrat. Udo erschrak, die Blicke der Kollegen lagen nun auf ihm und er fühlte sich, als hätte man soeben einen großen schweren Felsen auf seinen Brustkorb gelegt.
„Herr S!“ schrie der Meister. „Sie haben die IC‘s falsch herum eingelötet! Wissen Sie eigentlich, wieviel Produktionsausfall das wegen der aufwendigen Fehlersuche bedeutet? Ab jetzt arbeiten Sie den Frauen nur noch zu!“
Udo war schockiert, denn er wusste bis zu diesem Augenblick nicht, dass man IC‘s auch falsch herum einlöten konnte. Hatte er bei Frau Schulz nicht richtig zugesehen? Obwohl er nicht wusste, was genau er falsch gemacht hatte bei der Bestückung, senkte er den Kopf und schwieg...
Der Meister stellte Udo nun direkt ans Ende der Lötstraße und Udo hatte nun die Aufgabe, die frisch aus dem Lötzinnbad kommenden Platinen vom Lötrahmen zu befreien und sie den Frauen herüber zu reichen.
Schon nach einer Viertelstunde aber legte sich ein beklemmendes Gefühl auf seine Brust, so als hätte sich zu viel auf einmal von dem beißenden Qualm , dem er jetzt ununterbrochen ausgesetzt war, auf seine Lungen gesetzt. Gleichzeitig fing er zu husten an - schlimmer als er es je zuvor getan hatte. Trotzdem verharrte er auf seinem Arbeitsplatz, solange bis es nicht mehr ging...
Er musste etwas zu trinken haben, überlegte er: Das würde den Hustenreiz lindern! Aber seine von zuhause mitgebrachte Wasserflasche war leer....
Die Toilette! Er würde seine Flasche auf der Toilette nachfüllen! Udo unterbrach seine Arbeit, nahm die Flasche und fragte eine der Frauen nach dem stillen Örtchen. Dann rannte er schnurstracks auf das WC und verschnaufte erst einmal sitzend auf dem geschlossenen Toilettendeckel. Der Hustenreiz hatte schlagartig nachgelassen! Udos Augen brannten vor Anstrengung und Müdigkeit und unterschwellig nahm er den Geruch von Lötzinn wahr. Kleidung und Hände waren mit dem Gestank der Metalllegierung behaftet. Udo war verzweifelt:
Erst versagte er beim Einlöten der IC‘s und nun schlug der Husten wieder zu! Hätte er nicht so viel geraucht, dachte er, wäre der Qualm sicher besser auszuhalten gewesen! Jetzt würde seine Gesundheit gleich doppelt geschädigt und Schuld war er ganz allein selbst! Udo stand auf und füllte seine leere Plastikflasche nun bis zum Rand voll mit Wasser, dann lief er zurück auf seinen Platz am Ende der Lötstraße... -
Immer und immer wieder wurde an diesem Tag seine Arbeit vom Husten unterbrochen, aber niemand der Betriebsangehörigen kam auf die Idee, ihn für einige Zeit abzulösen oder gar: nach Hause zu schicken. Was sollte er nur tun? Er hatte noch drei Stunden bis zum Feierabend, aber Udo war jetzt schon körperlich und seelisch so erschöpft, als hätte er bereits eine Doppelschicht hinter sich gebracht.
Und wieder geriet sein Herz einen Moment aus dem Rhythmus. Er konnte nicht mehr. Traurig sah er zu Frau Schulz rüber, aber ihr Platz war leer. Stattdessen stand der Meister dort und blickte ihm nun geradewegs in die Augen.
Wie lange stand der schon dort? Ob er ihn beobachtet hatte? Udo hustete nun solange, bis er würgte, sein Herz schlug schnell. Das hatte der Meister doch mitbekommen und Udo hoffte, dass er sich erbarmte und ihm einen anderen Arbeitsplatz zuwies, aber nichts geschah. Ungerührt verschwand der Vorgesetzte wieder und überließ Udo seinem Schicksal...
Udo dachte jetzt darüber nach, wie er diesem Arbeitsplatz möglichst unbeschadet entrinnen konnte. Wenn er jetzt einfach nach Hause ging, wäre er die Stelle wohl los, aber seine Befürchtungen, eine Leistungskürzung zu riskieren, waren groß, so dass er innerlich wankte.
Ein Attest musste her. „Ich werde mich krankmelden“, flüsterte er vor sich her, ließ die Platinen Platinen sein, schnappte sich seine Tasche mit dem Wasser und meldete sich im Meisterbüro ab. Der Chef sah ihn abwertend an, gab aber keine Antwort, sondern winkte ihn bloß wortlos aus dem Büro.