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Eine Entscheidung stand an

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Das Jahr in der Vorschule näherte sich dem Ende. Doch ehe es endlich in die ersten langersehnten großen Ferien ging, stand uns Kindern ein abschließender Test bevor. In ihm wollte man noch einmal jedes Kind einzeln prüfen, ob es geistig und physisch in der Lage sein würde, die Schule zu besuchen.

Der Test hatte aber noch einen weiteren Hintergrund, von dem wir Kinder zu diesem Zeitpunkt noch nichts mitbekamen. Eines war klar: Alle Kinder, die in Oehrenfeld eingeschult wurden, mussten schon gewisse geistige Voraussetzungen erfüllen. Nicht umsonst war es eine zehnklassige Oberschule mit einem ganz normalen Lehrplan, nach dem sich auch diese Schule zu richten hatte. Nun gab es aber Kinder, die zwar geistig völlig auf der Höhe ihres Alters waren, aber aufgrund ihrer schweren körperlichen Behinderung trotzdem Schwierigkeiten in der Schule gehabt hätten. Wie sollten diese Kinder unter anderem im Unterricht schreiben? Für langes Üben und Experimentieren mit ihnen sah der vorgeschriebene Lehrplan keine Zeit vor.

Um diesen Kindern trotzdem die Möglichkeit zu geben, in angemessener Weise am Unterricht teilzunehmen und ihr Defizit durch gezieltes Üben zu mindern, sollten ab dem kommenden Schuljahr erstmals sogenannte S-Klassen (Sonder-Klassen) eingeführt werden. Man teilte die ersten zwei regulären Schuljahre in drei auf, also in die Klassen S1, S2 und S3. So gingen wir je anderthalb Jahre in die erste beziehungsweise in die zweite Klasse. Unter diesen Gegebenheiten würde der Klassenlehrer mehr Zeit haben, jedes Kind individuell zu fördern.

Unsere Erzieherinnen bereiteten uns Wochen zuvor in Beschäftigungen auf dieses Ereignis vor. Es sollte ein kleiner Test mit jedem einzelnen Kind durchgeführt werden, der ähnlich einer Beschäftigung ablaufen sollte. Man erzählte uns, dass an diesem Test der Schuldirektor, Herr Mertens, der ärztliche Leiter, Herr Dr. Friedrich und unser zukünftiger Klassenlehrer, Herr Reimert, daran teilnehmen würden. Außerdem sollte unsere Erzieherin, Fräulein Kleinert auch an diesem Tag mit dabei sein. Dies beruhigte mich etwas. Hatte ich so wenigstens eine vertraute Person an meiner Seite.

Der Tag, an dem der Test stattfand, war gekommen. Spannung, was da auf mich zukommen würde, machte sich in mir breit. Jedoch Angst, so wie vor richtigen Prüfungen, hatte ich keine. Ich war einfach noch zu klein, um den wichtigen Sinn dieser Aktion zu begreifen.

Wahrscheinlich wollte man uns schon einmal die Atmosphäre eines echten Klassenzimmers spüren lassen. Deshalb wurde der Test in unserem zukünftigen Klassenraum durchgeführt. Er lag in der oberen Etage. Als letztes von uns sechs Kindern war ich an der Reihe. Vielleicht weil sich meine Behinderung und die damit zu erwartenden Probleme in der Schule als am schwierigsten erwiesen. Fräulein Kleinert trug mich die zwei Treppen hinauf. Wir betraten den Raum. Da er genau über Eck des Hauses lag, hatte er zu zwei Seiten Fenster. Diese ließen sehr viel Licht hinein. In der Mitte des Raumes wurde aus vier kleinen quadratischen Tischen ein großer zusammengestellt. An diesem saßen schon Herr Mertens, Herr Friedrich sowie Herr Reimert. Fräulein Kleinert setzte mich mit in die Runde und nahm neben mir Platz.

Die kleine Beschäftigung führte – zu meiner Freude – Fräulein Kleinert durch. Deshalb war alles fast so gewohnt, wie in den anderen Beschäftigungen auch, abgesehen davon, dass jetzt noch drei für mich relativ fremde Personen zusahen. Eine gewisse Unruhe stieg in mir auf. Dies merkte Fräulein Kleinert und beruhigte mich. Wir fingen einfach mit den doch schon vertrauten Übungen an.

Zuerst sollte ich im Kopf rechnen. Dies fiel mir natürlich nicht schwer und so meisterte ich die erste Aufgabe mit Bravour. Doch dann kamen die bunten Stäbchen ins Spiel. Kaum lagen sie vor mir auf dem Tisch, flogen sie wegen einer unkontrollierten Bewegung meiner Hände auch schon wieder durch die Luft. Fräulein Kleinert hob sie auf und half mir durch Führen meiner Hände, die Stäbchen geordnet hinzulegen, so wie es in dieser Aufgabe verlangt wurde.

Anschließend sollte ich Kreise, Bögen und Linien zu Papier bringen. Dabei unterstützte mich meine Erzieherin ebenfalls, so wie ich es aus den Beschäftigungen zuvor gewohnt war. Dies beobachteten die drei anwesenden Herren mit besonders kritischen Blicken. Der Umgang mit Stift und Papier stellte sich – wie es schon abzusehen war – als die für mich größte Schwierigkeit heraus. Wie sollte ich ohne zu schreiben jemals den vorgegebenen Unterrichtsstoff bewältigen? Zehn Jahre nur theoretischen Unterricht zu haben, das schien fast aussichtslos.

Nach diesen drei Übungen berieten sich Herr Mertens, Herr Friedrich und Herr Reimert. Womöglich länger als bei den Kindern vor mir. Gespannt und voller Ungeduld wartete ich auf ihre Entscheidung. Dann, endlich fiel diese! Da ich mich sonst als ein pfiffiges Kerlchen erwies, wollten sie mich, zunächst unter Vorbehalt, doch einschulen. In den S-Klassen sollte ich die Chance und die Zeit erhalten, wenigstens ein kleines Stückchen Lesbares zu Papier zu bekommen. Herr Reimert, mein zukünftiger Klassenlehrer, war relativ zuversichtlich, dass er auf irgendeinem Weg doch eine Lösung finden würde, mir das Schreiben beizubringen.

So bestand ich also in meinem noch jungen Leben meine erste Prüfung. Meiner Einschulung stand nichts mehr im Weg! Das, wofür meine Eltern so lange gekämpft hatten, sollte nun endlich wahr werden! Fräulein Kleinert nahm mich lächelnd in den Arm und drückte mich ganz fest, sicherlich auch stellvertretend für meine Eltern. Sie erhielten die freudige Nachricht erst einige Tage später in einem Brief. Doch dies tat der frohen Kunde keinen Abbruch.

Schnell vergingen die übrigen Tage bis zu den Sommerferien. Zurückblickend kann ich sagen, dass sich das eine Jahr in der Vorschule vielleicht als eines der prägendsten in meinem Leben erwies. Musste ich mich hier erstmals mit Kindern meines Alters auseinandersetzen. Außerdem lernte ich, von anderen, vorwiegend fremden Personen, Hilfe anzunehmen. Dies ist nun einmal Voraussetzung, um in einem Leben mit einer Behinderung bestehen zu können und so nicht nur auf wenige vertraute Menschen, zum Beispiel seine Eltern, fixiert zu sein.

Endlich war es soweit. Meine Eltern reisten an, um mit mir nach Hause zu fahren. Ich freute mich riesig, denn ich wusste, dass wir in diesem Jahr wieder zelten fahren würden. Doch vor der Heimfahrt gab es noch einen kleinen Wermutstropfen. Ich musste mich von meinen Freunden für längere Zeit verabschieden. Diese Trennung überwand ich jedoch sehr schnell, denn ich sollte alle Kinder im kommenden Schuljahr wiedersehen. Allerdings fiel mir der Abschied von Fräulein Kleinert sehr schwer. Schließlich war sie mir in dem einen Jahr ganz besonders ans Herz gewachsen. Sie fand immer tröstende Worte, wenn ich mal wieder Heimweh bekam oder es mir sonst nicht gut ging und sie war für mich schon fast eine Ersatzmutter geworden.

Letztendlich überwog doch die Freude auf mein Zuhause, nach meinen Großeltern und meinem Bruder. Schnell wurden die Sachen im Auto verstaut und es ging in Richtung Heimat. Acht Wochen verblieben mir, bevor der Ernst des Lebens und somit die Schule für mich beginnen sollte.

Behindert? - Was soll’s!

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