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Die Kunst des richtigen Sitzens

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Zu Beginn eines jeden Schuljahres machten Herr Mertens und Herr Friedrich sozusagen einen Kontrollrundgang durch alle Klassen. Die Beiden sahen sich dabei jeden Schüler an. Ihr Augenmerk richtete sich darauf, ob wir während des Unterrichts eine bequeme, angemessene Sitzhaltung hatten. Sie achteten unter anderem auf eine richtige Stuhlhöhe oder ob vom Sitzen auf den doch recht harten Stühlen Druckstellen am Körper entstehen können.

Eines Tages führte der Rundgang der Herren auch durch unsere Klasse. Als ich an der Reihe war, meinte Herr Friedrich, dass mein kleines Stühlchen doch zu hart für mich sei. Es müsse gepolstert werden. Nur wie, das sagte er nicht, so nach dem Motto: »Ich bin Arzt. Die anderen werden das schon hinbekommen.«

Jetzt stellte erstmals Herr Reimert sein Können unter Beweis. Der Mann hatte nicht nur einen unendlichen Reichtum an Ideen, sondern er besaß außerdem ein unglaubliches handwerkliches Geschick.

Schnell stellte sich heraus, dass das Unterlegen irgendwelcher Sitzkissen bei mir zu keinem zufriedenstellenden Ergebnis führen würde. Dies wäre alles eine zu wackelige Angelegenheit geworden. Außerdem kannte mich Herr Reimert nur zu gut und so wusste er, dass alles, was sich bewegte, worauf ich saß, mich beim Sitzen unsicher machte. Was nützte mir also ein mit Kissen gepolsterter Stuhl, wenn ich in ihm vor lauter Angst steif wie ein Brett sitzen würde? Etwas Handfestes musste her.

Die Lehrerstühle hatten einen herausnehmbaren, gepolsterten Sitz. Spontan entfernte Herr Reimert den grünen Sitz seines Stuhles und legte ihn probehalber in mein Stühlchen. Dieser passte wie dafür gemacht hinein. Auch zur Rückenlehne eignete sich so ein Sitz. Natürlich konnte Herr Reimert nicht den Sitz seines Lehrerstuhles opfern.

In einer Pause ging er hinauf auf den Dachboden und prompt fand er dort zwei Lehrerstühle, die die herausnehmbaren Sitze hatten, wie ich sie brauchte. Lächelnd kam Herr Reimert mit je einem Sitz in der Hand zurück und hielt sie strahlend in die Luft. Schnell suchte er einen Lappen und befreite sie vom Staub.

Herr Reimert schien für solche »Einsätze« gewappnet zu sein, denn in seinem Schrank lag stets einiges an Werkzeug. So war es ihm ein Leichtes, die beiden Sitze auf meinem Stühlchen mit Nägeln zu befestigen. Ein Sitz diente als Sitzfläche, der zweite als Rückenlehne. Beide saßen bombenfest, da wackelte nichts mehr! So war mein Stühlchen schon fast zu einem Thron geworden, in dem ich sehr bequem saß.

Das Manko des zu harten Stuhles hatte Herr Reimert schnell beseitigt. Doch nicht selten stellt sich bei mir mit dem Beheben eines Problems mindestens ein neues ein.

Jetzt hatte ich zwar einen gepolsterten Stuhl, doch durch das Einlegen des Sitzes aus dem Lehrerstuhl saß ich zirka drei Zentimeter höher. Dies bedeutete, meine Füße hatten keinen richtigen Bodenkontakt mehr. Und das war ja auch nicht im Sinne des Erfinders, denn ohne festen Kontakt zum Boden fühlte ich mich unsicher. Also musste nicht nur sitztechnisch, sondern auch bei den Füßen nachgebessert werden.

Naheliegend in solchen Fällen war das Unterstellen einer Fußbank. Unsere Schule hatte verschiedene Modelle dafür parat, denn viele Kinder baumelten mit den Füßen in der Luft. Warum sollte eine solche Bank nicht auch bei mir ihren Zweck erfüllen? Herr Reimert stellte mir ein kleines Bänkchen unter meine Füße. Von der Höhe passte es. Lediglich mit meinen Füßen stieß ich sie mit der Zeit nach vorne weg. Davon ließ sich mein Klassenlehrer nicht beirren. Er probierte eine andere Variante einer Fußbank aus und schlug so eigentlich gleich zwei Fliegen mit einer Klappe. Detlef, der neben mir saß, kam mit seinen Füßen auch nicht bis zum Boden auf. So stellte Herr Reimert eine lange, durchgehende Fußbank unter unseren Tisch. Damit Detlef und ich diese nicht nach vorn wegschieben konnten, befestigte Herr Reimert an der vorderen Seite der Bank eine stabile Leiste, die gegen die Tischbeine stieß und so ein Wegschieben verhinderte. So teilte ich mir mit Detlef nicht nur eine Schul-, sondern auch eine Fußbank.

In den darauffolgenden Tagen beobachtete Herr Reimert, dass meine Füße immerhin auf der Fußbank, jedoch nicht ruhig standen. Ich bewegte sie ständig unkontrolliert hin und her. Herr Reimert dachte an eine Fixierung. Doch dies konnte nur passiv erfolgen. Ich musste jederzeit die Möglichkeit haben, mich selbst aus dieser zu lösen.

Wenn ein Kind unserer Klasse irgendein Problem hatte, dann beschäftigte dies Herrn Reimert auch nach Feierabend. Er konnte nicht aus dem Klassenraum gehen und unsere Schwierigkeiten bei uns lassen. Er nahm sie oft mit nach Hause und grübelte solange, bis er eine Lösung fand.

Am nächsten Tag kam Herr Reimert mit einem »Guten Morgen« in unsere Klasse und packte seine Aktentasche aus. Neben den bekannten Büchern zog er zwei größere hellbraune Streifen aus Leder heraus. »Daraus machen wir dir ein paar Schuhe für die Fußbank«, sagte er zu mir. Flugs holte er das Werkzeug aus seinem Schrank. Dann markierte Herr Reimert die Stellen auf der Fußbank, an denen meine Füße stehen sollten. Im flotten Tempo fertigte er dann aus den breiten Lederstreifen Schlaufen, die er auf die Fußbank nagelte. Das Ergebnis ähnelte zweier Kappen von Schuhen. Und so sollten sie auch funktionieren. Ich konnte in die Schlaufen allein hineinkriechen. Jede der Schlaufen wurde so groß bemessen, dass fast mein ganzer Fuß darin Platz fand. So hatten letztendlich meine Füße einen sicheren Halt.

Doch schon am nächsten Morgen traute Herr Reimert seinen Augen kaum. Ich schaffte etwas, womit er wahrscheinlich nie gerechnet hätte. Als meine Füße in den Schlaufen steckten, muss ich durch meine Spastik eine so immense Kraft entwickelt haben, dass das recht weiche Leder nachgab und an den Nägeln herausriss. So machte ich die zirka eine Stunde Arbeit von Herrn Reimert mit einem Schlag zunichte!

Solche im wahrsten Sinne des Wortes Rückschläge brachten meinen Klassenlehrer keinesfalls aus der Fassung! Im Gegenteil. Sie weckten in ihm eine ungeheure Willensstärke, ein Problem trotzdem zu lösen.

An diesem Tag konnte Herr Reimert an der Fußbank nichts mehr machen. Einerseits hatte er noch keine richtige Idee, andererseits – und das war eigentlich noch wichtiger – musste unser Unterricht mal ein bisschen weitergehen. Zwar hatten wir ein langsameres Lerntempo und für solche Experimente war vereinzelt auch die Zeit vorhanden, doch unendlich durften wir sie dafür nicht nutzen.

Wieder nahm Herr Reimert den Gedanken mit nach Hause, wie er meine Füße auf der Fußbank fixieren konnte. Eine konkrete Idee schien er noch nicht zu haben. An diesem Abend muss er sein ganzes Haus auf den Kopf gestellt haben auf der Suche nach einem festeren, quasi unkaputtbaren Material.

Freudestrahlend kam er am darauffolgenden Tag in die Klasse. Dann zog mein Klassenlehrer erneut etwas Lederartiges aus seiner Tasche. Diesmal waren es dunkelgraue, fast schwarze schon fertige Kappen. Nun doch etwas verzweifelter meinte er: »Wenn du die kaputt kriegst, dann weiß ich auch nicht mehr weiter. Das hier sind die Kappen von meinen früheren Soldatenstiefeln. Die habe ich gestern Abend extra für dich zerschnitten.« Herr Reimert zeigte mir diese Kappen. So dickes Leder sah ich nie zuvor. Mit noch stärkeren Nägeln befestigte er sie auf der Fußbank. »Das muss jetzt halten«, sagte er abschließend mit einem verschmitzten Lächeln. Und in der Tat. Seine geopferten Stiefelkappen erwiesen sich als unzerstörbar und somit reißfest. Sie hielten meiner noch so starken Spastik stetig stand!

Der Unterricht ging in einem gemäßigten, langsameren Tempo voran und Herr Reimert hatte genügend Zeit, sich mit jedem von uns sechs Schülern individuell zu beschäftigen, was ja auch der Sinn der S-Klassen war.

Schnell gewöhnte ich mich an den Schulalltag und es machte mir großen Spaß, Rechnen und Lesen zu lernen. Das Fach »Heimatkunde« hatte es mir besonders angetan. Für mich als wissbegieriges Kind war dies genau das richtige Unterrichtsfach um zu erfahren, wie dies und jenes funktionierte. In manchen Stunden fragte ich Herrn Reimert regelrecht und vorwiegend alleine über Dinge aus, die so in der Natur passierten und für die ich selbst keine Erklärung fand.

Meine Klassenkameraden brachten zwar alle die Fähigkeit mit, dem Unterricht zu folgen, dennoch fiel dies einigen recht schwer. Geduldig übte Herr Reimert mit ihnen den Stoff immer und immer wieder. Doch für mich konnte es meist nicht schnell genug gehen, etwas Neues zu lernen. Dies bekam Herr Reimert auch recht bald mit. Er merkte, dass ich von meinem geistigen Niveau bedenkenlos die erste und zweite Klasse in dem normalen Tempo hätte absolvieren können. Im theoretischen Unterricht war ich topfit. Doch nicht umsonst wurde ich in die S-Klasse eingeschult. Was sich schon in der Vorschule herausstellte, erwies sich jetzt zunehmend als mein größtes Handicap. Ich konnte mit meinen eigenen Händen nicht ohne fremde Hilfe schreiben.

Während meine Schulkameraden fast in jeder Deutschstunde einen neuen Buchstaben lernten und damit immer weitere Wörter bilden und dann auch schreiben konnten, vermochte ich nur alles theoretisch zu lernen und beim Schreiben zuzusehen. Herr Reimert versuchte, wie Frau Kleinert in der Vorschule, meine Hand beim Schreiben zu führen. Auf diese Weise brachte ich auch etwas Lesbares zu Papier. Doch sobald er meine Hand losließ, schleuderte mein ganzer Arm über das Blatt und hinterließ eine lange »Schleifspur«. Auf Anhieb hatte Herr Reimert keine Lösung parat, wie ich selbstständig schreiben könnte. In ganz kleinen Schritten wollte er sich an diese große Herausforderung herantasten.

Für die folgenden Wochen und Monate beschloss mein Klassenlehrer in Absprache mit unserem Schuldirektor, mich zunächst vorwiegend theoretisch zu unterrichten. Dessen ungeachtet sollte nicht aus den Augen verloren werden, mit mir weiterhin das Schreiben zu üben.

Behindert? - Was soll’s!

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