Читать книгу Behindert? - Was soll’s! - Mario Ganß - Страница 12

Der langersehnte Tag

Оглавление

So schön meine ersten großen Ferien auch gewesen sein mochten, fieberte ich doch ihrem Ende entgegen. Konnte ich es kaum noch erwarten, ein richtiges Schulkind zu werden. Immer wieder fragte ich meine Eltern die Wochen zuvor, wie oft ich noch schlafen müsse, bis ich in die Schule käme.

Der lang ersehnte Tag brach endlich an, Sonntag, der 1. September 1974. Ein besonderer Tag im doppelten Sinne. Nach dem Aufstehen gratulierten wir erst einmal meiner Mutti zum Geburtstag. Aber dann konnte es für mich nicht schnell genug gehen. Vor lauter Aufregung gelang es meinen Eltern kaum noch mich zu bändigen. Über die Freude auf meine bevorstehende Einschulung vergaß ich glatt, dass heute nach langen acht Wochen auch wieder ein Tag des Abschiednehmens gekommen war.

Nach dem Frühstück ging es gleich los. Da mein Bruder für die Feierstunde und das ganze Drumherum noch zu klein war, ließen wir ihn bei meinen Großeltern.

Ein richtig schöner Spätsommertag stellte sich ein. Als hinter Halberstadt die hügelige Landschaft begann, konnten wir, wie schon vor einem Jahr, die beginnende Laubfärbung sehen. Doch für solche Naturschauspielchen hatte ich heute überhaupt keinen Blick.

Gegen Mittag trafen wir in Oehrenfeld ein. Die Zeit erlaubte es noch, in der Waldgaststätte etwas zu essen. Meine Gedanken waren jedoch schon längst bei den anderen Kindern. Außerdem stieg die Spannung auf das bevorstehende Ereignis stetig und so bekam ich nur wenige Happen herunter. Danach fuhren meine Eltern mit mir die wenigen Meter bis zum Heim II. Viel mehr Autos als bei normalen Anreisen standen vor dem Haus. So fiel es nicht leicht, noch eine Parkmöglichkeit zu erwischen.

Mein Vater trug mich auf den Schultern. Für einen kurzen Moment blieb er vor dem ebenerdigen Eingang stehen und machte mich mehr spaßeshalber auf ein Schild neben der Tür aufmerksam. Er bemerkte meine Anspannung und versuchte, sie etwas zu lösen. »Hier, damit du weißt, wie viele Kinder ihr seid.« Mein Vater las vor: »In diesem Haus befinden sich 29 Kinder.« Die Zahl stand auf einer tafelähnlichen Fläche und konnte so ständig mit Kreide aktualisiert werden.

Genervt von den Erklärungen meines Vaters mahnte meine Mutti zur Eile. Beim Hineingehen in die Villa erblickten wir eine gewaltige Menschenmenge, bestehend aus Kindern und Erwachsenen. Egal wer, sie mussten alle irgendwie zu den Schulanfängern gehören. Ab und zu erblickte ich bekannte Gesichter aus der Vorschule. Doch auch viele neue Kinder waren unter ihnen. Eigentlich viel mehr als ich dachte. Dafür gab es aber zwei Erklärungen. An diesem Tag wurden zwei Klassen eingeschult. Zum einen waren es die Kinder, die in die normale erste Klasse gehen sollten. Die restlichen Kinder, darunter auch ich, kamen in die sogenannten S-Klassen. Etliche der fremden Knirpse reisten direkt von zu Hause an und wurden ohne den Besuch der Vorschule eingeschult. Wer nun in welche Klasse kam war mir zu diesem Zeitpunkt kaum bekannt und in diesem Moment auch ziemlich egal. Wollte ich doch einfach nur eingeschult werden!

Langsam löste sich das Knäuel von Menschen auf. Wir betraten den großen, hellen, mir bekannten Raum, welcher das Jahr zuvor für die Vorschule diente. Zum heutigen Anlass wurde an der angrenzenden Wand am Ende der Fensterseite eine große Schultafel aufgestellt. Diese schmückten viele farbige Luftballons. Auf dieser Seite standen auch die Stühle für uns (Fast)Schulkinder. Sogar an mein kleines Stühlchen, das Seitenlehnen hatte und in dem ich richtig sitzen konnte, wurde gedacht. Es stand gleich in der ersten Reihe. Mein Vater trug mich dorthin und setzte mich hinein. Auf der dunkleren, den Fenstern gegenüberliegende Seite, standen in Querrichtung zahlreiche Stühle für unsere Eltern bereit.

Nachdem das Getuschel langsam verstummte, trat Herr Mertens, unser zukünftiger Schuldirektor, vor uns, begrüßte uns und stellte sich mit freundlichen Worten vor. Die von den Fenstern hereinfallenden Sonnenstrahlen spiegelten sich auf seinem kahl werdenden Kopf. Er war noch ziemlich jung, knapp vierzig.

Herr Dr. Friedrich sprach anschließend einige Worte zu uns und wünschte viel Glück und vor allem Freude in der Schule. Nun standen die zwei Verantwortlichen der Einrichtung nebeneinander. Einfach ein putziger Anblick! Der Größenunterschied der Beiden hätte nicht deutlicher ausfallen können. Herr Friedrich war bis dato wohl der Größte vom gesamten Personal, schlank und im gesetzten Alter. Gegen ihn erschien Herr Mertens gleich zwei Köpfe kleiner. Ein kleiner Bauchansatz zeigte sich unter seinem Jackett.

Ich war völlig begeistert bei den Worten dieser Herren. Obwohl diese sehr freundlich klangen, lösten sie in mir eine gewisse Ehrfurcht aus. Mein Körper verkrampfte sich immer mehr. Ich hatte ein weißes Seidenhemd an. Vor lauter Aufregung hielt ich mich mit der rechten Hand am linken Ärmel fest. Dadurch bekam ich meine Spastik besser unter Kontrolle. In solchen Situationen ist es bei mir so (auch noch heute), dass, wenn ich nervlich sehr angespannt bin, ich schnell zu weinen anfange, egal ob vor Freude oder aus Trauer. Dieses Weinen kann ich dann in solchen Momenten kaum kontrollieren und so endet meine Angespanntheit nicht selten in lauterem Seufzen.

Meine Mutti hatte direkten Blickkontakt zu mir und so kamen in ihr die schlimmsten Befürchtungen auf, dass ich entweder gleich los schreien würde oder dass die Nähte meines Hemdes nachgeben. Doch glücklicherweise trat keine ihrer Sorgen ein!

Die Feierstunde war in meiner Erinnerung doch recht kurz. Herr Reimert, der Klassenlehrer unserer S-Klasse und die Klassenlehrerin der anderen ersten Klasse stellten sich ebenfalls vor.

Zum Ende der kleinen Feierstunde zeigte man uns das Märchen »Tischlein deck dich« in Form von Lichtbildern. Dabei löste sich meine Anspannung merklich und die Nähte meines Hemdes wurden entlastet.

Im Anschluss teilten uns unsere Lehrer auf die zwei Klassen auf. Erst jetzt wusste ich so richtig, wer eigentlich zu meiner Klasse gehört. Zwei bekannte Kinder aus der Vorschule waren darunter, Ingo und Detlef. Drei Gesichter lernte ich neu kennen, Peggy, Frank und Peter. Auch sie hatten starke körperliche Einschränkungen, sodass sie in den S-Klassen speziell gefördert werden sollten.

Die Klassenräume der ersten Klasse sowie unserer S1 befanden sich in der oberen Etage. Unsere Eltern wurden gebeten, mit uns die entsprechenden Klassenzimmer aufzusuchen. Dies ergab erst einmal ein mächtiges Gedränge auf den beiden hölzernen Treppen, die nach oben führten. Etliche Kinder mussten die Stufen hinaufgetragen werden, so auch ich. Mein Vater trug mich, gefolgt von meiner Mutti.

Die beiden Klassenzimmer lagen gegenüber. Das der S1 war das rechte am Ende des Flures. Dieses kannte ich schon, hatten wir in ihm doch am Ende der Vorschulzeit die kleine Prüfung, in der entschieden wurde, ob wir schultauglich waren und welche der beiden Klassen für uns geeignet war.

Herr Reimert nahm uns freundlich in Empfang und zeigte jedem seinen Platz. Es gab nur drei Schulbänke, die in der Mitte des Raumes hintereinander standen. Rechts hinter der Tür stand der Lehrertisch. Mittig an der dahinter grenzenden Wand sahen wir die große Tafel. Es war keine gewöhnliche, an der Wand befestigte, sondern eine auf Rädern fahrbare. Sie besaß auch keine ausklappbaren Flügel. Zwei normal große Tafeln waren durch ein Seil so miteinander verbunden, dass wenn man die vordere nach oben schob, die hintere runter fuhr. Links neben der Tür stand ein größerer Schrank, der mit Fächern unterteilt war. Hier bekam jedes Kind ein kleines Fach für seine persönlichen Sachen. Zur Tafel blickend befand sich links noch ein kleines Schränkchen, so eines wie es in vielen Kinderzimmern zu finden war und das Herrn Reimert einigen Platz für die im Unterricht benötigte Gegenstände bot.

Ich durfte mich ganz vorn in die erste Reihe auf die rechte Seite setzen. Unbemerkt hatte Herr Reimert mein Stühlchen nach der Feierstunde schnell nach oben getragen und so stand es schon für mich bereit.

In unserem Klassenzimmer lernten wir nun erstmals unsere neue Erzieherin, Frau Griebel kennen, eine kleine, zierliche Frau mit kurzen, blonden Locken und einer bräunlichen Brille. Von nun an war Frau Griebel für uns nachmittags zuständig.

Relativ schnell wurden wir Kinder ruhig. Stand für uns an diesem Tag ja noch das wichtigste bevor, nämlich die Vergabe der Zuckertüten. Alle diese bunten und heißbegehrten Tüten lagen vorn auf dem Lehrertisch. Wie meine dort hingekommen ist, konnte ich mir kaum vorstellen. Eigentlich hätte ich sie ja im Auto sehen müssen?

Herr Reimert bat jeden von uns, seinen Namen zu nennen und zu sagen, wo er wohnt. »Das ist ja schon ein bisschen wie Schule«, ging es mir durch den Kopf. Jeder gab sich richtig viel Mühe, diese kleine Aufgabe zu lösen. Ich dachte mir, umso deutlicher ich meinen Namen sprechen würde, desto größer sei meine Zuckertüte. Ich strengte mich wirklich sehr an. Doch meine Aufregung ließ kaum ein Wort aus mir heraus. Dennoch bekam ich, nachdem ich die Worte nur rausquetschen konnte, meine Zuckertüte. Frau Griebel legte sie mir auf die Schulbank. Richtig schön groß und purpurrot strahlte mich die Tüte an, prall gefüllt mit den köstlichsten Leckereien. Mir bekannte Märchenfiguren verzierten sie außerdem.

Die komplette Aufregung des Tages wich erkennbar aus mir. Freude stieg stattdessen in mir auf. Ich strahlte über das ganze Gesicht. Nun hatte ich es wirklich geschafft. Ich war ein richtiges Schulkind!

Obwohl der Trubel um die Einschulung vorüber war, stellte sich in mir eine neue Unruhe ein. Meine größte Besorgnis war, wo ich schlafen würde und vor allem was ich für ein Bett bekäme. Unten in der Vorschule lag ich noch in einem Gitterbett. In diesem fühlte ich mich geborgen. Aber nun?

Die ganze Umgebung auf der oberen Etage war für uns alle fremd. Das Jahr in der Vorschule verbrachten wir ja im Erdgeschoss. So mussten wir erst einmal unser neues Zuhause kennenlernen. Die Schlafräume befanden sich am anderen Ende des Flures. Mein Vater trug mich in den Schlafraum, in dem insgesamt fünf Betten standen. Dieser schien recht hell, da er – wie unser Klassenzimmer – über Eck lag und daher zwei Fenster hatte. Ihn sollte ich unter anderem mit Frank und Ingo teilen. Als ich auf dem Arm meines Vaters den Raum betrat, sagte er: »Na, rate mal, welches Bett ich für dich ausgesucht habe.« Drei schmale Betten reihten sich an der rechten Seite nebeneinander auf. Auf der anderen Seite standen die zwei Betten läng hintereinander, von dem das eine sofort auffiel. War es doch breiter. Ich freute mich schon auf dieses breitere Bett. Würde ich mich in ihm am sichersten fühlen. Sofort zeigte ich darauf, um somit die Frage meines Vaters zu beantworten. Meine Hoffnung auf dieses Bett trübte sich jedoch schnell. Mein Vater sagte: »Nein, dieses dort.« Er deutete in die gegenüberliegende Ecke auf eines der schmalen Betten. Ich sagte nichts, enttäuscht, dass ich nicht mein »Traumbett« bekam, war ich insgeheim aber schon. Das große breite Bett war natürlich Ingo, dem großen Lulatsch, vorbehalten.

Die Zeit verstrich. Es ging dem späten Nachmittag entgegen. Über die wichtigsten Dinge wussten wir nun Bescheid. Wir kannten unser Klassenzimmer sowie unseren Schlafraum. Um die vielen neuen Eindrücke erst einmal zu verdauen, nahmen uns unsere Eltern ein bisschen mit in den Garten. Die Sonne meinte es noch recht gut. Hier draußen trafen wir Fräulein Kleinert, meine Erzieherin aus der Vorschule. Groß war die Wiedersehensfreude. Eine mir vertraute Person anzutreffen, empfand ich in diesem Moment als sehr erleichternd. Fräulein Kleinert gratulierte mir natürlich zur Einschulung und ich erzählte ihr meine Erlebnisse in den Ferien.

Dann kam wieder der Augenblick, den ich so verdammte; das Abschiednehmen von meinen Eltern. Doch an diesem Tag fiel es mir fast leicht. Nur kleine Tränen kullerten aus meinen Augen. Zu sehr beschäftigten mich die Eindrücke des Tages und ich freute mich auf den nächsten Morgen, meinen ersten Schultag.

Behindert? - Was soll’s!

Подняться наверх