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Der Pioniergeburtstag
ОглавлениеDie Zeit in der S1 verstrich unmerklich. Draußen begann es richtig frostig zu werden und die Landschaft bedeckte sich allmählich mit Schnee.
Die immer dunkler werdenden Nachmittage verbrachten wir meist in unserem Klassenraum, der uns zugleich als Gruppenraum diente. Dreimal in der Woche war Hausaufgabennachmittag. Das wurde von der Leitung so festgelegt und galt für alle Klassen. Frau Griebel, unsere Erzieherin, löste dann mit uns die gestellten Aufgaben und übte in Absprache mit Herrn Reimert ein wenig mit uns den zuvor gelernten Unterrichtsstoff. Sie war für uns so etwas wie eine »Ersatzmutti«.
Die Zeit für die Hausaufgaben betrug in den unteren Klassen eine Stunde. So blieb danach noch etwas Zeit zum Spielen.
Die hausaufgabenfreien Nachmittage waren den so genannten außerunterrichtlichen Aktivitäten vorbehalten, die wir mehr oder weniger gern mochten. Einfach nur spielen war wohl die beliebteste dieser Beschäftigungen. Doch neben Spaziergängen zählten auch Pioniernachmittage dazu.
Um solche Nachmittage zu veranstalten, war es vorbestimmt, uns Schüler erst einmal in die Pionierorganisation aufzunehmen. Als Teil des früheren Bildungssystems war diese in Form einer politischen Kinderorganisation in das Schulleben integriert. So wurde die Aufnahme in diese Organisation fast als ein Großereignis zelebriert und uns deshalb so richtig schmackhaft gemacht, etwa nach dem Motto »Nur als Pionier bist du ein guter Schüler«. Damit wir dieser Gemeinschaft beitreten konnten, mussten wir zuvor die zehn Gebote der jungen Pioniere, nach denen wir dann zu handeln hatten, auswendig lernen. Dazu nutzte Frau Griebel fast jede freie Minute. In den Tagen vor der Aufnahme lernten wir nahezu täglich ein neues Gebot. Diese waren voll auf eine sozialistische Erziehung ausgerichtet. So hieß zum Beispiel das erste Gebot: »Wir Jungpioniere lieben unsere Deutsche Demokratische Republik.«
Am 13. Dezember begingen zu DDR-Zeiten die Schüler der ersten bis siebten Klasse den Pioniergeburtstag. Dieser wurde bei uns im großen Rahmen gefeiert und war für unsere gesamte Einrichtung immer ein besonderes Ereignis, zu diesem auch die »Großen«, die FDJler geladen waren. Extra für diesen Nachmittag wurde der riesige Saal in der Gaststätte »Brauner Hirsch« unten im Dorf gemietet. Dieser bot allen Kindern, Lehrern und Erziehern ausreichend Platz. Ein großer Bus musste gleich mehrmals fahren, um uns alle in diese Lokalität zu bringen. Es war für das Personal kein unerheblicher Aufwand, uns in und wieder aus dem Bus zu helfen.
Einem solchen Nachmittag ging stets eine einstündige Feierstunde voraus. In ihr wurde unter anderem Rechenschaft der Tätigkeiten der Pioniere abgelegt und Schüler für ihr fleißiges Lernen ausgezeichnet.
Der Pioniergeburtstag gab stets den willkommenen Anlass, die Kinder der S1 beziehungsweise der ersten Klasse in die Reihen der Pioniere aufzunehmen. So auch am 13. Dezember 1974. Nach heutiger Recherche weiß ich, dieser Tag war ein Freitag.
Aufgeregt und zappelig saßen wir nun vorn vor all den anderen Schülern in unseren neuen, noch weiß strahlenden Pionierhemden, auf dessen linken Oberarm sich das Emblem der Pionierorganisation zeigte. Die Zeremonie unserer Aufnahme übernahm die Pionierleiterin, Frau Wesel. Sie lernten wir schon in den Tagen der Vorbereitung kennen, eine hochgewachsene, schlanke, dunkelhaarige Person mittleren Alters. Ihre dicke Brille und ihr strenger Blick flößten uns allen großen Respekt ein.
Frau Wesel trat an das Rednerpult und erzählte, was von uns als Pionier erwartet wird. Nachdem sie uns noch einmal die zehn Gebote der Jungpioniere vorlas, legten wir das Gelöbnis der Jungpioniere ab. Frau Wesel sprach es uns langsam stückchenweise vor und wir sprachen es ihr nach. Wir gaben uns alle große Mühe, dabei keinen Fehler zu machen. Danach wurde uns das blaue Halstuch umgebunden und uns der Pionierausweis überreicht. Diesen hielten wir freudestrahlend in unseren Händen und waren stolz, nun ein Jungpionier zu sein.
Als so der offizielle Teil eines solchen Nachmittages vorüber war, begann eigentlich das, auf das wir uns schon die ganzen Jahre über freuten und auch herbei sehnten, Party-Time pur! Mit der Zeit wussten wir außerdem, was es zu Essen gab: Echte Leckereien, die wir so in der Schulzeit nicht bekamen. Zum Kaffee mit Schlagsahne prall gefüllte Windbeutel und abends sogar Gehacktes. Zwischen Kaffee und Abendbrot spielte richtig laut Musik, zu der wir mit unseren Erziehern und Lehrern tanzten. Das war immer der volle Gaudi. In den ersten Jahren spielte noch eine richtige Kapelle, einige Male sogar eine der Armee aus Ilsenburg. So nach und nach wurde die Live-Musik durch Diskos ersetzt. – Eigentlich schade!
Leider vergingen solche Nachmittage stets viel zu schnell. Stundenlang hätten wir noch weiter rumtanzen können. Doch nach dem uns der Bus wieder zu den entsprechenden Häusern brachte, dauerte es noch eine ganze Weile bis das Personal uns in die Betten bekam. Wir waren einfach zu aufgekratzt. Allmählich gewann die Müdigkeit, trotz anhaltender Heiterkeit, die Oberhand und wir schliefen erschöpft ein.