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Der Schulalltag begann
ОглавлениеIn der Nacht schlief ich wie ein Stein. Zu erschöpft war ich von den Ereignissen des Vortages.
Um 7.00 Uhr wurden wir in der Woche geweckt. Zu meiner Schulzeit hatte die Woche noch sechs Schultage. Es blieb also nur der Sonntag, um etwas länger schlafen zu können.
Beim Waschen und Anziehen bekamen wir Hilfe, meist vom pflegerischen Personal, denn unsere Erzieherinnen und Erzieher waren für uns in der Regel am Nachmittag da. Der Morgen gestaltete sich schon ziemlich aufregend, denn alles war so ungewohnt. Doch eine Schwester kümmerte sich liebevoll um mich, wusch mich und half mir beim Anziehen.
Unser Klassenzimmer und das der ersten Klasse waren gleichzeitig auch unsere Gruppenräume. Hier nahmen wir die Mahlzeiten ein und nachmittags dienten sie uns unter anderem als Spielzimmer. Einen Vorteil hatte dies. Wir mussten nicht ständig hin und her getragen werden. Jedoch drängte nach jedem Frühstück die Zeit, die Schulbänke, an denen wir aßen, für den Unterricht zu säubern.
Kaum war das letzte Häppchen meiner Marmeladenschnitte heruntergeschluckt, läutete eine Klingel dreimal kurz hintereinander. Wir erschraken erst einmal gemeinschaftlich. Wussten wir doch nicht, was dies bedeutete. Unsere Pflegerin, die noch die Tische abwischte, sagte uns mit einem Lächeln, dieses Läuten sei das Zeichen, dass der Unterricht in wenigen Minuten beginnen werde. Sie hatte diese Worte noch nicht ganz ausgesprochen, da betrat schon Herr Reimert ziemlich hastig unseren Klassenraum. Schnell sagte er, dass die Klassenlehrerin der benachbarten ersten Klasse krank sei und beide Klassen zunächst ein paar Tage gemeinsam Unterricht haben werden.
Ein kleines Durcheinander kam auf. Wir Schüler der S1 mussten rüber in den Raum der ersten Klasse. Die Bänke reichten für uns alle aus. Nur ein paar Stühle wurden hinüber getragen. Schließlich fanden wir alle einen Platz und unsere erste richtige Schulstunde begann.
Einfühlsam führte uns Herr Reimert in die Kunst des Lesens ein. Schon aus den ersten zwei gelernten Buchstaben konnten wir ein Wort bilden, welches uns sehr geläufig war: »MAMA«. Das war schon einmal ein Erfolg!
Im Gegensatz zur ersten Stunde empfand ich die zweite als spielend leicht; Mathematik. Rechnen im Kopf kannte ich schon aus der Vorschule und bereitete mir so keine Mühe.
Nach der großen Pause lernten wir einen neuen Lehrer kennen, Herrn Vasek, unseren zukünftigen Musiklehrer. Er war ein stattlich hochgewachsener und dynamisch junger Mann mit einem schwarzen Vollbart. Über seiner Schulter hing ein Akkordeon. Das erweckte in uns erst mal einen Eindruck von Gelassenheit. Obwohl auch er gefühlvoll mit uns redete und uns auf lustige Art und Weise erzählte, was in so einer Musikstunde alles gelernt werde, wirkte er auf mich doch ziemlich streng. Gleich in der ersten Musikstunde lernten wir ein Lied. Passend zum Tag: »Hurra, ich bin ein Schulkind« (die Melodie zu »Ein Männlein steht im Walde«). Herr Vasek sang es uns stückchenweise vor und wir sollten es nachsingen. Das war gar nicht so einfach, sich so viel Text auf einmal zu merken. Wir hatten ja noch kein Buch, aus dem wir den Text hätten ablesen können. Wir kannten ja gerade mal zwei Buchstaben. Irgendwie bekam ich das Gefühl, dass es Herrn Vasek gar nicht gefiel, wenn wir mal eine Liedzeile vergaßen.
Nach ein paar Tagen gewöhnten wir uns fast schon an den gemeinschaftlichen Unterricht mit den Kindern der ersten Klasse. Als dann recht bald dessen Klassenlehrerin wieder gesund wurde, zogen wir Schüler der Klasse S1 zurück in unseren Klassenraum.
Von nun an hatten wir Herrn Reimert für uns alleine und konnten ihn richtig kennenlernen. Seine schlanke und recht große Figur, vor allem aber die grau werdenden Haare wirkten auf mich recht weise. Die ruhige, doch zielstrebige Art, mit uns Kindern umzugehen, erzeugte in mir eine Art Geborgenheit. Er vermittelte den Eindruck, eine große Portion Lebenserfahrung mitzubringen. Und diese, seine eigenen Lebenserfahrungen, schien er bei mir auch fast täglich zu brauchen. Auf Grund meiner starken Spastik benötigte ich für fast alle Dinge, die den schulischen Alltag betrafen, spezielle Hilfsmittel. Mit deren Standardausführungen kam ich meistens nicht zurecht. Ich brauchte Sonderanfertigungen, die es nirgendwo gab und daher immer extra angefertigt werden mussten. So war ich für Herrn Reimert offensichtlich der ideale Schüler. An mir konnte er sein ganzes handwerkliches Geschick fortwährend unter Beweis stellen.