Читать книгу Die Flamme von Hali - Marion Zimmer Bradley - Страница 10
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ОглавлениеEduin blieb vor der verwitterten Tür stehen, eine Hand erhoben. Es war dumm, hierher zurückzukehren wie eine Motte zur Kerzenflamme, aber ein tiefer, wortloser Impuls hatte sich über alle Vernunft hinweggesetzt, über alle Überlebensinstinkte. Vielleicht brachte er es nach so vielen fahren ohne Hoffnung, so vielen Jahren des langen, finsteren Abstiegs in die Verzweiflung, einfach nicht fertig, sich von dieser einzigen strahlenden Erinnerung loszureißen, von diesem Bild der Chieri, die unter den Monden tanzten, und der Erinnerung, einer von ihnen gewesen zu sein.
Bevor Eduin klopfen konnte, wurde die Tür geöffnet. Saravio stand vor ihm, die Kapuze ein wenig schief über das rote Haar gezogen, als hätte er sie gerade erst aufgesetzt. Er packte Eduin vorn an der Jacke, an der immer noch Strohreste hingen, und zog ihn nach drinnen. »Sind sie dir gefolgt?«
»Niemand folgt mir.«
»Bist du sicher?«
»Ja, ich bin sicher.« Eduin trat einen Schritt zurück und zog Saravios Hände von seiner Jacke. »Glaubst du, ich würde es nicht wissen?«
»Ja, selbstverständlich. Du würdest es wissen.« Saravios Haltung wurde nachgiebiger. »Hast du Hunger?«, fragte er, als wäre Eduin erst vor ein paar Stunden weggegangen und nicht vor vier Tagen.
Saravio teilte den Laib Brot und bedeutete Eduin, sich neben ihn auf den Strohsack zu setzen. Eduin biss in das Brot und fand unter der trockenen Kruste eine dichte, zähe Masse. Gemahlene Nüsse und angenehm bittere Körner waren in den Teig gemischt. Er wusste aus Erfahrung, dass eine solche Mischung eine lange Zeit sättigte.
Hinter seinen Augen drängte der Zwang. Versagt... Du hast versagt...
Die beiden begannen sich zu unterhalten, aber Eduin blieb vorsichtig. Sie sprachen über unwichtige Dinge, das trockene Nussbrot, das Wetter an diesem Tag, der Preis für Salz. Eduin erfuhr, wie Saravio seinen Lebensunterhalt verdiente. Seine Stimme war zwar nicht ungewöhnlich, aber er hatte hier und da ein paar Münzen verdient, indem er für Kranke sang. Die Gefährtin des Mannes, der das Gasthaus Zur weißen Feder betrieb, hatte eine Tochter gehabt, die an einer auszehrenden Krankheit gestorben war. Dieses Kind hatte vor Schmerzen nicht schlafen können. Die Mutter hatte nichts tun können, denn sie hatte nicht genug Geld für einen der Ärzte in der Stadt gehabt, nicht zu reden von den viel höheren Honoraren der wenigen Leronyn, die bereit waren, solche Arbeit anzunehmen.
»Konntest du nichts für sie tun?«, fragte Eduin. Saravio war doch sicher wie jeder andere Laranzu auch als Überwacher ausgebildet worden. Vielleicht hatte er diese Fähigkeiten sogar eingesetzt, wenn auch auf ungewöhnliche Weise, um Eduins Zwang eine Weile zu mildern.
Saravio schüttelte den Kopf. »Naotalba wünschte es nicht. Ich weiß nicht, welche Pläne sie für das Kind hatte, wieso sie sie in die Arme Von Avarra, der dunklen Herrin, legte. Aber in ihrer Gnade hat Naotalba mir erlaubt, den Schmerz des Kindes zu lindern.«
Naotalba? Eduin blinzelte und war einen Augenblick vollkommen verblüfft. Von allen möglichen Erklärungen für Saravios geheimnisvolles Verhalten war dies die unerwartetste.
Wie jeder andere gebildete Bewohner von Darkover kannte Eduin die Legenden von Naotalba, der Unglückseligen, der Braut Zandrus. Sie war vielleicht einmal ein Mensch gewesen, ein Opfer an den Herrn der sieben gefrorenen Höllen. Ihr Name wurde nun als Fluch benutzt, und man ging davon aus, dass es einer unverheirateten Frau Unglück brachte, sich wie sie in Mitternachtsschwarz zu kleiden, die Farbe eines sternenlosen Himmels. Eine andere, hoffnungsvollere Version berichtete, dass sie so schön gewesen war und ihre Trauer darüber, die Welt verlassen zu müssen, so groß, dass Zandru ihr gestattete, jeweils für die Hälfte des Jahres zurückzukehren, und dann brachte sie den Frühling und den Sommer.
Eduin hatte sich nie besonders mit diesen Geschichten beschäftigt. Das war alles abergläubischer Unsinn. Was konnte eine mythische Halbgöttin mit der Heilung eines kranken Kindes zu tun haben?
»Sie ist zu mir gekommen«, berichtete Saravio, der nun die Augen geschlossen und den Kopf zurückgelegt hatte, sich leicht hin und her wiegte. »Sie hat mit mir gesprochen. Sie hat die ganze Welt vor mir ausgebreitet wie einen Wandbehang. Sie versprach, dass sie mir gehören würde, wenn ich tat, was sie verlangte. Am nächsten Morgen erwachte ich mit ihrem Kuss auf meiner Stirn.«
Er fuhr sich mit der Hand über die bleiche Stirn. »Ich allein war auserwählt, ihr Streiter zu sein. Sie hat mir aufgetragen, den Schmerz der Welt zu heilen. Mir allein hat sie dieses Geschenk gewährt. Ich ging mit den Neuigkeiten zu meinem Bewahrer, denn damals glaubte ich immer noch, dass es Hoffnung für die Türme gab.«
Eduin wich unwillkürlich zurück. Er konnte sich die Reaktion von Auster von Arilinn oder von Hestrals Bewahrer Loryn Ardais oder selbst von Varzil Ridenow, der nun in Neskaya herrschte, auf eine solche Ankündigung gut vorstellen. Geistige Stabilität war für die Matrix-Arbeit von entscheidender Wichtigkeit, und kein Mensch, der bei Verstand war, behauptete, mit Göttern zu kommunizieren.
Aber warum eigentlich nicht?, dachte er. Der Skorpiongeist seines toten Vaters träufelte jede Nacht sein Gift in seine Ohren.
Saravio öffnete die Augen wieder und ballte die Fäuste. »Weißt du, was sie gesagt haben? Sie haben mir verboten, Naotalbas Geschenk zu nutzen! Sie haben mich ausgestoßen! Und warum? Wegen einer idiotischen Regelung, die besagt, dass man sich nicht in den Geist eines anderen einmischen darf. Als ob Zandrus Braut an ihre kleinliche Tyrannei gebunden wäre!«
Sich nicht einmischen... Eduin verspürte einen Augenblick lang Panik, denn das grundlegendste Gesetz der Laran-Arbeit schrieb vor, niemals ungebeten in die Gedanken eines anderen einzudringen. Das hatte er schon an seinem ersten Tag der Ausbildung in Arilinn geschworen.
Und bei der Belagerung von Hestral habe ich diesen Schwur gebrochen, erinnerte er sich. Aber war das wirklich so schlimm? Er hatte der Belagerung ein Ende gemacht und den Turm gerettet. Es lag nur an Varzil Ridenows gnadenlosem Groll, dass man ihn nicht als Helden gefeiert und zum Bewahrer gemacht hatte. Was Eduin getan hatte, würde unter Carolins Pakt doppelt ungesetzlich sein, denn diese Übereinkunft verbot sowohl jede Benutzung psychischen Zwangs als auch jede Waffe, die töten konnte, ohne ihren Benutzer der gleichen Gefahr auszusetzen. Eduin hielt diese Idee für lächerlich. Die Menschen würden stets alle Macht einsetzen, die ihnen zur Verfügung stand, selbst wenn sie sich auf eine eingebildete Gestalt berufen mussten, um das zu rechtfertigen.
Und dennoch...
Er erinnerte sich daran, was Auster, der Bewahrer, der ihn ausgebildet hatte, gesagt hatte: dass Menschen Mythen und Legenden erfanden, um zu erklären, was sie nicht verstehen konnten. Wenn er den Bann spürte, mit dem sein Vater ihn belegt hatte, stellte er ihn sich manchmal als Schraubstock aus Eis vor, der seine Schläfen einzwängte, und manchmal als ein sich langsam drehendes Messer in seinen Eingeweiden. Vielleicht stellte sich Saravio ja vor, dem Willen der Halbgöttin entsprechend zu handeln, wenn er seine Heilerarbeit leistete. Und einem sterbenden Kind die Schmerzen erträglicher zu machen war doch sicher etwas Gutes.
Sein Interesse war geweckt, und er fragte: »Worin genau besteht Naotalbas Geschenk? Wie hast du es benutzt, um dem Kind zu helfen?«
Zur Antwort schloss Saravio die Augen und begann zu summen. Er traf nicht immer den richtigen Ton, aber Eduin erkannte ein populäres Lied. Die Melodie wäre für das Kind eines Wirts sicher vertraut und tröstlich. Vielleicht hatte die Mutter es ihm als Schlaflied vorgesungen.
»Des Morgens steigt die Lerche auf, Beginnt damit den Tageslauf, Flattert durch das Himmelsblau Und kehrt zurück, die Brust voll Tau...«
Während er zuhörte, spürte Eduin, wie seine eigenen Muskeln weicher wurden und sich entspannten. Der Muskelkater von der ungewohnten schweren körperlichen Arbeit schwand, und stattdessen breitete sich Wärme in seinen Gliedern aus. Sein Bauch fühlte sich so voll an, als wäre er gerade von einem Festbankett aufgestanden. Der dumpfe Druck in seinem Kopf löste sich, und in seinem Schädel hörte er nur noch die leise Melodie. Unwillkürlich begann er zu lächeln. Es gab zweifellos nichts Schöneres, als hier zu sitzen, umgeben und erfüllt von dieser Musik. Er konnte sich nicht erinnern, sich je so sicher, so zufrieden, so glückselig gefühlt zu haben. Das verknotete Eis in seinem Bauch verflüchtigte sich wie Nebel über Sommerfeldern. Die zischelnde Skorpionstimme in seinem Kopf schwieg vollkommen. Eine Welle unaussprechlicher Erleichterung durchflutete ihn. Tränen traten ihm in die Augen. Aus seinen Lenden stieg angenehme Hitze auf.
Angenehm...
Was im Namen aller Götter tat Saravio da?
Eduin wurde ruckartig aufmerksam und errichtete seine geistigen Barrieren. Das Gefühl körperlicher Erregung verschwand. Er holte keuchend Luft und erkannte, dass er leise geweint hatte. Saravio sang immer noch halb, halb summte er, und seine Worte waren kaum zu verstehen.
»Was...«, stotterte Eduin. »Was machst du mit mir?«
Saravio begegnete seinem Blick mit einem unschuldigen Ausdruck, in dem es keine Spur von Heimtücke gab. »Mit dir? Ich habe dich aus dem Schneesturm hereingebracht.«
»Du hast für mich gesungen, nicht wahr? Genau wie für das Kind. Genau wie gerade jetzt, oder?«
»Du warst im Delirium und hättest dich vielleicht verletzt. Ich habe gesungen, um dich zu beruhigen. Es hat dir keinen Schaden zugefügt, ebenso wenig wie der Tochter des Wirts.«
»Das ist alles? Du hast... nur für mich gesungen?«
Wieder dieser arglose Blick, wie der eines Kindes. »Ja. Es sei denn... Du meinst wahrscheinlich das Kirian. Ich hatte noch ein wenig übrig. Bist du böse, weil ich es dir gegeben habe, ohne dich vorher zu fragen? Wir sind beide nicht an die Regeln eines Turms gebunden.«
»Nein, ich bin nicht böse«, sagte Eduin.
Das Kirian allein wäre nicht gegen den Zwang angekommen. Saravio war entweder ein hervorragender Lügner mit dem besten Laran-Schild auf Darkover, oder er wusste wirklich nicht, was er getan hatte.
Saravio zuckte die Achseln. »Wie du gehört hast, bin ich nicht gerade der beste Sänger. Dennoch, es war ehrliche Arbeit und hat mir genug für diesen Raum, Essen und ein wenig Wärme eingebracht. Ich brauche nicht viel. Am Ende hat Avarra das Kind an ihre Brust genommen, und ich hatte nicht das Herz, für einen anderen zu singen. An dem Tag, an dem ich dich gefunden habe, hat mir ein Mann vor der Kornkammer des Königs eine Münze gegeben. Ich frage mich, ob er mich wohl für einen Bettler hielt. Er hätte es besser wissen sollen, denn er verstand die Probleme dieser Stadt, die nur Naotalba retten kann. Aber leider hatte Naotalba seine Augen nicht so geöffnet wie die meinen.«
Bevor Eduin noch weitere Fragen stellen konnte, beugte sich Saravio dichter zu ihm. Seine Augen glühten wie von einem dunklen Feuer. Er senkte die Stimme, die nun vor Intensität bebte. »Ich kann dir vertrauen. Du weißt, was es bedeutet, sich verstecken zu müssen und verfolgt zu werden, wenn man die Wahrheit sagt.«
Eduin nickte, obwohl er nicht vollkommen sicher war, wovon Saravio sprach. Sein Kopf mochte ein wenig klarer sein als seit langer Zeit, aber er hatte immer noch Schwierigkeiten zu denken. Das Lied klang noch in ihm nach, ließ ihn in verträumte Mattigkeit sinken.
»Ich glaube, dass Naotalba auch zu dir gesprochen hat«, flüsterte Saravio, und sein Atem zischelte zwischen seinen Lippen. »Bis jetzt war ich der Einzige, der sich gegen ihre Feinde stellen konnte, und du hast gesehen, was aus mir geworden ist. Ich lebe in diesem Rattenloch, abhängig von der Wohltätigkeit anderer, und habe keinen einzigen Menschen, der mir folgt und die Wahrheit hört. Ich sage dir, mein Freund, mehr als einmal war ich schon der Verzweiflung nahe. Aber Naotalba sorgt für ihren Diener. Sie hat dich zu mir gebracht.« Saravio packte Eduins Schultern und schob sein Gesicht ganz dicht vor das von Eduin. Schweiß brach auf Saravios Stirn aus, und seine Augen traten hervor, sodass winzige rote Blutgefäße zu erkennen waren. »Sie hat dich doch zu mir gebracht? Oder... oder wurdest du geschickt, um ihr Werk zu zerstören? Antworte schnell!«
Nun zitterte er noch heftiger, und seine Wangen waren dunkelrot angelaufen. Er bohrte die Finger wie Krallen in Eduins Hals.
Eduin spürte, dass sich wieder Druck gegen seine geistigen Schilde aufbaute. Wenn er nicht die richtige Antwort gab, würde Saravio ihn vielleicht erwürgen.
Du hast Recht, sie hat mich zu dir geschickt, antwortete er von Geist zu Geist, sodass Saravio ihn nicht einer Lüge bezichtigen konnte. Er benutzte die Deslucido-Gabe, wie sein Vater ihn gelehrt hatte, die Gabe, die es ermöglichte, selbst unter einem Wahrheitsbann zu lügen und seine Gedanken so zu formen, dass sie vollkommen ehrlich wirkten.
Lange Zeit reagierte Saravio nicht. Eduin fragte sich schon, ob er das Falsche gesagt hatte. Vielleicht war Saravio so aufgeregt, dass er die geistige Botschaft nicht wahrgenommen hatte. Dann ließ der Druck an seiner Kehle nach.
»Du hast ihre Prüfung bestanden, als du mich geheilt hast«, keuchte Eduin. »Und jetzt bin ich hier..., um dich anzuleiten... bei deinem großen Werk.«
»Ich wusste es!«, rief Saravio triumphierend und ließ Eduin los. »Ich wusste, dass sie ihren Auserwählten nicht im Stich lassen würde!«
Nun gut, dachte Eduin, während er sich den Nacken rieb, und achtete darauf, dass keine Spur seiner Gedanken durch seine Barrieren drang. Naotalba oder irgendeine andere Göttin, was zählt das dieser Tage schon?
Lange Zeit hatte sein einziges Ziel darin bestanden, sich von einem Auftrag zu befreien, den er unmöglich erfüllen konnte. Als bettelarmer Flüchtling ohne eine Möglichkeit, seinen Lebensunterhalt zu verdienen – es sei denn mit Fähigkeiten, die ihn verraten hätten –, hatte er keinerlei Gelegenheit gehabt, König Carolin zu töten. Nun verspürte er zum ersten Mal wieder so etwas wie Hoffnung – Hoffnung, dass er sich mithilfe dieses Fremden, wie seltsam er auch sein mochte, für immer von dem Fluch befreien konnte, mit dem sein Vater ihn auf dem Totenbett bedacht hatte.
»Ich wusste es – ich wusste es einfach!«, wiederholte Saravio und hüpfte auf dem Strohsack auf und ab wie ein kleines Kind. »Ich wusste es einfach!«
Dunkle Avarra, er ist nicht nur seltsam, er ist vollkommen verrückt!
Eduin stand auf, denn er hielt es für sicherer, für eine Weile zu verschwinden. Er hatte bereits genug von Saravios Stimmungsschwankungen erlebt, um eine Vorstellung davon zu bekommen, wie unsicher, wie gefährlich sein Gemüt war. Bevor Eduin sich jedoch der Tür zuwenden konnte, erstarrte Saravio. Seine Augen traten noch weiter hervor, und das Weiß stand in starkem Kontrast zu seinen rot angelaufenen Wangen. Er bog sich nach hinten durch und fiel mit einem lauten Krachen auf den Strohsack. Einen Augenblick lag er dort so reglos, als wäre er tot.
Die Tür war nur ein oder zwei Schritte entfernt. Eduin hätte sofort verschwinden, sich in der vertrauten Anonymität der Straßen und Gassen verlieren können. Jeder Instinkt schrie ihm zu, er solle fliehen und sich verstecken. Ihm blieben vielleicht noch ein paar Stunden oder sogar Tage, bevor der Zwang zurückkehrte. Dennoch, er zögerte.
Saravios nächster Atemzug war ein heiseres Keuchen. Er bog den Rücken so durch, dass er nur noch auf dem Hinterkopf und der Hüfte ruhte.
Eduin war in Arilinn, in einem der ältesten, geachtetsten Türme auf Darkover, auch als Überwacher ausgebildet worden. Er hatte seit vielen Jahren nichts so Kompliziertes getan, wie mithilfe von Laran eine Diagnose zu stellen und einen Kranken zu heilen, aber er hatte die Techniken nicht vergessen.
Tu nichts, was Aufmerksamkeit auf dich zieht, drängten ihn seine Jahre des Lebens als Gesetzloser. Verbirg, wer du bist und was du tun kannst.
Saravio wurde von Zuckungen geschüttelt, und jede Welle fand ihren Höhepunkt in einem Krampf. Er verdrehte die Augen, fletschte die Zähne. Er schlug und trat wild um sich, erstarrte dann wieder einen Augenblick und begann erneut zu zucken. Seine Zähne krachten fest aufeinander. Kein Atem drang zwischen den weit zurückgezogenen Lippen hervor.
Selbst durch seine geistigen Barrieren spürte Eduin das wilde Chaos im Nervensystem des anderen Mannes, die Qual seiner verkrampften Muskeln, die Lunge, die nach Luft schrie, das hektische Schlagen des Herzens.
Er holte tief Luft. Dieser Mann hatte ihn vor dem sicheren Tod im Schnee gerettet und ihm etwas Unvorstellbares geschenkt. Er konnte nicht einfach davongehen.
Er hockte sich neben den Strohsack und nestelte in seinem Gürtel nach dem Sternenstein. Sobald der Kristall in Kontakt mit Eduins bloßer Haut kam, wurde er warm. Die Welt veränderte sich. Es war so lange her, seit Eduin sein Laran benutzt hatte, dass er wie blind geworden war. Nun nahm sein bewusster Geist jede Einzelheit, jede strahlende Nuance von Farbe und Struktur, von Geruch und Klang und Empfindung deutlich wahr. Er schloss die Augen, ignorierte das Brennen neuer Tränen.
Ohne körperlich sehen zu können, benutzte er seinen Sternenstein, um seine Laran-Sinne zu verstärken, und konzentrierte sich stärker. Saravios Energiekörper brannte wie eine Flamme. Die Kanäle und Knoten, durch die die geistigen Kräfte verliefen, erschienen in hellen Farben – Rot und Orange, grelles Weiß und mattes Braun. Das Leuchten zeigte die beträchtliche Kraft von Saravios Laran.
Eduin hatte selten eine solche Unordnung, einen solchen Zusammenbruch des normalen Gleichgewichts gesehen. Farben bissen sich, besonders in den Zentren am Hirnstamm. Der Knoten unten am Schädel pulsierte heftig und produzierte Funken, die Übelkeit erregend an Haftfeuer erinnerten. Wann immer sie etwas berührten, hinterließen sie klaffende, dunkle Löcher in Saravios Energiekörper.
Eduin suchte in seiner Erinnerung nach einem ähnlichen Muster. Einmal, in seinem ersten Jahr als qualifizierter Matrix-Techniker, hatte er bei der Behandlung einer Frau mit Fallsucht geholfen. Zu unvorhersehbaren Zeitpunkten verlor sie das Bewusstsein, ihr Körper begann unkontrolliert zu zucken, und danach war sie zerschlagen und erschöpft, erinnerte sich aber nicht an das, was geschehen war. Ansonsten hatte sie normal gewirkt, wenn man einmal von den seltsamen neuralen Kurzschlüssen absah.
Eduin öffnete die Augen. Die Haut um Saravios Mund war bläulich; wenn er nicht bald begann, wieder zu atmen, würde er nicht mehr lange leben, und auch sein Herz drohte unter der Anstrengung aufzugeben.
Eduin spreizte die Finger und streckte die freie Hand aus, um den anderen Mann besser untersuchen zu können. Normalerweise hätte er körperlichen Kontakt mit seinem Patienten vermieden. Es war zu leicht, sich durch direkte Berührung in die Irre führen zu lassen.
In diesem Augenblick zuckte Saravios Oberkörper nach oben und verkrampfte sich so, dass er die Arme um Eduins Hals schlang. Hände drückten mit eiserner Kraft auf Eduins Schultern und zogen ihn nach unten. Verzweifelt wollte er sich wieder hochstemmen, aber das hatte keinen Sinn. Saravio hielt ihn fest. Panik erfasste ihn. Er rang nach Luft. Der vermischte Gestank von Schweiß und Entsetzen drang ihm in die Nase.
Irgendwie gelang es Eduin, die freie Hand vor die eigene Schulter zu zwängen. Keuchend drückte er, so fest er konnte. Seine Hand rutschte an Saravios Brustkorb nach oben. Unter seinen Fingern spürte er das angespannte Kinn des anderen Mannes. Er bog die Finger um Saravios untere Gesichtshälfte. Wenn er sich nur mit den Hirnzentren in Verbindung setzen könnte, die die Muskeln des anderen Mannes beherrschten! Selbst ein winziger Augenblick der Entspannung würde ihm erlauben, sich loszureißen.
Er formte sein Laran zu einer Speerspitze, um den Tumult zu durchdringen.
Beinahe ohne Anstrengung konnte sich Eduin über die wirren Barrieren des anderen Mannes hinwegsetzen. Grelle, lebhafte Bilder zuckten vor seinem geistigen Auge auf. Er sah kurz einen Turm, der sich im Licht eines Blitzes vor dem dunklen Himmel abzeichnete, dann einen Schneesturm von wirbelndem Grau und Weiß, einen Fluss mit Hochwasser und eine Gestalt in einem langen, dunklen Umhang. Der Schnee verschwand, und nun war nur die Gestalt geblieben, die sich langsam zu ihm umdrehte.
Er erkannte, dass es eine Frau war, als Hände so bleich wie Schnee die Kapuze zurückzogen. Sie hob den Kopf. Ihr Haar war tiefschwarz, umrahmte die makellose Stirn, und ihre Haut schimmerte wie Perlen. Eine winzige Spur von Rosa auf ihren Wangen und Lippen war die einzige sichtbare Farbe. Graue Augen betrachteten Eduin forschend, und dennoch wusste er, dass sie ihn nicht sehen konnte.
Ihre Schönheit war herzzerreißend, und dennoch empfand Eduin nur Mitleid, als er sie ansah. Mitleid, dass eine solche Frau nicht mehr auf der Erde wandelte, sondern in die sieben gefrorenen Höllen absteigen musste.
Ihre Lippen bewegten sich; vielleicht sagte sie Adelandeyo, geh mit den Göttern – ein förmlicher Abschiedsgruß bei den Comyn.
Und tatsächlich hatte sie mit den Göttern gehen müssen.
Naotalba.
Eduin wiederholte ihren Namen. Er fürchtete, wenn sie ihm antwortete, wenn sie seinen eigenen Namen riefe, würde sein Herz zerspringen.
Dann erhob sich eine Windbö. Sie peitschte Naotalbas grauen Umhang, wirbelte den Schnee zu ihren Füßen zu einem glitzernden Schleier auf. Zuerst verschwand ihr Körper, dann das bleiche Oval ihres Gesichts. Ihr dunkler Umhang bauschte sich, wurde größer, bis er aussah wie ein riesiges Maul, das sich öffnete, um die ganze Welt zu verschlingen. Ringsumher tobte der Wind, Massen von Schneeregen und Dunkelheit, viel schlimmer als jeder Schneesturm in den Hellers. Eduin wurde Zeuge eines Unwetters, das kein Mensch überleben konnte, eines Mahlstroms direkt aus Zandrus kältester Hölle. Und er wollte ihn verschlingen...
NAOTALBA! NAOTALBA!
Klauen wie gefrorene Dunkelheit drangen in ihn ein. Voller Entsetzen warf er sich zurück. Die psychische Substanz seines Körpers streckte sich und riss. Ein blechernes Scheppern hallte in ihm wider.
Eduin fand sich in seinem eigenen Körper auf dem Holzboden liegend. Seine ausgestreckten Beine zuckten einen Augenblick. Dann stand er auf. Er fuhr mit zitternden Fingern über sein Gesicht und spürte, dass seine Haut feucht und heiß war wie bei einem Fieber. Er griff nach dem schmutzigen Stück Seide und steckte seinen Sternenstein weg. Schwer atmend blickte er hinab auf den Mann auf dem Strohsack.
Saravio lag auf dem Rücken und atmete tief und gleichmäßig. Die bläuliche Färbung seiner Lippen war verschwunden, und noch während Eduin zusah, schwand auch die eiserne Anspannung aus seinen Muskeln. Saravios Züge entspannten sich, und er sah aus wie ein schlafendes Kind.
Eduin spürte, wie das Blut ihm in den Ohren rauschte, und Schweiß lief ihm über Hals, Brust und Rücken. Nach und nach wich sein Entsetzen dem Mitleid. Er kannte Geschmack und Gewicht von Besessenheit, die Bitterkeit einer solchen Versklavung. Wie musste es sein, Tag um Tag mit solchen Visionen zu leben, ausgestoßen von dem Turm, der seine beste Hoffung auf Heilung war?
Wenn Eduin eine Chance haben wollte, den Fluch seines Vaters zu beenden, musste er eine Möglichkeit finden, diesem armen verrückten Mann zu helfen. Er murmelte ein Gebet, das er lange vergessen geglaubt hatte, und schlüpfte nach draußen.
Später, als die Abenddämmerung begann, die Stadtschluchten zu verdunkeln, kehrte er in Saravios Zimmer zurück. Es sah alles ganz ähnlich aus wie zu dem Zeitpunkt, als er gegangen war, aber Saravio lag auf der Seite, die Knie angezogen und der Kopf auf dem ausgestreckten Arm ruhend; er atmete tief und gleichmäßig. Eduin spürte das alles eher, als dass er es sah. Die verbeulte Laterne, die er mit einem Teil seines Lohns gekauft hatte, warf ein schwaches Licht. In der anderen Hand hatte er ein Stück Nussbrot, das billigste, was er hatte finden können, und einen Wasserschlauch. Es hatte all seine Entschlossenheit gebraucht, den Schlauch nicht mit Bier zu füllen.
Mit einem müden Seufzer stellte er die Laterne auf den Tisch und setzte sich auf den Strohsack. Er legte eine Hand auf Saravios Schulter. Der körperliche Kontakt überflutete ihn mit Laran-Wahrnehmungen. Während Saravio schlief, setzte sein Hirn seine Heilung fort. Wellen von Energie bewegten sich langsam, aber stetig durch die überlappenden Systeme von Nervengewebe und Energonkanälen.
Eduin benutzte eine geistige Sonde, einen schlichten telepathischen Gedanken. Er hätte für Saravios erwachenden Geist so klar sein sollen wie ein gesprochenes Wort, aber es gab keine Reaktion, nicht einmal eine Spur von Wahrnehmung. Eduin hatte das auch nicht erwartet.
Er schüttelte Saravios Schulter sanft. Der Mann schlug die Augen auf.
»Du bist es. Ich habe geträumt... Naotalba...«
»Ja, du bist jetzt in Ordnung. Und du musst etwas essen.« Sanft half Eduin ihm, sich hinzusetzen.
Wie ein gehorsames Kind nahm Saravio Stückchen von Brot entgegen und trank das Wasser in kleinen Schlucken. Er kaute die ersten Bissen zögernd, als hätte er vergessen, wie man das machte. Als Eduin eine telepathische Botschaft schickte, bemerkte er bei Saravio keine Anzeichen, sei es geistig oder körperlich, dass er sie wahrgenommen hatte.
Das kleine Experiment bestätigte Eduins Befürchtungen. Den ganzen Tag, während er im Mietstall am Stadtrand Boxen ausgemistet hatte, hatte er über die Ereignisse dieses Morgens nachgedacht.
Worin Saravios Begabung auch bestanden hatte, als er sich noch in Cedestri befand und bevor Naotalba ihm »erschienen« war, er war jetzt gegenüber telepathischem Kontakt so blind wie jeder gewöhnliche Mensch. Verbunden mit seinem Wahn und dem unberechenbaren Temperament würde ihn das unfähig machen, in einem Matrix-Kreis zu arbeiten.
Eduin nahm an, was immer die Anfälle bewirkte, hatte auch den Teil von Saravios Hirn zerstört, der für den Empfang von Telepathie verantwortlich war. Saravio schien keine Ahnung von seiner außergewöhnlichen Empathieübertragung zu haben, von dieser Fähigkeit, kurzfristig Eduins Zwangsbann zu lockern.
Wir sind von der gleichen Art, dachte Eduin mit einer Spur ungewohnten Mitgefühls. Beide ohne unser Zutun verkrüppelt. Vielleicht können wir gemeinsam wie ein zusammengeflickter Mann funktionieren und durch die Welt hinken. Nein, erkannte er, er würde sich nicht mehr mit einer Halbexistenz im Schatten zufrieden geben müssen. Nun versprach das Leben wieder so viel mehr.
Emotionen, heiß und strahlend, drohten Eduin die Kehle zuzuschnüren. Zum ersten Mal seit Jahren des Versteckens hatte er einen Freund, einen Verbündeten. Er würde Augenblicke der Freiheit erfahren und in dieser Zeit Gelegenheit haben zu denken, zu planen, über die Gosse hinauszugreifen. Vielleicht konnte er auch Saravio helfen, Frieden und einen Nutzen für seine ungewöhnliche Begabung zu finden. Das wäre ein gerechter Austausch.