Читать книгу Die Flamme von Hali - Marion Zimmer Bradley - Страница 16

8

Оглавление

Bald schon erfuhr der Turm, dass König Carolin zutiefst besorgt über die Entwicklung einer neuen Laran-Waffe war und Varzil Ridenow um Hilfe gebeten hatte. Varzil hatte seinerseits Raimon davon unterrichtet, dass er so schnell wie möglich von Neskaya nach Hali kommen würde.

Als sie hörten, dass Varzil auf dem Weg war, wurden alle im Turm von einer Erleichterung erfasst, die an Euphorie grenzte. Insgeheim misstraute Dyannis jedoch der Zuversicht der anderen. Für ihre Kollegen hatte Varzil beinahe legendären Status – der Bewahrer, der während des Angriffs von Hali auf den Turm von Hestral im Glanz von Aldones erschienen war, dessen Einsicht und Überredungskraft eine Katastrophe von den Ausmaßen der Vernichtung von Tramontana und Neskaya vor nur einer Generation verhindert hatte.

Aber es gab andere, die ihn für einen schwachen, schwafelnden Beschwichtiger hielten, der einfach nicht die Kraft hatte, Krieg zu führen. Sie misstrauten seinen Motiven und hielten den Pakt für einen Trick, eine Dummheit, die zur Vernichtung führen würde, für die Hinterhältigkeit eines Feiglings.

Dyannis kannte die aufbrausende Natur ihres Bruders und wusste, dass es viel mehr Mut brauchte, unbewaffnet durch Länder zu ziehen, die von Hass zerrissen wurden, als hinter den wieder errichteten Mauern von Neskaya das sichere und bequeme Leben eines gewöhnlichen Bewahrers zu führen.

Er wird, kommen, weil wir ihn brauchen, weil Carolin ihn braucht, dachte sie. Er wird nicht an die Gefahr denken.

Was, fragte sie sich, würde sie an seiner Stelle tun?

Die nächsten paar Zehntage gingen rasch vorbei, während sie auf Varzil warteten. Die Schneeschmelze und der Frühlingsregen verlangsamten alles Reisen. Varzil musste zu Pferd durch die Hellers und hinunter nach Acosta ziehen, wohin Carolin ihm einen Luftwagen schicken würde. Die gefährlichen Windströmungen machten es unmöglich, Luftwagen in den Bergen einzusetzen, selbst in den milderen Jahreszeiten.

Inzwischen bereitete sich Dyannis auf ihre Schicht in der Überwelt vor, wo die Arbeiter von Hali abwechselnd das Gebäude überwachten, das der Turm von Cedestri errichtet hatte, um die Energie aus dem Riss im Seeboden zu nutzen. Dyannis war bei ihren vorherigen Aufenthalten dort keiner menschlichen Präsenz begegnet, aber Cedestri musste wissen, dass sie beobachtet wurden. Ein- oder zweimal hatte sie wie aus dem Augenwinkel eine schwache Störung in der Atmosphäre wahrgenommen, einen Wirbel unsichtbarer Energie oder einen Schatten.

Mit einem geübten Atemzug warf sie ihren Geist in die Überwelt. In den ersten Momenten musste sie zunächst mit der üblichen Desorientierung fertig werden, um festzustellen, wo sie war. Über ihr streckte sich der grau verhangene, ewig unveränderte Himmel gleichmäßig in alle Richtungen.

Das hier wird mir alles zu vertraut, sagte sie sich. Ich habe hier schon zu viel Zeit verbracht. Der schwierigste Teil bestand darin, ununterbrochen mentale Disziplin aufrechtzuerhalten, denn hier in der Überwelt konnte ein unvorsichtiger Impuls oder eine kurzfristige Gereiztheit schreckliche Konsequenzen haben.

Sobald sie sich stabil fühlte, formte sie ein geistiges Bild der Wassermühle von Cedestri und wartete darauf, dass sie erschien. Für gewöhnlich tauchte das Gebäude nicht weit entfernt aus der amorphen farblosen Substanz der Überwelt auf.

Diesmal geschah nichts.

Dyannis drehte sich einmal um ihre eigene Achse und suchte den Horizont ab. Vielleicht hatte sie ein unvollkommenes Bild geformt, oder die Arbeiter in Cedestri hatten das Gebäude verändert. Sie versuchte es abermals, suchte nach dem Kraftfluss aus dem See.

Da war es – diese Spur von Falschheit. Wie zuvor ergoss sie sich in die Überwelt, aber diesmal gab es keine Spur der Mühle oder anderer Möglichkeiten, die Kraft zu nutzen. Stattdessen breitete die Strömung sich aus wie ein Fluss über schlammige Ebenen, verlor etwas von ihrem Nachdruck, versiegte aber nicht vollständig. Die Spannung, die die Nerven aufs Unangenehmste zum Kribbeln brachte, verteilte sich einfach nur neu.

Obwohl Dyannis’ Haut unangenehm kribbelte, suchte sie erneut nach einer Spur der Wassermühle. Sie fand fragmentarische Bilder in der Mitte des Strombetts, wo die Kraft immer noch floss. Nur noch gezackte Umrisse wie von Glasscherben ließen vermuten, dass es hier einmal ein Gebäude gegeben hatte.

Dyannis runzelte die Stirn. Das hier war nicht einfach das Ergebnis von Erosion eines nicht benutzten Gebäudes nach langer Zeit. Von dem bearbeiteten Gedankenstoff des Mühlrads und des Hauses war bis auf diese schwachen Überreste von Vibration kaum mehr etwas geblieben. Wer immer die Mühle errichtet hatte, hatte sich große Mühe gegeben, sie wieder auseinander zu nehmen.

Es würde nichts nützen, wenn sie noch länger hier blieb. Dyannis ließ sich wieder in ihren Körper sinken und machte sich auf, um den Bewahrer zu informieren, was sie festgestellt hatte.

Als Varzil in Thendara eintraf, waren nur noch geringe Spuren von Strom und Mühle zu erkennen, und auch sie waren nur bei Betrachtung aus nächster Nähe wahrzunehmen. In Hali nahm man überwiegend an, dass der Kreis von Cedestri befürchtet hatte, dass man sie entdecken würde oder dass ihre Feinde den Weg über die Überwelt nutzen könnten, um sie zu sabotieren oder aus dem Hinterhalt anzugreifen. Was immer der Grund sein mochte, alle außer Raimon waren über diese Nachricht erfreut, aber der Bewahrer wies daraufhin, dass Cedestri bereits über einen Vorrat an kristallisiertem Knochenwasser und vielleicht auch über andere Waffen verfügte, von denen sie nichts ahnten, und nun außerdem wusste, dass man sie entdeckt hatte.

Er sprach darüber mit Dyannis, als sie zusammen mit Rorie und ein paar Dienern zum Schloss des Königs in Thendara ritten. Der Tag war mild, denn nun war es wirklich Frühling, aber die Reisenden trugen Umhänge und Kapuzen. Die Straße rings um den See und vorbei an der Stadt Hali war trocken, und sie kamen gut voran, aber Dyannis spürte das Kribbeln elektrischer Ladung in der Luft. Nach einer kurzen Atempause hatte sich die Spannung seit einiger Zeit wieder aufgebaut.

Es war lange her, seit Dyannis in Thendara gewesen war, und nun, da ihre Nerven ohnehin von der Spannung zwischen Himmel und Erde wund gerieben waren, fragte sie sich, ob es vielleicht einen Staatsstreich gegeben hatte, einen zweiten Usurpator auf Carolins Thron, denn die Stadt war vollkommen verändert.

Anders als Hali war Thendara eine ummauerte Stadt und zur Verteidigung gebaut. Wenn Dyannis früher durch das eine oder andere Tor hereingekommen war, war sie von den Wachen dort einfach beiläufig begrüßt worden. Die Wege in die Stadt selbst hatten offen gestanden, der Fluss von Reisenden und Kaufleuten war ohne Stockung hinein- oder herausgeströmt. Nun drängten sich Menschen und Packtiere vor dem Tor. Statt einem oder zwei Wachtposten in den Farben der Stadt, gab es vier, und sie nahmen sich Zeit, um jeden Einzelnen zu befragen und jeden Wagen und jede Satteltasche zu durchsuchen.

Raimon lenkte sein Pferd an den Anfang der Reihe. Er und seine Gruppe waren über jeden Verdacht erhaben; es war nicht notwendig, dass sie warten mussten. Selbst wenn die Wachen sie nicht persönlich erkannten, würde schon ein Blick zeigen, dass sie Comyn waren.

»Halt!«, rief einer der Wachtposten, und im gleichen Augenblick begannen auch die anderen Reisenden zu protestieren: »Wartet, bis ihr dran seid!«

Ein Mann in schlichter Bauernkleidung eilte nach vorn und packte Raimons Pferd am Zügel. Das Tier erschrak, riss den Kopf hoch und tänzelte seitwärts. Raimon hatte Mühe, im Sattel zu bleiben, denn er war kein besonders erfahrener Reiter. Seine Kapuze rutschte herunter und sein hellrotes Haar war zu sehen.

Ein Laranzu! Der Gedanke schoss durch die Menge.

Rorie, ein guter Reiter, stieß einen Ruf aus und trieb sein Pferd vorwärts, zwischen die Menge und seinen Bewahrer. Der Bauer kehrte murrend an seinen Platz zurück, aber nicht, bevor Dyannis seine Gefühle wahrgenommen hatte. Sie bemerkte Überraschung, was sicher zu erwarten gewesen war, aber... Hass?

Warum?, fragte sie sich. Was haben wir den einfachen Leuten angetan? Wir haben ihnen nie Böses gewollt. Vielleicht ist es ja die Krankheit der Zeit, diese Müdigkeit der Seele, die von Schmerzen kommt, die zu schwer zu ertragen sind.

Aber bevor sie reagieren konnte, waren die Wachen da. Einer der Soldaten beruhigte Raimons Pferd, während der andere Platz machte, damit sie durchs Tor reiten konnten.

Nur Minuten später brachte man sie vorbei an den Marktständen, die die breiteren Straßen säumten, zu Carolins Palast. Dyannis sah vieles, was ihr vertraut war, aber auch überall Veränderung. Der Winter war grausam gewesen, und sie hatte sich ebenso wie die anderen in Hali um Kranke gekümmert. Einige hatten das übliche winterliche Lungenfieber gehabt, verschlimmert durch Kälte und Hunger, aber es hatte auch mehrere Gruppen von Flüchtlingen aus der einen oder anderen Region gegeben, in der Krieg herrschte – Bauern, deren Land von Kämpfen verwüstet war, Dorfbewohner mit Narben von Haftfeuer-Verbrennungen, Kinder, die sich zu nahe an Bereiche gewagt hatten, die immer noch vom Gift des Knochenwasserstaubs durchsetzt waren. Die Anstrengungen der Leronyn waren stets dankbar entgegengenommen worden, selbst wenn sie zu spät erfolgt waren. Dyannis war nie solch finsteren Blicken und rasch verborgenen Fäusten begegnet wie hier.

Einmal hörte sie ein verbittertes: »Zauberei! Tyrannische Hexenbrut!«

Was in Aldones’ Namen war hier los?

»Raimon...«, begann sie, aber der Bewahrer bedeutete ihr zu schweigen. Eine weitere Eskorte, diesmal im Blau und Silber der Hasturs statt in den Farben der Stadtwache, kam ihnen entgegen. Dyannis hatte es nie gefallen, von mental blinden Fremden umgeben zu sein, aber sie verhielt sich ruhig, als sie in einen umzäunten Hof kamen. Stallknechte nahmen ihre Pferde, und ein Würdenträger, wahrscheinlich ein Assistent des Coridom oder Schlossverwalters, grüßte sie mit einer tiefen, förmlichen Verbeugung, bevor er sie nach drinnen bat.

Varzil und Carolin warteten in dem am wenigsten förmlichen Audienzraum des Königs auf sie. Varzil stand auf, als Dyannis hereinkam. Sie spürte seine plötzliche Freude, als er sie sah, und sein Geist war so klar wie ein Bergsee an einem windlosen Tag. Er sah schmaler aus, als sie ihn in Erinnerung hatte, sein Gesicht war abgehärmt und wettergegerbt.

Dyannis verlangsamte ihren Schritt und knickste vor Carolin. Die Jahre des Exils und des Königtums hatten den einstmals strahlenden jungen Mann schwer gezeichnet, und man sah ihm die Sorgen seines Amtes an. Er begrüßte sie mit natürlicher Freundlichkeit, was sie sofort beruhigte.

Als sie von Carolin zu ihrem Bruder schaute, spürte Dyannis die Harmonie zwischen diesen beiden, den geistigen Gleichklang. Sie waren von gleicher Art, dachte sie, wenn auch sehr unterschiedlich in Aussehen und Temperament. Eine gemeinsame Leidenschaft band sie aneinander und sorgte dafür, dass sie sich gegenseitig stützen konnten. Dyannis beneidete die beiden ein wenig, denn sie hatte keine solch enge Freundin. Ellimara kam dem noch am nächsten, aber auch ihr gegenüber war wirkliche Vertraulichkeit schwierig, vor allem wegen des Altersunterschiedes.

Raimon und die anderen aus Hali verhielten sich Varzil gegenüber so untertänig, dass Dyannis sich einen Augenblick lang fragte, ob auch sie sich verbeugen sollte, bevor sie zu dem Schluss kam, dass das eine lächerliche Idee war. Als Varzil ihr die Hand entgegenstreckte, schob sie sie beiseite, ging näher zu ihm und drückte ihm einen Kuss auf die Wange.

»Bin ich gewachsen, Bruder, oder bist du geschrumpft?«, fragte sie. »Ich bin beinahe so groß wie du!«

»So klein, meinst du wohl«, erwiderte Varzil mit einer Spur seiner üblichen Selbstironie.

»Ich hoffe, nicht so klein, dass du nicht dieses Rätsel für uns lösen kannst.«

»Ich freue mich ebenfalls, dich zu sehen«, sagte Varzil und ignorierte die schockierte Miene des anderen Bewahrers. »Und meine Größe hat sich bisher noch nie negativ auf mein Laran ausgewirkt, oder es gäbe für uns beide wenig Hoffnung.«

Sie musste lachen und war froh zu sehen, dass Varzil seinen Sinn für Humor bewahrt hatte, ganz gleich, wie sehr die Welt ihn ehrte. Auf die gleiche lässige Weise wandte er sich nun wieder Raimon zu, und schon bald hatten sich alle niedergelassen.

Carolin hörte ernst zu, als Raimon ihnen die neuesten Informationen gab. Nachdem Dyannis ihre Geschichte wiederholt hatte, saß er lange da, die Ellbogen auf die Armlehnen seines Stuhls und das Kinn in die Hand gestützt. Seine Augen waren dunkel und lagen tief. Ein Kern von Kraft, leuchtend und hart wie Stahl, war eindeutig wahrzunehmen. Obwohl Dyannis ihre Laran-Schilde respektvoll aufgebaut hatte, spürte sie, wie sehr er über das, was er von den Leronyn hörte, beunruhigt war.

Schließlich sagte Carolin: »Es gibt keine andere Möglichkeit – wir müssen eine Delegation nach Cedestri schicken und die Leronyn dort mit allen möglichen Mitteln überzeugen, den Pakt zu unterzeichnen. Sie nutzen die Energie des Sees zwar nicht mehr, aber sie haben zweifellos einen Vorrat von diesem teuflischen neuen Knochenwasser und wenig Grund, sich zurückzuhalten.«

Varzil nickte. Er hatte in solchen Angelegenheiten schon öfter als Carolins Botschafter gedient, sodass die meisten Menschen glaubten, der Pakt sei ausschließlich seine Idee. »Du hast Recht, Carlo, aber weder Strategie noch Diplomatie wird das Problem langfristig lösen. Selbst wenn Cedestri zustimmt, wird das andere Türme – von illegalen Kreisen gar nicht zu reden – nicht abhalten, das Gleiche zu tun.«

»Aber nun, wo der Turm in Hali auf diese Dinge aufmerksam geworden ist, ist so etwas doch sicher nicht länger möglich«, sagte Carolin.

Raimon schüttelte den Kopf. »Das wäre nur so, wenn es um den physischen See ginge. In der Überwelt kann man keinen Hund einsetzen, um ein Tor zu bewachen. Zeit und Entfernung sind dort vollkommen andersartig, und ein ausgebildeter Laranzu kann beides mit einem Gedanken formen. Selbst wenn wir ununterbrochen an diesem Energiereservoir Wache hielten, wäre es niemals wirklich sicher, und auch das würde voraussetzen, dass wir genügend Arbeiter hätten, um es zu tun.«

Niemand widersprach, denn der Turm von Hali hatte wie so viele andere kaum genug Leute, um die Routinearbeit zu erledigen. Ihr Hastur-König hatte die Benutzung und Herstellung von Laran-Waffen aufgegeben, aber er konnte keinen dauerhaften Frieden garantieren. Der nächste bewaffnete Konflikt würde ihre Ressourcen, zu heilen und zu kommunizieren, noch mehr beanspruchen.

»Wir müssen etwas unternehmen, um die Quelle dieser Kraft zu eliminieren«, sagte Varzil. »Je länger wir zögern, desto mehr psychische Energie wird, fürchte ich, durch den Riss in die Überwelt eindringen und desto instabiler wird alles.«

Varzil ließ sich im Hali-Turm nieder, während er und Raimon die Situation erforschten, am Seeufer ebenso wie in der Überwelt. Die Nachricht von Varzils Anwesenheit verbreitete sich rasch in Thendara und Hali. Gruppen von Menschen, Stadtbewohner ebenso wie Durchreisende, versammelten sich vor dem Schloss und hofften, ihn zu erspähen, wurden aber von Carolins Männern weggeschickt.

Die Unwetter wurden immer schlimmer, sowohl was die Häufigkeit als auch die Intensität anging. Mehrere Gebäude in Thendara und Hali wurden vom Blitz getroffen.

Varzil war der Ansicht, dass die Säulenruinen Überreste eines gewaltigen Laran-Geräts aus dem frühesten Zeitalter des Chaos waren. Als er vor so vielen Jahren die Hände darauf gelegt hatte, hatte er Eindrücke von ihrem Gebrauch erhalten – das Gerät selbst hatte als Magnet gedient und ihn zurückgeführt zu den Ereignissen, die zu der schrecklichen Katastrophe geführt hatten. Er hatte nur Fragmente dieser Geschichte erblickt, zwei mächtige Türme in tödlichem Konflikt, die sich beide irgendwelcher Kräfte bedienten, die über alles derzeit Bekannte hinausgingen. Vielleicht hatte sein eigenes Handeln eine Öffnung zwischen der einen und der anderen Zeit geschaffen, zwischen der gewöhnlichen körperlichen Welt und der Überwelt. Irgendwie hatten die Arbeiter von Cedestri dieses Reservoir von roher, instabiler Energie in der Überwelt entdeckt und es so gut wie möglich ausgenutzt.

»Niemand, ich am allerwenigsten, hätte vorhersehen können, was aus diesem einen impulsiven Morgen entstehen könnte«, sagte er. Sein Blick war seltsam nach innen gerichtet, als sähe er andere Zeiten, andere Menschen. Dyannis spürte die unausgesprochene Trauer, die von ihm ausging, aber vielleicht galt sie auch nur dem Jungen, der er einmal gewesen war, diesem so hoffnungsvollen und verrückten Träumer.

Wir haben alle diese Unschuld verloren, dachte sie. In einem Aufblitzen von Einsicht, die ebenso schnell wieder vergessen war, kam ihr die Vermutung, dass ihre eigene Impulsivität vielleicht einen Versuch darstellte, zu bleiben, was sie einmal gewesen war, jung, verwegen und begabt, ein Mädchen, das das ganze Leben noch vor sich hatte und nichts von den Tragödien wusste, die seine Schritte überschatten würden.

Schließlich formulierten Varzil und Raimon ihre Strategie. Um zu verhindern, dass weiterhin Kraft aus dem See sickerte, mussten sie den Riss schließen, dieses Portal zur Überwelt. Wenn sie das taten, bestand eine gute Möglichkeit, dass sie auch imstande sein würden, den Schaden am See selbst zu beheben, die alte Katastrophe umzukehren. Diese Idee begeisterte alle im Turm. Ein wiederhergestellter See würde ein Symbol der Hoffnung sein, ein Zeichen der Heilung, noch mächtiger als der Wiederaufbau des Turms von Neskaya.

Die Vorbereitungen waren bald abgeschlossen, und der Kreis kam zusammen. Laran-Arbeit wurde üblicherweise nachts durchgeführt, um die Ablenkung durch verirrte Gedanken und psychisches Rauschen zu vermeiden, aber dieser Kreis sollte im Tageslicht und direkt am Seeufer arbeiten.

Dyannis war an diesem Morgen schon sehr früh aufgestanden, weil sie zu aufgeregt gewesen war, um zu schlafen. Zusammen mit Varzil, Rorie und den anderen ging sie am Seeufer entlang. Varzil führte sie und suchte nach einer Stelle, die flach genug war, um sich dort bequem niederlassen zu können und gleichzeitig eine klare Energieleitung durch die Strömungen des Wolkenwassers bis zum Boden des Sees zu erhalten. Schließlich bat er sie, stehen zu bleiben.

Varzils Plan bestand darin, mit der Arbeit im Kreis zu beginnen mit Raimon als Bewahrer. Sobald ein angemessener Gleichklang hergestellt war, würde Varzil, assistiert von Alderic, in den See hineingehen. Er wollte eine körperliche Verbindung mit der Säule herstellen und dennoch imstande sein, sich der Kraft und Konzentration des Kreises zu bedienen.

Dyannis nahm ihre Position ein mit Raimon auf einer Seite und Rorie auf der anderen. Sie stand nach Westen gewandt, und die Sonne schien warm auf den Rücken ihrer Jacke. Es gab so gut wie keinen Wind, aber in der Luft hing der Duft der winzigen lila Blüten, die in den Dünen wuchsen. Ein paar Strähnen von Dyannis’ Haar hatten sich aus der Spange im Nacken gelöst und streiften ihre Wangen. Ihre Laune hatte sich erheblich gebessert. An diesem Tag, in diesem Kreis, würden sie an Taten teilhaben, über die Barden ein ganzes Zeitalter lang singen würden.

Den vergangenen Zehntag lang hatte ganz Thendara vor wachsender Spannung geknistert. Die Luft stank geradezu nach bevorstehenden Gewittern. Eduin spürte Angst und Misstrauen, wann immer er auf den Straßen unterwegs war. Gemurmel wie »Hexenkönige« und »Verdammte Zauberei!« freute ihn ungemein. Zum ersten Mal seit vielen Jahren hatte er wieder Hoffnung – Hoffnung auf Gerechtigkeit, Hoffnung auf Rache, Hoffnung, endlich den Geist seines Vaters zur Ruhe betten zu können.

Wenn Saravio in der Öffentlichkeit sprach und dabei Worte benutzte, die sie sorgfältig einstudiert hatten, wurden die Mengen immer größer und unruhiger. Die Anzahl von Kranken, die zum Turm von Hali gingen, nahm ab, und jene, die die Reise dennoch auf sich nahmen, hatten nun eine Aura von Verzweiflung, gemischt mit Entsetzen, an sich.

Tag um Tag, während der Winter in den Frühling überging, brodelte die Stadt vor sich hin. Eduin spürte sie wie ein gefesseltes Tier, das kurz davor stand, sich loszureißen.

Die Unwetter nahmen nach einer kurzen Pause wieder an Heftigkeit zu. Es hieß, der Kreis im Turm von Hali arbeitete daran, sie zu beherrschen, aber das interessierte Eduin nicht, wenn man einmal davon absah, dass er selbstverständlich auch diese Gelegenheit nutzte, den Türmen Schuld zuzuweisen. Wenn das seltsame Wetter die Hali’imyn von der Revolte ablenkte, die vor ihrer Nase ihren Anfang nahm, war das nur gut so. Je länger sie sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmerten, desto zorniger und unaufhaltsamer würde der Aufstand des Volkes sein. Aber nichts, nicht einmal sein bemerkenswerter Erfolg beim Ausnutzen des weiterhin gärenden Grolls der Bevölkerung, hätte Eduin auf die nächsten Nachrichten vorbereiten können.

Eines Abends arbeitete er zusammen mit Saravio im Hinterzimmer der Weißen Feder an ihren neuen Ansprachen. Es war ein milder Abend, und sie hatten das schmale Fenster einen Spaltbreit offen gelassen, was eine Spur frischer Luft hereinließ. Die Reste einer schlichten Mahlzeit – vom Eintopf immer noch feuchte Holzschalen, Krümel von grobem Nussbrot und ein leerer Krug – befanden sich noch auf dem verkratzten Tisch. Eine einzelne Laterne füllte den Raum mit lohfarbenem Licht.

Es klopfte an der Tür. Eduin spannte sich an und zögerte, bevor er »Wer da?« rief.

Einer ihrer ergebensten Anhänger, der Bauer, dessen Arm von Haftfeuer verkrüppelt worden war, stand draußen. Er verbeugte sich vor Eduin und Saravio, als wären sie Adlige.

Eduin winkte ihn herein. Die Aufregung ließ das Gesicht des Mannes glühen, und er stotterte ein wenig.

»Ihr Herren, es tut mir Leid, euch zu dieser Stunde zu stören. Ich habe mir, seit ich von dieser Sache gehört habe, den ganzen Tag Gedanken gemacht, und war nicht sicher, ob es warten sollte, aber dann sagte ich mir, ich mache mich lieber zum Narren statt zu riskieren, dass uns etwas entgeht.«

Eduin wollte ihn gerade anfauchen, als Saravio mit seiner beruhigendsten Stimme sagte: »Wenn du in Naotalbas Dienst hier bist, Freund, dann brauchst du nichts zu fürchten. Wir sind alle ihre Diener.«

Die Augen des Mannes glitzerten weiß im Laternenlicht. »Ich weiß nichts von Naotalba, aber ich weiß, wie böse die Türme sind. Und deswegen bin ich hier.«

»Hast du etwas Neues aus den Türmen gehört?«, fragte Eduin, dessen Gereiztheit der Neugier gewichen war. »Erzähle, Mann!«

»Ich komme gerade aus Morans Haus – seine Base kennt eins der Küchenmädchen oben im Turm –, und er sagt, der größte Zauberer von allen – ein Mann namens Varzil, sie nennen ihn den Guten – wird nach Hali kommen. Der ganze Turm ist begeistert. Aber er kann doch nicht gut sein, wenn er einer von ihnen ist, oder? Man kann keinem von ihnen trauen!«

Einen Herzschlag lang konnte Eduin nicht glauben, was er gehört hatte. Varzil, den er weit außerhalb seiner Reichweite gewähnt hatte, kam hierher!

»Was will Varzil hier?«, fragte er sofort. »Was hat er hier vor? Gibt es darüber ebenfalls Gerüchte?«

»Morans Base sagt, er wird sich mit der anderen Dämonenbrut in Hali treffen, um am See einen Zauber zu wirken. Ich weiß nicht, wozu. Ich habe gehört, dass sogar das Wasser dort verhext ist.« Der Bauer zitterte sichtlich. »Anständige Menschen wagen sich ohne wichtigen Grund dort nicht hin.«

»Die Leronyn von Hali können dem See keinen größeren Schaden zufügen, als bereits geschehen ist«, sagte Saravio grimmig. »Nicht einmal mit einem so starken Bewahrer wie Varzil.«

»Bist du sicher? Sicher, dass es Varzil sein wird?«, fragte Eduin den Bauern. »Und sie werden draußen am See arbeiten?«

»Ja, genau das habe ich gehört. Deshalb bin ich zu Euch gekommen, um zu sehen, ob wir vielleicht etwas unternehmen sollten, um es zu verhindern. Wer weiß, was sie als Nächstes tun werden. Die Monde auf uns niederstürzen lassen?«

»Nicht, solange Naotalba euch schützt«, verkündete Saravio. »Und dessen kannst du sicher sein. Du hast ihr in allem gut gedient. Jetzt geh in Frieden.«

Der Bauer ging, überhäuft mit Lob, das seine Wangen noch röter glühen ließ.

Eduin setzte sich auf die wacklige Bank. Seine Gedanken überschlugen sich. Varzil draußen im Freien, nicht hinter Mauern oder geschützt durch die gewaltige Macht eines Matrix-Schirms! Varzil – hier!

Es war selbstverständlich nicht sicher. Die Freunde des Bauern konnten sich geirrt haben. Aber die Erwähnung des Sees verlieh der ganzen Sache irgendwie Glaubwürdigkeit. Wenn es wirklich stimmte...

Varzil hier? In seiner Reichweite – in der Reichweite der Armee von einfachen Leuten, die er zu Naotalbas Armee gemacht hatte?

Naotalba, die seinen nichts ahnenden Feind direkt vor seine Haustür brachte...

Eduin verspürte beinahe so etwas wie Ehrfurcht. Er hatte sich nie für religiös gehalten, denn welche Götter hätten schon die Gräueltaten zugelassen, die man seiner Familie zugefügt hatte, oder die Tragödie seines eigenen Exils? Aldones, der so genannte Herr des Lichts, war ein Beschwichtigungsmittel für die Gutgläubigen, und das Einzige, was Zandru ihm je gewährt hatte, war eine kurzfristige Betäubung seines Schmerzes. Er hatte Saravios Ergebenheit an Naotalba für Wahn gehalten, für einen Auswuchs seines kranken Geistes. Nun berührte ihn der Atem von Zandrus Braut und hinterließ ein eisiges Schaudern, das ihm bis in die Knochen drang.

»Mein Freund, ist alles in Ordnung?«, fragte Saravio. Diese Frage war reine Höflichkeit, denn Eduin hatte sich zwar schon vor langer Zeit überzeugt, dass Saravio keine Telepathie empfangen konnte, aber seine emphatischen Fähigkeiten waren außergewöhnlich. Er konnte eine Menschenmenge besser »lesen« als die meisten gut ausgebildeten Bewahrer.

Eduin stand auf. »Ja, es geht mir gut. Ich bin nur erschüttert vom Glanz unserer Göttin.«

»Hat Naotalba wieder zu dir gesprochen?« Saravios Augen blitzten vor Eifer.

»Siehst du es denn nicht? Sie hat uns zusammengebracht und an die Spitze einer Armee gestellt, die bereit ist, auf ihren Befehl hin anzugreifen. Und nun hat sie ihren Feind in unsere Nähe gebracht. Alles ist bereit.«

»Ihren Feind? Wen sollen wir in Naotalbas Auftrag niederstrecken?«

»Von wem haben wir denn gerade gesprochen? Von Varzil Ridenow, dem Bewahrer von Neskaya.« Eduin konnte seine Bitterkeit nicht verbergen, und er versuchte es auch gar nicht. »Verräter, Speichellecker der Hasturs, Verkörperung alles dessen, was bei den Comyn verdorben ist.«

»Dann, wenn Naotalba es will, werden wir triumphieren.« In Saravios Stimme schwang beinahe so etwas wie ein Lachen mit. »Wenn sie sich zu ihrer unheiligen Arbeit am See versammeln, werden wir über sie kommen. Wir werden die Erde von diesem Fluch befreien. Und nach diesem Triumph werden sich die Menschen überall gegen die Hexenkönige erheben. Ein neues Zeitalter steht bevor!«

Saravio sprach noch weiter, aber seine Worte rauschten ungehört an Eduin vorbei. Stattdessen dachte er daran, dass er noch vorsichtiger sein und seine Laran-Barrieren noch undurchdringlicher machen musste als zuvor. Varzil war geschickt und ein starker Telepath. Er durfte keinen Hauch von dem, was sie planten, wahrnehmen, nicht einmal von Eduins Präsenz. Eduin hatte nicht vor, sich zu zeigen. Seine Armee – Naotalbas gesichtslose, unwiderstehliche Armee, angeführt von dem nichts ahnenden Saravio – würde seine Arbeit für ihn tun.

Die Flamme von Hali

Подняться наверх