Читать книгу Die Flamme von Hali - Marion Zimmer Bradley - Страница 8
1
ОглавлениеDer lange Darkover-Winter schien in diesem Jahr kein Ende zu nehmen. Monat um Monat hingen Eiswolken vor der aufgeblähten Blutigen Sonne. Schnee fiel, hart wie Glas, und dann fiel noch mehr davon, bis die zusammengedrückten Schichten das Land wie mit einer Rüstung einhüllten. Die Pässe durch die Venza-Hügel oberhalb von Thendara waren unpassierbar. Selbst Kaufleute, deren Lebensunterhalt vom Reisen abhing, verloren jede Lust, sich über die Stadtmauern hinauszubegeben. Sowohl Comyn-Lords als auch Gemeine verbarrikadierten sich hinter ihren Türen und verkrochen sich für die Jahreszeit.
Dann kam das Mittwinterfest und mit ihm ein Wirbel von Lustbarkeiten. König Carolin Hastur öffnete für einen Zehntag die Tore seiner großen Halle weit, und es gab genug Musik und Festessen, um selbst das Herz des ärmsten Straßenbettlers zu erfreuen. Der König hatte erst vor kurzem seinen Sitz von Hali, wo sein Großvater geherrscht hatte, in das größere Thendara verlegt. Schon früher hatten Hastur-Könige hier ihren Wohnsitz gehabt – der letzte von ihnen, Rafael II., zur Zeit des Hastur-Aufstands. Indem er seinen Hof nach Thendara verlegte, ließ Carolin die Menschen wissen, dass er ganz Hastur regieren wollte. Er war kein Hastur von Carcosa oder Hastur von Hali mehr, sondern ein Hochkönig in Thendara. Um seinen neuen Regierungssitz zu feiern, war er an diesen Feiertagen so großzügig, dass dies bei einigen seiner Untertanen weniger Dank als Misstrauen auslöste. Wenn er in der Öffentlichkeit erschien, sei es vor Comyn-Lords oder Gemeinen, redete er stets von dem Pakt, der für ganz Darkover eine Zeit des Friedens und der Ehre bringen würde.
Nur noch wenige Karren und Wagen rollten durch die Kaufmannstore. Getreidehändler erhöhten die Preise, horteten die schrumpfenden Vorräte. Ein trostloser grauer Zehntag folgte dem anderen, und das Fest wurde zu einer fernen Erinnerung, die in der gnadenlosen Kälte verkümmerte. König Carolin richtete eine Reihe von Unterkünften ein, ähnlich den Schutzhütten für Reisende an den Bergstraßen, in denen Arme in den bitterkalten Nächten Zuflucht finden konnten.
Eine Weile wurden Spenden aus der königlichen Kornkammer an die Armen verteilt. An diesen Tagen sammelten sich die Menschen schon vor dem Morgengrauen schaudernd in ihren Wollumhängen und -tüchern, Jacken und häufig geflickten Decken, und umklammerten ihre Krüge und Körbe. Ihr Atem stieg wie Nebel in die Luft. An manchen dieser Tage erhielt jeder eine Portion Getreide, getrocknete Bohnen und ein gewisses Maß an Bratöl und hin und wieder sogar Honig. In der letzten Zeit hatte es allerdings nicht mehr genug für alle gegeben.
Dichte, dunkle Wolken hingen tief über der Stadt, als wäre selbst der Himmel schlecht gelaunt. Die Wachen des Königs, warm gekleidet in Hastur-Blau und Silber, räumten den Bereich vor den Toren und ließen die Leute einzeln hinein. Sie wählten die Schwächsten aus, die Frauen und die Älteren. Viele Männer wurden weggeschickt, besonders solche, die dicke, pelzgefütterte Wolle über ihren umfangreichen Bäuchen trugen.
»Warum werfen sie gutes Essen an solche wie die da weg?«, rief ein Mann, der abgewiesen worden war. Er zeigte auf eine Frau, die einen Steingutkrug umklammerte, der nun mit Getreide gefüllt war. Ihre Röcke und das Schultertuch waren so verschlissen, dass an einzelnen Stellen mehrere Schichten durchschimmerten. Sie sah aus wie eine aufgeplusterte Puppe, wenn man einmal von ihrem spitzen Gesicht und den eingefallenen Wangen absah; sie trug offensichtlich jedes Kleidungsstück am Leib, das sie besaß.
»Sie wird es nur verschwenden...«
»Während du es an ein armes Geschöpf verkaufen würdest, das noch ärmer und verzweifelter ist«, erwiderte der Wachtposten neben ihm. »Der König will, dass dieses Getreide an jene geht, die es wirklich brauchen. Du siehst nicht aus, als hättest du je Hunger gehabt.«
»Zandrus Skorpione sollen dich stechen!« Fluchend entriss der Mann dem Wachtposten seinen Arm.
»Vor noch nicht allzu langer Zeit«, knurrte einer in einer Anspielung auf die Herrschaft von König Carolins Vetter Rakhal, »ging es hier anders zu. Für einen Mann mit Initiative stand immer ein Weg offen; man konnte feilschen, konnte Gefallen austauschen. Vielleicht hatte man sogar einen Freund im Schloss. Aber diese Zeiten sind vorbei. Mit Carolins Haufen kann man keine Geschäfte machen.« Er zuckte resignierend die Achseln. »Sobald die Straßen im Frühjahr wieder offen sind, gehe ich nach Temora. Für unsereinen ist hier nichts mehr zu holen.«
»Du meinst, wir müssen unser Brot ehrlich verdienen?«, witzelte ein Dritter. Er winkte den beiden anderen zu, dann verschwand er in einer Seitenstraße.
»Sie brauchen nicht zu hungern. Sie frieren auch nicht, und es mangelt ihnen nicht an Bequemlichkeit.« Ein Fremder, der ein wenig von den anderen entfernt gestanden hatte, kam nun auf sie zu. Er warf einen Blick zum Schloss Hastur und dann zu den prunkvollen Residenzen der Comyn-Lords. Die Sonne war noch nicht vollkommen aufgegangen, und Schatten lagen in eisigen Tümpeln auf den Straßen. Turm und Schloss strahlten im Licht von Lampen, die mithilfe von Laran-Batterien betrieben wurden.
»Sie werfen uns ein paar Brosamen hin und erwarten, dass wir dankbar sind. Und währenddessen sitzen sie dort oben auf ihren Seidenkissen in ihren geheizten Räumen mit ihren Matrix-Schirmen. Gift, Pestilenz und mörderische Zauber, das interessiert sie alles nicht, nicht im Geringsten...«
»Komm, mein Freund«, sagte der Mann, der nach Temora gehen wollte, und streckte den Arm aus. »Komm. Ich gebe dir ein Bier aus.«
»Ein Bier wird das, was diese Stadt quält, nicht heilen.« Der Mann mit der Kapuze riss sich los, den Mund höhnisch verzogen. Die Kapuze seines schäbigen Umhangs verbarg sein Gesicht zum Teil, und man könnte nur sein kantiges, von der Kälte raues Kinn sehen.
Der andere Mann stutzte und kniff abschätzend die Augen zusammen. Die Kleidung des Fremden war zwar fleckig und zerrissen, aber offensichtlich einmal von guter Qualität gewesen, und er hielt sich nicht wie einer, der aus der Gosse kam.
»Dann lass mich dich nach Hause bringen, weg von...«
»Nach Hause?« Die Stimme des Mannes mit der Kapuze war heiser, tief und verbittert. »Es ist ihre Schuld, dass ich kein Zuhause mehr habe. Aber es wird eine Zeit kommen, in der sie um Brot betteln und auf kaltem Stein schlafen werden...«
»Sei doch still, Mann«, zischte der andere. »Oder wenn du das nicht kannst, dann geh allein weiter, denn ich will nichts mit solch aufrührerischem Gerede zu tun haben. Es ist eine Sache, die Großzügigkeit des Königs anzunehmen oder mit seinen Männern zu feilschen, und eine andere, hier zu stehen und mit solchen Worten zum Verrat aufzufordern. All diese Wachtposten können uns hören, und sie stehen wie ein einziger Mann hinter Carolin.« Er ging ohne einen Blick zurück weiter, als wollte er sich so schnell wie möglich von diesem Unruhestifter entfernen.
Der erste Mann – der, der so zornig gewesen war – reichte dem mit der Kapuze eine Münze. »Sieh zu, dass du aus der Kälte kommst!« Dann ging auch er, ohne auf ein Wort des Danks zu warten.
Der Mann mit der Kapuze starrte die Münze in seiner Hand an, während die Leute, die schon etwas zu essen erhalten hatten, nach Hause eilten, und jene, die zu spät gekommen waren, mit hängenden Köpfen davonschlurften. Seine Kapuze verbarg seine Miene, aber etwas an seiner Haltung hielt die Unzufriedenen von ihm fern.
»Du da!«, rief einer der Wachtposten, nachdem er die Tore der Kornkammer verschlossen hatte. »Wir sind für heute fertig.« Etwas freundlicher fügte er hinzu: »Wenn du morgen ein bisschen früher kommst, werden wir versuchen, dir etwas zu geben.«
»Von solchen wie euch brauche ich nichts«, fauchte der Mann. »Ihr und eure verfluchten Zaubererherren...«
Die Züge des Wachtpostens erstarrten, und er machte einen Schritt vorwärts. Der Kapuzenmann fuhr überraschend schnell herum, stieß noch einen Fluch aus und eilte davon. Der Soldat wandte sich seinem Kameraden zu, der noch die Schärpe eines Kadetten trug: »Den da sollten wir im Auge behalten. Ich habe so etwas schon öfter gesehen. Leute wie er machen überall Ärger.«
»Ärger hatten wir diesen Winter schon genug, auch ohne einen Verrückten, der es noch schlimmer macht.« Der Junge schüttelte den Kopf. »Sollen wir es dem Hauptmann sagen?«
»Was denn? Dass es einen weiteren Unzufriedenen auf der Straße gibt? Wir können ihn genauso gut gleich darüber informieren, dass die Sonne aufgegangen ist oder es zu viele Mäuse in der Kornkammer gibt.« Er stieß ein bellendes Lachen aus. »Komm, gehen wir zurück zur Kaserne. Ein Tropfen heißer Gewürzwein wäre jetzt angenehm.«
»Mein Freund.«
Ein Geräusch formte sich zu Worten, die nun wiederholt wurden, zusammen mit einem sanften Schütteln der Schultern. Eduins Kopf fühlte sich an, als wäre er zu einem Mehrfachen der normalen Größe angeschwollen, und mit jedem Pulsschlag zuckte es schmerzhaft hinter seinen Augen. Hände schoben sich unter seine Arme und zogen ihn hoch. Er öffnete den Mund, um zu widersprechen, denn selbst die kleinste Bewegung ließ seine Kopfschmerzen schlimmer werden. Er bemerkte, dass seine Augen immer noch geschlossen waren, aber offenbar schien ihm helles Licht direkt ins Gesicht.
Es war Tag.
Er fluchte leise. Es war Tag gewesen, als er unter der Kneipenbank das Bewusstsein verloren hatte, aber nun war es wieder Tag. Wahrscheinlich nicht derselbe, aber das war ihm im Grunde egal.
»Komm schon, setz dich. Ja, genau so«, erklang die Stimme abermals.
Geh weg. Lass mich in Ruhe.
Er konnte nur langsam denken, als flösse das billige Bier immer noch in seinen Adern. Irgendwie kam er auf die Beine, die Augen gegen die Helligkeit zusammengekniffen. Verschwommen nahm er die Gestalt eines Mannes wahr – ein Kopf, zwei Arme, zwei Beine –, was ihn davon überzeugte, dass dies wahrscheinlich Wirklichkeit und keine weitere Halluzination der Trunkenheit war.
»Aldones, du stinkst vielleicht!«, sagte der Fremde. »Aber du bist klatschnass, und ich kann dich nicht hier draußen lassen. Es ist schon fast dunkel. Und heute Nacht wird es kalt genug werden, um selbst Zandrus Knochen erfrieren zu lassen.«
Erfrieren. Er hatte gehört, es sei ein schmerzloser Tod. Man schlief ein, wachte nie wieder auf und brauchte sich nicht mit aufdringlichen Fremden abzugeben. Es klang wunderbar.
Er würde nie wieder Bier in sich hineinschütten müssen, das so schlecht war, dass selbst ein Hund es nicht trinken würde, so lange, bis der Knoten in seinem Bauch sich schließlich entspannte und die Stimme in seinem Kopf schwieg. Es würde keine jämmerlichen, erniedrigenden Tagelöhnerarbeiten mehr geben, kein Stehlen von Kleingeld mehr, kein Betteln um den nächsten Krug. Essen, ein Bett oder der Spott der Straßenjungen – das interessierte ihn schon lange nicht mehr. Das Einzige, was zählte, waren das nächste Bier, der nächste Schnaps. Und Ruhe, gesegnete Ruhe.
Nun bewegte er sich, teilweise reflexartig, teilweise von den sanften, unnachgiebigen Händen gezogen. Vor ihm tauchte eine Gasse auf. Er erkannte sie nicht – sie hätte überall in den ärmeren Vierteln von Thendara sein können. Oder vielleicht auch in Dalereuth oder Arilinn.
Nein, nicht Arilinn. Dort könnte er sich nicht verstecken. Sie würden ihn erkennen, ganz gleich, wie schmutzig oder betrunken er war. Sie würden seinen Geist erkennen, die Leronyn des Turms. Selbst mit den geistigen Schilden, die für ihn schon seit langer Zeit so automatisch geworden waren wie das Atmen› würden sie ihn erkennen, denn er war einmal einer von ihnen gewesen. Hier im anonymen Dreck von Darkovers größter Stadt würde niemand nach ihm suchen. Er konnte sich in einem Fluss aus Bier ersäufen. Niemand würde wissen, ob er lebte oder starb. Niemand würde sich dafür interessieren. Nur im bitteren Winter konnte es passieren, dass ein Passant oder ein Bierhausbesitzer einen namenlosen Betrunkenen aus dem Schnee zog, denn keiner konnte solche Nächte überleben.
»Wir sind beinahe da«, sagte die Stimme.
»W-wo?«, krächzte er.
Er spürte das Lächeln des Fremden eher, als dass er es sah. »An einem sicheren Ort.«
Sie kamen zwischen zwei Gebäuden hindurch, die tief im Schatten lagen. Ein kalter Wind mit eisigen Klauen fegte durch die enge Gasse. In dieser Nacht würde es wieder schneien. Eduin schauderte und stellte sich vor, wie er in eine Schneeverwehung kriechen würde. Er würde allerdings sehr betrunken sein müssen, um das zu tun, beinahe erstarrt, oder der Druck in seinem Kopf würde ihn davon abhalten. Er hatte schon mehrmals versucht, dauerhaftes Vergessen zu finden, aber jedes Mal hatte sein zweites Bewusstsein ihn wie ein alter, böswilliger Begleiter am Leben gehalten und ihn wieder an seine ganz eigenen Ziele gekettet.
Eine Tür schwang auf, und er spürte wärmere Luft. Er streckte die Hand aus, um im Gleichgewicht zu bleiben, und berührte die rissigen, verwitterten Bretter. Drinnen flackerte Licht auf. Er entzog sich taumelnd dem Griff des Fremden und sackte auf einen grob gezimmerten Stuhl.
Er war in einer Art Dienstbotenquartier, vielleicht einer alten Spülküche, obwohl er nichts weiter sehen konnte als einen klapprigen Tisch an einer Wand. Ein Krug mit abgebrochenem Rand stand neben einer ebenso angeschlagenen Schüssel. Er konnte den Rest des Raums nicht sehen, ohne den Kopf zu drehen, und das hätte bedeutet, eine weitere Welle Übelkeit erregenden Schmerzes zu riskieren.
»Durst«, sagte er flehentlich und machte eine Geste.
Der Fremde beugte sich über ihn, und es sah aus, als läge ein Mantel aus blauem Licht auf seinen Schultern. Die Kapuze verbarg sein Gesicht. Er legte eine Hand auf Eduins Stirn.
Ruh dich aus. Ruh dich jetzt aus und vergiss. Wir unterhalten uns morgen.
Eduin erwachte in einem trüben, wässrigen Licht. Er war von einem seltsamen, ruhelosen Traum zum anderen gehetzt, und in allen war er von gesichtslosen Männern verfolgt worden, die ihn jedes Mal, wenn er versuchte, sich zu verstecken, entdeckten. Nun lag er auf einem dünnen Strohsack auf dem Boden in einem Raum, der ihm fremd sein sollte, aber vertraut vorkam.
Von seinem körperlichen Unbehagen, dem Drängen seiner Blase und der dicken, wattigen Schicht in seinem Mund einmal abgesehen konnte er sich nicht erinnern, wann er sich je unbeschwerter und innerlich ruhiger gefühlt hatte. Es war, als wäre eine Stimme, die ihn Tag und Nacht angeschrien hatte, plötzlich verstummt.
Als er sich hinsetzte, knackten seine Wirbel, und die Muskeln waren steif. Das Licht fiel durch Schichten von geöltem Tuch, die anstelle von Glas im Fensterrahmen angebracht waren. Eine Kerze, dick und unregelmäßig, brannte auf der anderen Seite des Raums. Auf dem Boden neben dem Strohsack entdeckte er einen Krug. Er enthielt Wasser und keinen Fusel, nicht einmal schlechtes Bier, aber Eduin trank gierig. Ein vertrauter säuerlicher Geschmack ließ seinen Kopf klarer werden und half gegen die Trockenheit in seiner Kehle. Es gab ihm Kraft, sich aufzuraffen und zur Tür und nach draußen zu gehen. Der angewehte Schnee brannte an seinen nackten Füßen. Die Gasse war leer, und er erkannte überrascht, dass ihm das wichtig war. Er erleichterte sich an der Mauer des Gebäudes.
So schnell er konnte, eilte er wieder nach drinnen. Es gab keine Feuerstelle, nur ein kleines steinernes Kohlebecken voller Asche. Aber die Wände hielten den schlimmsten Wind ab.
Ermutigt begann er, seine Umgebung zu erforschen. In dem Krug war noch mehr von dem Zitronenwasser; daneben lagen Brot, das nur auf einer Seite ein wenig schimmlig war, und harter Käse. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal etwas gegessen hatte. Er kaute langsam und aß alles auf, bis auf den schimmligen Teil. Es hatte Zeiten gegeben, in denen er auch den gegessen hätte, aber nun widerte der Geruch ihn an.
Er ging einige Zeit im Zimmer umher, entdeckte aber keine Spur der Habe des Bewohners. Der Boden war aus nacktem Holz, fleckig und körnig von trockenem Schlamm. Die Schlafplattform war von der einfachsten Art, Schichten aus Stroh und Decken, zu verschlissen für jeden anderen Gebrauch, auf einem Rahmen von Holzdielen, damit man nicht direkt auf dem Boden lag. An der Rückseite der Tür gab es eine Reihe von Holzhaken, von denen einige abgebrochen waren wie verfaulte Zähne, und hier hing seine Jacke. Jemand hatte den schlimmsten Dreck abgebürstet, und an den abgewetzten Stellen schimmerte das Steppfutter durch. Er fand seine Stiefel in einer Ecke. Als er sie anzog, kam er zu dem Schluss, dass der Raum offenbar ihm gehörte, und dennoch konnte er sich nicht erinnernde zuvor hier gewesen zu sein. Wenn es ihm irgendwann gelungen wäre, die paar Reis für die Miete zusammenzukratzen, hätte er sie doch sicher längst für Bier ausgegeben.
Wieder fiel ihm auf, wie klar sein Kopf war und wie ungewohnt das Schweigen in seinem Geist. Er hatte kein Bedürfnis nach Alkohol, obwohl es eigentlich genügend Gründe dafür gab. Sein Gedächtnis zeigte ihm zahllose Tage, an denen sein erster und einziger Gedanke der gewesen war, wie er sich wieder betrinken könnte. Seinerzeit in Thendara und zuvor auf der Straße hatte er viele Männer kennen gelernt, die ebenso lebten, die von einem stumpfsinnigen Rausch zum nächsten taumelten. Sie schworen, dass die einzige Kur für die Übelkeit, die Kopfschmerzen und die Alptraumvisionen in mehr Alkohol bestand.
Eduin hatte nie getrunken, um den Nachwirkungen des Trinkens zu entgehen. Nein, er hatte gesucht, was er nun spürte – dieses gesegnete Schweigen. Hatte es etwas mit diesem Raum zu tun, so gewöhnlich und heruntergekommen er auch wirkte? Er nahm keine Spur eines telepathischen Dämpfers wahr, und er wusste ohnehin aus Erfahrung, wie nutzlos ein Dämpfer gegen diese innere Qual war. Ein gut eingestellter Dämpfer schützte einen Raum vor geistiger Energie von außen oder verhinderte, dass welche von drinnen herausdrang. Aber vor etwas, das sich bereits in seinem eigenen Kopf befand, schützte ein Dämpfer nicht. Eduin hatte einen Dämpfer benutzt, als er in einem Turm gelebt hatte, zuerst in Arilinn, wo er ausgebildet worden war, später für kurze Zeit in Hali und dann bis zur Zerstörung des Turms auch in Hestral.
Hali. Nur einen Halbtagesritt von Thendara entfernt, aber es hätte genauso gut auf einem anderen Planeten liegen können. Am anderen Ende der Stadt, am Ufer des geheimnisvollen wolkengefüllten Sees, erhob sich ein Turm zum Himmel, ein schlanker Alabasterfinger. Dort, wie in jedem anderen Turm, verbanden begabte Männer und Frauen ihren Geist, um unvorstellbare Dinge zu vollbringen, von der Herstellung von Waffen bis zum Heilen von Wunden. Relais sandten Botschaften über Ebenen und Berge; laran-geladene Batterien betrieben Luftwagen, beleuchteten Paläste und schützten die Geheimnisse von Königen.
Hali. Sie war einmal dort gewesen. Es war durchaus möglich, dass sie immer noch dort lebte.
Schmerz überwältigte ihn, aber es war nichts Körperliches.
Eduin sank auf den Strohsack und schlug die Hände vors Gesicht. Er atmete stoßweise und rang um die Beherrschung, die er in seinen Jahren als Laranzu, als Meister der geistigen Kraft namens Laran, erworben hatte. Bilder zuckten hinter seinen geschlossenen Augen auf, Fetzen von Erinnerungen, die er mit dem Alkohol weggewaschen hatte. Die hellen, durchscheinenden Steinmauern, die ein Gefühl von Licht und endlosem Raum bewirkten..., der ewig ruhelose Nebel des Hali-Sees... Dyannis, warm und anschmiegsam in seinen Armen.
Süße und Bitterkeit, Gefühle, die er längst für tot gehalten hatte, erfüllten ihn – Sehnsucht, Bedauern und andere Emotionen, die er nicht einmal benennen konnte. Er ließ sich wieder auf den Strohsack fallen, geschüttelt von lautlosem Schluchzen. Lange Zeit später kam es ihm so vor, als hielte ihn jemand fest, wiegte ihn, striche ihm über das verfilzte Haar.
Auch dieser Schmerz wird vergehen.
Wieder schlief er ein.
Er wanderte durch eine Traumlandschaft mit sanft geschwungenen Hügeln und einem Felsen, der neben einem Fluss aufragte. Er konnte sich nicht erinnern, je dort gewesen zu sein, aber etwas an diesem Ort rührte sein Herz. Die Luft schimmerte beinahe, die Wärme war hypnotisch. Die Zeit selbst schien den Atem anzuhalten. Zweige rührten sich, und kleine Lichtflecke fielen auf sein Gesicht. Rings um ihn her schwebten transparente Gestalten wie Wesen aus der Überwelt. Sie schwebten in sein Blickfeld und verschwanden dann wieder. Er spürte keine Gefahr von ihnen.
Er glaubte, Gesang in süßen Glockentönen zu hören, so schwach, dass es vielleicht auch nur die Brise in den Blättern war. Die Gestalten nahmen Substanz an. Aus dem Augenwinkel sah er schlanke Körper und Kaskaden silbrigen Haars. Augen und Haut hatten ein farbloses Strahlen an sich, als wären sie aus Mondlicht gemeißelt.
Nein, Menschen bewegten sich nicht mit solcher Grazie; das hier waren Chieri, Wesen, die bereits in jenen längst vergessenen Zeiten uralt gewesen waren, als die Menschen nach Darkover gekommen waren. Es hieß, dass sie im Wahnsinn des Geisterwinds ihre Wälder verließen, um Menschenfrauen als Geliebte zu nehmen. Sie traten dann als schöne, stolze Elfenlords auf, und daher kam es, dass in den Adern der Comyn das Blut der Chieri floss – und ihr Laran.
Ihre Stimmen kamen näher, während sie sich durch die trägen, feierlichen Figuren ihres Tanzes sangen. Vier Monde hingen am klaren Himmel und überzogen diesen mit ihrem vielfarbigen Pastelllicht.
Teils Klage, teils Jubel, hallten ihre Worte in Eduin wider. Er fühlte sich seltsam gewichtslos, als hätte das Lied der Chieri sein sterbliches Fleisch in Glas verwandelt. Nun bewegte er sich mitten unter ihnen, diesen Wesen, die seit hunderten von Jahren kein Mensch gesehen hatte und die nur durch Legenden bekannt waren. Ihr Blut floss in seinen Adern, sang in seinem Laran, bis tief in seine Seele hinein. Sie schauten ihn aus ihren wissenden, strahlenden Augen an und streckten die Hände aus, um ihn zu begrüßen.
Der gelbe Wald und der weiße, die Sterne, die sich langsam, langsam drehten... Der Schmerz des Exils, die Jahreszeiten in ihrem Zyklus wie der Schlag eines riesigen, lebendigen Herzens...
Und das Wichtigste: der endlose Tanz von Himmel und Baum, von Händen und Stimmen, miteinander verbunden, so ruhig, so traurig, so freudig, dass es einem das Herz brach, und der dann verklang...
Verklang...
Beim nächsten Mal erwachte Eduin rascher. Seine Sinne waren sogar noch schärfer geworden, und sein Hunger quälender. Er hatte tief geschlafen, war durch Träume gewandert, die mit jedem Herzschlag weiter davonglitten. Ein widerlicher Geruch ging von seinem Körper aus, alter Schweiß, Gossendreck und der Gestank nach Bier. Ihm wurde übel davon.
Es gab nichts zu essen, nur den vollen Krug. Mit einiger Anstrengung trank er das Wasser, das er nun als verdünnte Kirian-Tinktur erkannte, ein psychoaktives Destillat, das die Türme benutzten, um Schwellenkrankheit und andere geistige Krankheiten zu behandeln.
Eduin runzelte die Stirn, nachdem er alles getrunken hatte. Nur jemand, der ausgebildet war, würde wissen, wie man das Zeug herstellt, nicht davon zu reden, es angemessen zu verabreichen. In seinem Fall war die Wirkung eindeutig wohltuend. Es war unmöglich, dass er in die Hände von jemandem mit Turmausbildung gefallen war. Denn dann wäre er nicht in einem solchen Rattenloch gewesen und auch nicht mehr frei.
Nein, Verbrechen wie die seinen gerieten nicht so schnell in Vergessenheit.
Sein unbekannter Wohltäter hatte noch mehr getan, als den Krug neu zu füllen. Holzkohle glühte in dem kleinen Becken und strahlte gemütliche Wärme aus. Auf dem Tisch lag Kleidung, ein dickes Hemd und eine Hose, abgetragen und kunstlos gestopft, aber sauber.
Ganz oben lag eine Scheibe aus gebranntem Ton, deren Besitz zum Besuch eines der örtlichen Badehäuser berechtigte. Eduin griff nach der sauberen Kleidung und der Marke, zog seine Jacke an und ging auf die Straße hinaus. Er erkannte das Badehaus an dem stilisierten Rabbithorn auf dem Schild, dessen Gegenstück auf die Marke geprägt war.
Die Frau am Eingang inspizierte die Marke. »Seife, Handtücher und Rasur sind eingeschlossen. Ein Haarschnitt kostet extra.« Sie sah ihn kritisch an.
Er dachte daran, ihr zu versichern, dass er die Marke nicht gestohlen hatte, wie sie eindeutig annahm. Er hatte einen zu großen Teil seines Lebens damit verbracht, Ärger zu machen, wo es keinen gab. Er wollte auf keinen Fall riskieren, vor die Cortes geschleppt zu werden, weil man ihn verdächtigte, ein Bad gestohlen zu haben.
»Das ist in Ordnung«, sagte er daher bescheiden.
Die Wanne hatte kaum eine Armeslänge Durchmesser. Die Holzwände waren vom Alter samtig und stanken nach Schwefel, aber das störte ihn nicht. Das Wasser reichte ihm bis über die Schultern. Als er an sich hinunterschaute, erkannte er diesen Körper kaum als seinen eigenen wieder. Wann war er so mager geworden, seine Haut so kränklich blass und gezeichnet von den kleinen roten Bissen der Läuse? Woher stammten die Narben auf seinen Rippen – von einem Streit mit einem Mann, der noch weniger Grund hatte zu leben als er selbst?
Seufzend lehnte er den Kopf gegen den Wannenrand, während die Hitze tief in seine Muskeln drang. Sein Haar hing ins Wasser.
Er hätte nicht sagen können, wie lange er in der Wanne gesessen hatte und immer wieder erwacht und erneut eingeschlafen war. Das Wasser wurde kühl. Er stand auf, bemerkte die runzlige Haut an seinen Händen und griff nach der Seife. Als er sich zweimal eingeseift und das Haar dreimal gewaschen hatte, war das Wasser schaumig vor Dreck. Ein Eimer mit Abspülwasser stand in der Ecke. Er stieg aus der Wanne und goss es über sich, obwohl es ihn schaudern ließ. Er trocknete sich mit den rauen Handtüchern ab und packte seine alten Sachen zu einem Bündel. So schmutzig sie waren, sie waren vielleicht doch einen Reis oder zwei für Lumpen wert.
Nachdem er seine neuen, sauberen Sachen angezogen hatte, steckte er ein kleines Bündel in den Hosenbund. Seine Finger verharrten noch einen Augenblick darauf. In der vor Dreck starren Seide befand sich der einzige Besitz, den er nie verkaufen konnte, ganz gleich, wie verzweifelt er sein mochte. Wenn man es an ihm entdeckte, würde man zweifellos erkennen, dass er ein abtrünniger Laranzu war, aber er konnte nicht wagen, es nicht am Körper zu tragen. Der hellblaue Sternenstein war ihm bei seinem Eintritt in den Turm von Arilinn überreicht worden. Während seiner Ausbildung hatte er ihn benutzt, um sein Laran zu konzentrieren und zu verstärken, sodass der Stein zu einer kristallisierten Ausweitung seines eigenen Geistes geworden war. Sollte er verloren gehen, gestohlen werden oder in die Hände eines anderen als eines Bewahrers fallen, wäre es gut möglich, dass der Schock Eduins Herz zum Stillstand brachte.
Eduin konnte sich nicht daran erinnern, wann er zum letzten Mal von einem anderen rasiert worden war. Der Barbier, ein drahtiger alter Mann, dem mehr Haare aus den Warzen an seinem Kinn wuchsen als auf dem Kopf, summte bei der Arbeit vor sich hin. Als er nach Eduins immer noch feuchtem Haar griff, wandte dieser ein, dass er für einen Haarschnitt nicht bezahlt hatte.
»Ach, aber es wäre ein Verbrechen, Euch so sauber und hübsch und mit solchem Haar gehen zu lassen. Ihr könnt diese verfilzten Stellen nicht mehr auskämmen, nicht einmal mit einem Pferdestriegel. Außerdem gibt es so etwas wie Berufsstolz.«
Eduin bedankte sich leise – nicht nur für den Haarschnitt, sondern auch für die Freundlichkeit des Mannes. Es war lange her, seit sein Leben solchen Luxus erlebt hatte.
Die nächsten Stunden verbrachte er damit, durch die Straßen zu wandern. Die Umgebung war ihm vertraut, und dennoch kam es ihm vor, als hätte er nie den Teil dieser Straßen gesehen, der oberhalb der Gosse lag. Als er zu dem Raum zurückkehrte, war die Tür nur angelehnt.
Ein hoch gewachsener, schlanker Mann blickte vom Tisch auf. Er trug einen kurzen Umhang mit einer Kapuze, die er tief ins Gesicht gezogen hatte. Eduin wusste, dass er seinen geheimnisvollen Wohltäter vor sich hatte.
»Ich bin froh, dass Ihr zurückgekehrt seid«, sagte er, »damit ich mich für alles bedanken kann, was Ihr für mich getan habt.«
»Das ist nicht notwendig«, lautete die Antwort. Die Stimme klang vertraut, als hätte Eduin sie in seinen alkoholdurchtränkten Träumen gehört. »Denn Gleiches zieht einander an, und Geist hat auf Geist geantwortet.«
»Ich – ich weiß nicht, was Ihr meint«, stotterte Eduin beunruhigt.
»O doch. Denn wer außer einem anderen Laranzu könnte erkennen, was du wirklich bist?«
Der Mann hob die Hand, zog die Kapuze zurück und enthüllte ein kantiges, wettergegerbtes Gesicht und das hellrote Haar der laran-begabten Comyn.