Читать книгу Die Flamme von Hali - Marion Zimmer Bradley - Страница 15

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Nachdem sie sich ausgeruht und die Energien, die in der langen Sitzung verausgabt worden waren, wieder aufgebaut hatten, brachte Raimon den Kreis abermals zusammen, diesmal zur Beratung. Sie mussten versuchen zu verstehen, was sie gesehen hatten, weitere Informationen sammeln und beschließen, was als Nächstes zu tun war. Die letzte Entscheidung stand selbstverständlich dem Bewahrer zu, aber in der Geschichte des Turms war noch nie eine solche Situation aufgetaucht. Sie wussten alle genau, wie wichtig ihre nächsten Schritte sein würden.

Als sie darüber sprachen, was sie gesehen hatten, wurde Dyannis plötzlich eine Unterströmung von Erinnerung bewusst, wie ein Jucken im Hinterkopf, das sie den ganzen Tag geplagt hatte.

»Ich weiß nicht, ob das für unsere derzeitige Situation irgendwie relevant ist«, sagte sie laut. »Aber das hier ist nicht das erste Mal, dass am See etwas Seltsames passiert ist. Vor Jahren haben mein Bruder Varzil und ich das Mittwinterfest am Hof des alten Königs Felix in Hali verbracht.«

Im Geist kehrte sie in diese Zeit zurück, und die anderen, immer noch in leichter Verbindung von der gemeinsamen Sitzung, folgten ihren Gedanken. Sie war sehr jung gewesen, erst vor kurzem im Turm eingetroffen, und hatte sich ununterbrochen in einem Zustand der Übererregung befunden. Erinnerungen durchfluteten sie und flössen in den Kreis: die Struktur der Steinmauer, auf die sie sich bei ihren Atemübungen konzentriert hatte, der laute Lärm von unten, erhobene Stimmen, rasche Schritte. Dyannis war nach draußen gerannt und hatte gesehen, wie zwei fremde Männer eine schlaffe Gestalt von einem Pferd hoben. Nachdem das Durcheinander sich gelegt hatte, wurde die Geschichte deutlicher.

Folgendes ist geschehen, sagte sie im Geist zu den anderen. Die beiden Männer waren Prinz Carolin und sein Freund Orain gewesen, und die durchnässte, schlaffe Gestalt ihr eigener Bruder. Die Heiler hatten ihn stundenlang behandelt, während Carolin im Flur auf und ab getigert war und alle anderen mit seinen Sorgen halb um den Verstand gebracht hatte.

Zuerst nahm Dyannis wie alle anderen an, dass Varzil einfach zu lange im See geblieben war. Man hatte sie als Novizin sofort vor den möglichen Folgen gewarnt.

Aber etwas anderes war Varzil zugestoßen, sagte sie. Etwas, das nicht nur mit Kälte und Luftmangel zu tun hatte. Sie hatte es gewusst, sobald sie ihn sah. Um seine Augen lag etwas Seltsames, das sie verblüffte. Das hier war immerhin ihr großer Bruder Varzil, der hören konnte, wie die Ya-Männer unter den vier Monden sangen, und andere Dinge, vor denen sie sich am liebsten unter der Bettdecke verkrochen hätte, wenn er nur davon sprach.

Dyannis zog sich einen Augenblick in die Privatsphäre ihrer Gedanken zurück. Kurz nach dem Vorfall am See hatte Varzil versucht, Dyannis ihre erste Liebe zu einem jungen Laranzu aus Arilinn zu verbieten. Das hatte sie ihm lange nicht verzeihen können.

Dyannis fand es seltsam, dass sie jetzt an Eduin dachte, denn das hatte sie schon lange nicht mehr getan, nicht seit der Katastrophe in Hestral. Sie glaubte immer noch, dass wahrscheinlich nie die ganze Geschichte ans Licht kommen würde. Eines war jedoch sicher: Es war ungerecht, Eduin die ganze Schuld zu geben. Er hatte außer Carolin Hastur keine mächtigen Freunde bei den Comyn, und zu diesem Zeitpunkt war Carolin im Exil gewesen und im wilden Land hinter dem Kadarin um sein Leben gerannt.

Der See...

Dyannis wandte sich wieder dem dringlicheren Problem zu.

»Was genau hat Varzil gefunden?«, fragte Raimon.

Varzil hatte es nicht genau erklärt, antwortete Dyannis, aber sie glaubte, dass er über ein Relikt der lange zurückliegenden Katastrophe gestolpert war, die den einstmals gewöhnlichen See zu dem Rätsel gemacht hatte, das er heute war. Vielleicht hingen geistige Überreste dieses Ereignisses immer noch im Nebel und waren nur in der Tiefe wahrnehmbar. Varzil mit seinem außergewöhnlichen Laran hatte vielleicht gespürt, was anderen, selbst anderen Leronyn, entgangen war.

Die anderen schauten einander besorgt an, und selbst Raimon wirkte ernst. Das konnte sie ihnen nicht übel nehmen. Man hielt Varzil im Allgemeinen für den mächtigsten Laranzu der Gegenwart. Wie konnten sie mit etwas zurechtkommen, das selbst Varzil beinahe überwältigt hatte?

»Selbstverständlich«, sagte Dyannis laut, um sich selbst ebenso wie die anderen zu trösten, »war Varzil damals sehr jung. Ich glaube, er war noch kein ganzes Jahr in Arilinn gewesen. Und er war vollkommen unvorbereitet auf diese Sache gestoßen.«

Wir werden vorbereitet sein, fügte sie im Geist hinzu, mit einem Selbstvertrauen, das sie nicht wirklich spürte.

Raimon bemerkte, dass ihre Tapferkeit überwiegend gespielt war.

Aber jetzt sind wir noch nicht so weit. Als Nächstes müssen wir Informationen und Hilfsmittel sammeln. Wenn diese Sache etwas mit der Katastrophe zu tun hat, die den See veränderte, wird es nicht einfach sein, damit zurechtzukommen.

Da war es, dachte Dyannis. Er hatte die Angst, die sich in allen regte, in mentale Worte gefasst.

»Wir müssen zweierlei tun«, sagte Raimon vorsichtig. »Als Erstes müssen wir so viel wie möglich über die Energiequelle herausfinden, vor allem, ob sie tatsächlich, wie wir annehmen, für diese atmosphärischen Störungen verantwortlich ist.«

»Etwas, das so mächtig ist, kann nicht einfach unbeachtet gelassen werden, damit jeder es nutzen oder ausnutzen kann«, fügte Lewis-Mikhail hinzu.

»Genau«, fuhr Raimon fort. »Deshalb besteht unsere zweite Aufgabe darin herauszufinden, wer den Energieschild geschaffen hat und aus welchem Grund. Und dabei müssen wir sehr vorsichtig sein.«

Raimon verbreitete an diesem Abend durch die Relais, was sie entdeckt hatten. Er machte Pläne, mit König Carolin zu sprechen, denn der Hali-See befand sich auf dem Territorium der Hasturs. Was immer seinem Volk oder seinem Land durch das Vorhandensein einer solch mächtigen und unbeherrschten Energiequelle zustieß, war letztendlich Carolins Verantwortung. Wenn ein anderer Turm beteiligt gewesen wäre, wäre dies ein angemessener Anlass gewesen, den Pakt auszudehnen.

Der Turm von Hali hatte bereits geschworen, sich an den Pakt zu halten, dieses Abkommen, das nicht erlaubte, Waffen zu benutzen, die auf Entfernung töteten. Hali mochte einer der ältesten Türme auf Darkover sein, aber viel von seinem Prestige stammte von dem Rhu Fead, wo sich die alten heiligen Gegenstände befanden, und seiner Nähe zur Residenz des Königs. Es hatte keine Macht, andere Türme zu etwas zu zwingen. In diesen unsicheren Zeiten, in denen ein bewaffneter Konflikt stets möglich war, war kein Turm wirklich neutral. Der Comyn-Rat übte großen Einfluss aus, aber er würde noch einige Zeit nicht zusammentreten; wie alle Institutionen bewegte er sich langsam.

Ein paar Tage später sammelten sich Sturmwolken, und der Frühlingsregen ergoss sich über Hali. Es donnerte, und ein Blitz nach dem anderen verband Himmel und Erde. Nur die Tatsache, dass der Regen bereits jeden Baum, jede Hütte, jedes Haus und jedes Feld durchnässt hatte, verhinderte das Aufflackern von Feuern. Die Steinmauern des Turms vibrierten von der Heftigkeit des Winds.

Als der Regen nachließ und die große Rote Sonne erschien, bemerkte die Turmgemeinschaft sofort ein Nachlassen der elektrischen Spannung. Raimon beschloss, das auszunutzen, denn niemand wusste, wie lange es dauern würde. Er schickte Dyannis zusammen mit Rorie und Alderic hinunter zum See, damit sie ihn sich näher ansehen konnten. Es war ein sonniger, überraschend warmer Tag, als hätte der Frühling einen wohlriechenden Herold geschickt, um sie zu necken. Am Himmel war nicht eine einzige Wolke zu sehen. Dennoch näherten sie sich dem Wolkenwasser nur zögernd.

Die drei befanden sich in leichter Verbindung; auf diese Weise würden die beiden Männer den Boden des Sees untersuchen, während Dyannis sie beobachten und ihren Atem überwachen konnte.

Dyannis fand eine Stelle, wo sie sich auf ein paar von Wind und Wetter glatt geschliffene Steine setzen konnte. Sie raffte ihren Rock und benutzte ihre Atemübungen, um sich körperlich und geistig zu beruhigen. Die Sonne wärmte ihr Gesicht und verursachte Muster auf ihren geschlossenen Augenlidern. Sie roch nassen Sand und den ein wenig scharfen Geruch von Wasserpflanzen. Hinter ihr zwitscherten kleine Vögel.

Im Geist stieg sie mit den Männern abwärts, als ob die beiden sie schweigend und unsichtbar mit sich trügen. Spinnwebweiße Nebel wirbelten um sie herum. Die Zeit selbst schien langsamer zu werden. Licht fiel in hellen Schichten in den See. Farbkugeln, wie ein Muster aus hellgelben und orange-schwarzen Streifen, schossen durch ihr Blickfeld. Sie stieß einen leisen Ruf aus, entzückt über die seltsam leuchtenden Geschöpfe, die weder Vogel noch Fisch waren. Sie drängten sich um die Forscher, wohlwollend, schön und ungreifbar.

Als die Männer tiefer in den See vordrangen, veränderten sich die Farben. Gelb wich nach und nach dem Tintenblau. Die Temperatur sank. Dyannis schauderte in der Sonne, dann stellte sie fest, dass ihr Atem mühsamer geworden war.

Atmet – ihr müsst daran denken zu atmen, sendete sie. Sie zählte: Einatmen – zwei, drei, ausatmen – zwei, drei, einatmen... und wusste, dass ihre Freunde drunten die gleiche Übung vollzogen.

Ein- oder zweimal verlor sie den Kontakt mit ihnen. Jedes Mal fiel es ihr schwerer, die Verbindung wiederherzustellen. Es schien, als trennte sie mehr als nur Entfernung. Das Wolkenwasser, das üblicherweise psychische Eindrücke leitete, agierte nun als immer undurchlässigere Barriere.

Rorie? Deric? Was ist los?

Wir haben den Boden erreicht. Alderics für gewöhnlich so klare geistige Stimme klang verschwommen. Zumindest werden wir nicht tiefer reingehen. Ich kann nicht weit sehen, aber es scheint hier nichts anderes zu geben als Steine und Sand.

Dyannis verzog das Gesicht. Was in der Überwelt ein zerklüfteter Riss war, konnte für gewöhnliche Sinne wie alles Mögliche – oder wie nichts – aussehen. Sucht weiter, sagte sie. Und vergesst nicht zu atmen.

Wenn wir es vergessen, verlassen wir uns darauf, dass du uns erinnerst, sagte Rorie.

Faultier.

Nervensäge, erwiderte er gut gelaunt.

Hier vorn ist etwas, warf Alderic ein.

Dyannis erkannte, dass im Nebel etwas Bleiches sichtbar wurde. Die beiden Männer gingen mit trägem, beinahe fließendem Schritt darauf zu, halb schwebend in dem Wolkenwasser. Der Umriss blieb ärgerlich diffus, sosehr sie auch versuchte, sich zu konzentrieren. Sie war überzeugt, dass das nicht nur mit der Entfernung oder dem isolierenden Wolkenwasser zu tun hatte. Es kam von einer Eigenschaft des Ortes selbst.

Was könnt ihr sehen?, fragte sie.

Steine, erwiderte Rorie. Mit Werkzeugen bearbeitet, nicht natürlich. Sie sind riesig, eine Art von Säule, umgefallen und geborsten, aber immer noch einigermaßen erhalten.

Dyannis spürte, wie Alderic mit den Händen über die gebogene Oberfläche fuhr. Auf einer gewissen Ebene spürte sie den eingekerbten harten Stein, die rutschige Schicht aus Schlamm, die Rauheit, wo ein Geschöpf seine Schale befestigt hatte und dann gestorben war. Ein anderer Teil ihres Geistes schrie erschrocken auf.

Seltsame, widersprüchliche Energien bewegten sich um die beiden Männer herum, durch die Steine hindurch. Das Wolkenwasser bewegte sich heftiger, ließ das Haar der beiden wehen. Aber das hier war keine gewöhnliche Strömung. Sie spürte so etwas wie magnetische Anziehung.

Dyannis warf ihre Gedanken weit aus wie ein Fischer sein Netz, suchte nach der Richtung, aus der die Anziehung kam.

Die Überwelt!

Irgendwie waren die Steine unten im See mit dem grauen Reich der Gedanken verbunden, und von dort aus mit einem anderen Ziel. Es war eindeutig, dass hier immense Kraft von einem Ort zum anderen strömte.

Die einzige Möglichkeit herauszufinden, was geschah, bestand darin, dem Energiefluss zu folgen. Also hörte sie auf, sich der Anziehung zu widersetzen, und ließ sich mittragen.

Augenblicke vergingen, und Dyannis spürte, wie ihr Bewusstsein tiefer in den See gezogen wurde, auf die Reihe umgestürzter Steine zu. Die beiden Männer verblassten, und nur der helle Stein blieb.

Näher und näher brachte die Strömung sie, bis sie sich fragte, ob sie bis in die Substanz des Steins getragen würde. Mit der Disziplin jahrelanger Turmausbildung unterdrückte sie ihre Panik.

Entspann dich!, sagte sie sich. Sie befand sich nicht körperlich an diesem Ort und konnte nicht verletzt werden. Sie musste sich weitertragen lassen...

In ihrem Geist spürte sie die feinkörnige Härte der Steinsäule, die beinahe ausgelöschten Werkzeugspuren, die noch schwach unter den Lagen von Algen wahrzunehmen waren. Noch einen Augenblick, und dann würde sie in diese harte Substanz eindringen, wie sie es als Teil eines Laran-Kreises getan hatte, der tief in der Erde kostbare Metalle gefördert hatte.

Mit einem Ruck ging sie direkt durch die umgefallene Säule in die Überwelt. Einen Augenblick erkannte sie ihre Umgebung nicht. Sie stand nicht auf der vertrauten gleichförmigen grauen Ebene, sondern schwebte in sanft sich bewegenden Nebelschwaden. Dann riss der Nebel einen Moment auf, und sie sah etwas, das sie verblüffte. Das Wolkenwasser – oder sein astrales Äquivalent – floss aus dem Boden des Sees in sein Gegenstück in der Überwelt. Sie war sicher, dass der Überweltsee an der Schwelle des Hali-Turms erst vor kurzem entstanden sein konnte. Er fühlte sich jedenfalls ganz neu an, hatte nicht die Struktur von etwas, das durch gemeinsame Gedanken geschaffen worden war.

Nun bewegte sie sich wieder, weiterhin gefangen in der Strömung. Das Seewasser der Überwelt wurde weggesaugt. Sie zwang sich, sich zu entspannen und mittreiben zu lassen. Einen Augenblick spürte sie nichts als die Strömung. Es erinnerte sie an einen kleinen Bach, in dem das Wasser rasch zwischen schmalen Ufern dahinströmte. Hier gab es keine Strudel, keine Sandbänke, keine Zuflüsse, nur eine einzige gnadenlose Richtung. Energie wogte um sie her. Angesichts dieser rohen Kraft wich sie ein wenig zurück.

Was konnte ein Turm mit einer solchen Energiequelle anfangen? So gut wie alles! Jeder Kreis, in dem sie gearbeitet hatte, war durch die Menge der Laran-Energie, die ihm zur Verfügung stand, eingeschränkt gewesen. Hier gab es nun einen scheinbar grenzenlosen Vorrat. Man würde nur ein Mittel brauchen, um ihn zu beherrschen.

Und natürlich einen Turm.

Sie tastete mit ihren Laran-Sinnen umher, warf sie voraus in die Leere. Um den Strom von Energie zu empfangen, um ihn zu formen und zu nutzen, brauchte ein Kreis eine Präsenz, einen Ankerpunkt. Manchmal errichtete ein Kreis seinen eigenen vertrauten Turm in der Überwelt, obwohl sich das Aussehen der Türme mit der Zeit und dem Zweck änderte. Wenn die Feindseligkeiten zwischen Königreichen sich bis in ihre Türme erstreckten, traten festungsartige Gebäude an die Stelle bequemer, offener Räumlichkeiten.

Zunächst erkannte Dyannis nicht so recht, was da vor ihr aufragte. Das Gebäude erinnerte mehr an eine Wassermühle als an den Turm, den sie erwartet hatte. Energie floss hindurch und drehte das gewaltige Mühlrad.

Sie ließ sich von der Strömung so nahe heranbringen, wie sie es wagte. Mit verschärfter Konzentration riss sie sich aus dem Wolkenwasser los und nahm die Gestalt an, die sie stets in der Überwelt hatte. Sie wusste, dass sie ganz ähnlich aussah wie in der physischen Welt – gekleidet in einen Reitrock, Schnürstiefel und ein Hemd mit offenem Kragen.

Nun, da sie einen Astralkörper hatte, konnte sie auch Geräusche wahrnehmen. Das Mühlrad knarrte auf seiner Achse, das Wolkenwasser gurgelte und plätscherte. Hinter den grauen Wänden rumpelten verborgene Maschinen. Sie ging näher heran, suchte nach einem Eingang oder einer Spur menschlicher Präsenz. Es gab jedoch nichts – was sie einen Augenblick verblüffte.

Es war, als hätte jemand die Mühle und die Maschinerie gebaut und dann einfach hier gelassen, damit sie ihren Zweck erfüllte.

Sie stand neben dem Bach und dachte nach. Die Mühle war wie alles andere in der Überwelt aus Gedankenstoff erbaut, aber das Wolkenwasser wirkte genau wie in der körperlichen Welt. Es wirkte... Sie kniete nieder und tauchte die Fingerspitzen in den wirbelnden Nebel. Ein elektrischer Schlag traf sie. Sie riss den Arm im Reflex zurück, und ihre Nerven kribbelten schmerzhaft.

Dann wischte sie sich die Hände am Rock ab und wandte sich wieder der Mühle zu. Sie konzentrierte sich auf die Steinmauer vor sich und ließ sie transparent werden. Zunächst widerstand die Mauer ihr, aber dann wurde sie durchsichtig, wenn auch mit Schlieren wie bei einem Hitzebild. Dyannis betrat das Gebäude.

Sie schärfte ihre Konzentration und war imstande, ihre Umgebung deutlicher zu sehen. Der Mechanismus war ebenso wie das Wolkenwasser und die Mühle selbst nur eine Vorstellung, eine Metapher. Dyannis entdeckte einen Durchgang, eine Abkürzung von der Überwelt in die wirkliche Welt. In einen Turm.

Sie spürte den Kreis am anderen Ende des Energiestroms eher, als dass sie ihn sah. Sie kannte dort niemanden; es war keine Gruppe, die sie schon einmal gesehen hatte. Sie wartete, da jeder Augenblick neue Informationen brachte – eine Spur von Persönlichkeit, die Struktur eines sehr leistungsfähigen Matrix-Gitters, die Gedanken des Bewahrers, das kunstvolle Verflechten von Macht.

Dyannis nahm einen leicht säuerlichen Geschmack in der psychischen Atmosphäre wahr. Instinktiv wich sie davor zurück, aber sie zwang sich, passiv und empfänglich zu bleiben. Sie würde wahrscheinlich nicht viel Zeit haben, bevor der Bewahrer ihre Anwesenheit spürte.

Es war nicht wirklich ein Geschmack, denn sie hatte keinen wirklichen Körper und auch keinen Geschmackssinn. Sie wusste, ihr Geist bemühte sich nun um eine Annäherung an eine tatsächliche, elementarere Erfahrung. Bald wurde der Eindruck nicht nur widerwärtig, sondern geradezu giftig. Etwas würde verschmolzen, beherrscht und geschaffen von dem verbundenen Willen des Kreises.

Sie stellten etwas her. Es musste eine Laran-Waffe sein. Was war es? Übelkeit krallte an ihrer Kehle, aber sie blieb standhaft. Sie musste sicher sein.

Energiewände schimmerten, umgaben ein Herz aus schwächlich glühendem Grün.

Knochenwasserstaub?

Es war die schrecklichste aller Laran-Waffen, denn sie brachte nicht nur jedem den Tod, der sie berührte oder einatmete, sondern verharrte für Generationen und länger und vergiftete alles Leben. Es gab immer noch Landstriche, die seit dem Zeitalter des Chaos niemand zu durchqueren wagte, in denen man keine der Pflanzen oder Tiere verzehren konnte. Soweit Dyannis wusste, besaß derzeit kein Turm Knochenwasserstaub oder stellte welchen her.

Mit großer Anstrengung konzentrierte sie sich wieder auf die Waffe. Ja, es war vom Vibrationsmuster her ganz ähnlich wie Knochenwasserstaub. Aber nicht genauso. Das hier fühlte sich weniger virulent an, aber es schien auch eine andere physische Konfiguration zu haben; es waren eher Körner oder Kristalle als pulvrige Partikel. Er würde sich nicht so weit verteilen, würde gleich auf den Boden fallen, statt vom Wind weitergetragen zu werden.

Eine Waffe, in der Tat. Eine, die präzise eingesetzt werden konnte, mit weniger Risiko, dass eine plötzlich aufkommende Bö sie zurück zu den angreifenden Streitkräften trug. Angeblich war das eine Generation zuvor in Dry creek passiert, wo der gesetzlose Laranzu Rumail Deslucido Knochenwasserstaub auf die Armee von König Rafael Hastur losgelassen hatte, aber der Staub war weit umhergeweht worden und hatte damit auch Deslucidos Männer zum Tode verurteilt. Es hieß, Rumail sei auf diese Weise durch seine eigene Hand umgekommen, aber seine Leiche war nie identifiziert worden. Auch jetzt wagte sich niemand, dem sein Leben lieb war, in das Ödland von Drycreek.

Dyannis musste es Varzil sagen. Der Comyn-Rat musste alarmiert werden...

Dyannis beherrschte den Impuls, sich sofort zurückzuziehen. Es würde nicht viel nützen, wenn sie über die Knochenwasserkristalle Bescheid wussten, aber nicht, wer sie herstellte. Sie zwang sich, sich intensiver zu konzentrieren, die bewegten unirdischen Schichten der Überwelt zu durchdringen. Sie war eine starke Telepathin, aber die Anstrengung war zu groß. Nur einen winzigen Augenblick lang sah sie den Raum, in dem der Kreis zusammensaß. Sie saßen um einen großen ovalen Tisch. Blauweißes Licht von der künstlichen Matrix an einem Ende zuckte über Gesichter, die ausdruckslos vor Konzentration waren. Der größere Teil des Tischs war voller Apparaturen – Glasbehälter, Destillatoren, Zentrifugen und anderen, die so spezialisiert waren, dass Dyannis sie nicht erkannte. Einige waren halb gefüllt, und ihr Inhalt leuchtete schwach grünlich. Der Raum und sein Zuschnitt waren ihr nicht vertraut, aber ein plötzliches Aufleuchten des Lichts bewirkte, dass die Züge des Bewahrers sich deutlicher abzeichneten.

Sie kannte diesen Mann, denn er hatte seine Ausbildung in Hali begonnen und war immer noch dort gewesen, als sie zum ersten Mal in den Turm gekommen war.

Francisco Gervais. Bewahrer des Turms von Cedestri.

Dyannis... Rories geistige Stimme klang nun hohl und seltsam verzerrt.

Zandrus Fluch! Während sie ihren eigenen Impulsen gefolgt war, hatte sie vergessen, ihre Freunde zu überwachen. Ohne die normalen Luftgase, die das Atmen auslösten, war ihnen das Nachlassen ihrer Aufmerksamkeit nicht aufgefallen. Sofort berührte sie sie im Geist. Sie konnte sie mit ihrem inneren Blick erkennen. Alderic war auf die Knie gesunken, gebannt vom Muster des Schlamms in dem wirbelnden Wolkenwasser. Lethargie ließ seine Arme und Beine schwer werden. Eine lang gezogene, silbrige Gestalt schlängelte sich durch das trübe Wasser, und ein winziges Leuchten hing über der Nase des Geschöpfs. Alderic folgte seiner Bewegung verträumt.

Müssen... uns bewegen..., sagte Rorie, aber ohne Überzeugung.

...ein Weilchen ausruhen...so angenehm und warm...

Warm? So tief im See war es kalt!

Steht sofort auf, ihr beiden! Atmet! Bewegt euch!, schrie Dyannis lautlos.

Dyannis... keine Sorge... geht uns gut...

Gut? Konfus, halb ertrunkenach, was hat es für einen Sinn zu streiten? Ich komme!

Dyannis sprang auf und rannte zum Wasser. Das Wolkenwasser spritzte über ihre Stiefel, und der Saum ihres weiten Rocks wurde nass. Feuchter Nebel wand sich um ihre Beine, drang durch alle Schichten ihrer Kleidung. Sie keuchte über die plötzliche Kälte.

Sobald ich richtig durchnässt bin, werden diese dummen Röcke so schwer an mir hängen wie Durramans Esel!

Dyannis blieb stehen, wo sie war, knietief im Wasser, und griff nach den Bändern ihres Überrocks. Sie bedankte sich mit einem Stoßgebet bei Cassilda oder wer immer Frauen mit zu viel Kleidung beschützte, dass sie an diesem Morgen über ihr knöchellanges Hemd zwei Röcke und ein Mieder gezogen hatte. Sie kämpfte sich aus dem dicken wollenen Überrock, ließ ihn fallen und trat ihn beiseite. Der untere Rock, den sie im Haus trug, war leichter, wurde aber auch schnell nass. Sie zog ihre Jacke aus, warf sie zurück auf den Sand und nestelte an den Schließen des zweiten Rocks. Sie schauderte bereits, aber zumindest würde sie imstande sein zu laufen – oder zu schwimmen –, wenn das nötig wurde.

Dyannis! Schon gut! Wir sind auf dem Weg! Rories Gedanken waren klar genug, um sie davon zu überzeugen, dass er zumindest zum Teil aus seiner Lethargie erwacht war.

Lächelnd watete sie zurück ans Ufer und zog ihre Jacke wieder an. Der Überrock war zu nass, aber zumindest würde sie den Skandal vermeiden, dass eine Leronis von Hali halb nackt in der Öffentlichkeit herumlief, selbst wenn es ein angenehmer Frühlingsmorgen war.

Rorie tauchte als Erster aus dem See auf und stützte Alderic. Die Kleidung der beiden war feucht, und ihr Haar hing in schlaffen Strähnen herunter wie Wasserpflanzen. Alderic hustete und spuckte, als er wieder normale Luft einatmete. Dyannis reichte ihnen die trockenen Umhänge, die sie mitgebracht hatten, aber es dauerte eine Weile, bevor Alderic aufhörte zu schaudern.

»Je mehr wir darüber erfahren, was da unten los ist«, sagte Rorie auf dem Rückweg zum Turm, »desto verwirrender wird es.«

Dyannis teilte seine Frustration, hielt es aber für besser, das nicht laut auszusprechen.

Sie kehrten in den Turm zurück, zu heißen Bädern und trockener Kleidung. Raimon hörte ernst zu, als sie sowohl telepathisch als auch laut berichteten, was sie gesehen hatten. Er war besonders besorgt darüber, dass eine neue Art von Knochenwasserstaub hergestellt wurde.

An diesem Abend sprach Raimon direkt über Relais mit dem Bewahrer des Turms von Cedestri. Francisco wies Raimons Versuche, mit ihm zu diskutieren, jedoch entschlossen ab. Raimon war zwar so gefasst wie stets, als er aus der Relaiskammer kam, aber Dyannis nahm an, dass der Austausch nicht so höflich verlaufen war, wie er ihn wiedergab.

»Was haben sie erwartet?«, sagte sie gereizt zu Rorie. Sie saßen zusammen im Gemeinschaftsraum und tranken heißen, honiggesüßten Wein, der ihnen helfen sollte, sich zu erholen. »Dass sie eine solche Energiequelle direkt vor unserer Tür nutzen können – und für einen solchen Zweck! –, ohne dass wir es herausfinden? Haben sie geglaubt, wir würden es ihnen durchgehen lassen? Oder warten sie darauf, dass Carolin eine Armee schickt, um den Turm zu schließen?«

Rorie schüttelte den Kopf. »Versuche einmal, die Dinge aus dem Blickwinkel von Cedestri zu sehen. Sie sind nicht Carolins Untertanen, wie du, genau weißt, also sind sie ihm keine Rechenschaft schuldig. Und wenn die neuesten Berichte stimmen, werden sie sich bald im Krieg befinden.«

Dyannis runzelte die Stirn. Cedestri war ein legitimer Turm, hatte sich aber schlicht geweigert, den Pakt zu unterzeichnen. Tatsächlich hatte man dort jene Arbeiter willkommen geheißen, die sich nicht an die Einschränkungen halten wollten. Der Turm war mit dem kleinen Königreich Isoldir verbündet. Die Berichte, von denen Rorie sprach, beschrieben eskalierende Feindseligkeit zwischen Isoldir und seinen Nachbarn, einem Zweig der Aillard-Familie. Ellimara hatte auf die Nachricht, dass die Feinde ihrer Familie eine wirkungsvollere Variante von Knochenwasserstaub zur Verfügung haben würden, beinahe mit Panik reagiert, und war immer noch nicht imstande, sich genügend zu konzentrieren, um arbeiten zu können.

»Sie befürchten wahrscheinlich, dass der gesamte Aillard-Clan gegen sie zu Felde zieht«, fuhr Rorie fort. »Würdest du bei einer solchen Gefahr nicht auch alles tun, was in deiner Macht steht, um deine Position zu stärken?«

»Die Herstellung von kristallisiertem Knochenwasser eingeschlossen?«, fragte sie wütend. »Rorie, ich kann mir überhaupt keinen legitimen Grund für den Einsatz einer solchen Waffe vorstellen, einer, die sogar kleine Kinder tötet und die Überlebenden so krank macht, dass ihnen der Tod wie eine Gnade vorkommt.«

»Du klingst, als stündest du vollkommen auf der Seite deines Bruders und seines Pakts. Das war mir bisher nicht klar.«

Dyannis hielt die Luft an. Hali hatte den Pakt unterzeichnet, bald nachdem König Carolin und Varzil ihn öffentlich präsentiert hatten, und die Diskussion war nur kurz gewesen. Hali war immerhin an Hastur gebunden.

Sie hatte nicht intensiv über den Pakt nachgedacht, glaubte aber ohnehin, an die Entscheidung ihres Bewahrers gebunden zu sein. Sie war sich allerdings auch sehr bewusst, dass sie nur die Ansichten ihrer Umgebung absorbiert hatte. Sie selbst war nie in Versuchung geraten. Sie hatte ihr Laran genutzt, um die Zerstörungen zu heilen, die von Schwert und Haftfeuer bewirkt worden waren, aber sie hatte selbst nie blutend auf einem Schlachtfeld gelegen oder das unmöglich zu löschende ätzende Brennen an Fleisch und Knochen gespürt. In ihrer Kindheit in Sweetwater hatte sie viele Kriegsgeschichten gehört, aber Dyannis selbst hatte nie wirklich Krieg erlebt.

Varzil andererseits war vertraut mit Verrat und Verlust, hatte erleben müssen, wie Menschen, die er liebte, unter psychischem Bombardement standen, bei dem die Steine unter ihren Füßen sich zu Staub auflösten und sie vollkommen den Verstand verloren. Sein bester Freund Carolin Hastur hatte ins Exil fliehen müssen und sich für einen schrecklichen Preis den Weg zum Sieg erkämpft. Während jener Jahre, als Hali unter der Herrschaft von Carolins verräterischem Vetter Rakhal stand, hatte Dyannis immer gefürchtet, man würde sie in den Krieg gegen ihren Kindheitsfreund, vielleicht sogar gegen ihren eigenen Bruder rufen.

»Ich weiß es nicht«, sagte sie langsam. Sie schauderte, als sie erkannte, dass ihre eigenen Prüfungen, worin immer sie bestehen mochten, noch vor ihr lagen.

Die Flamme von Hali

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