Читать книгу Die Flamme von Hali - Marion Zimmer Bradley - Страница 17
9
ОглавлениеDie Menge war den ganzen Abend über gewachsen. Alle paar Stunden versuchten Carolins Wachen, sie zu zerstreuen, aber die Menschen kamen immer wieder zusammen wie ein vielköpfiges Tier, erschienen immer wieder in anderen Teilen der Stadt und waren jedes Mal zorniger und beharrlicher als zuvor.
Eduin beobachtete die Szene vom Dach des Hauses eines Sympathisanten aus. Entlang der gewundenen Gassen und auf den offenen Plätzen der Märkte sah er Männer mit Fackeln, helles Leuchten vor dem tintenblauen Himmel, und er wusste, für jeden, der sichtbar war, gab es noch Dutzende oder mehr, die sich verbargen, Schatten unter Schatten, die sich insgeheim sammelten.
Seit der Abenddämmerung hatte Saravio unermüdlich unter ihnen gearbeitet. Er hatte sich heiser geredet, weil er die Sätze, die Eduin ihm eingetrichtert hatte, ständig wiederholte, bis sie hundertfach verstärkt durch die brodelnde Frustration der Gosse zu ihm zurückhallten. Viele dieser Menschen hatten durch die Kriege der Hasturs ihre Heimat und ihre Familien verloren, aber noch viel mehr vegetierten einfach in endloser, geistloser Verzweiflung vor sich hin. Wenn sie jetzt zu den hell erleuchteten Palästen der Comyn aufschauten, den märchenhaften Türmen, die von Licht und Wärme glühten, sahen sie dort den Grund für ihr Elend.
Sie sind faul, während wir hungern. Ihre Zauberei hat unser Land und unsere Tiere unfruchtbar gemacht, sie hat unsere Söhne verkrüppelt und uns deformierte Kinder gegeben...
Der Himmel selbst schreit vor Empörung über ihre Bosheit...
Ununterbrochen bearbeitete Saravio ihren Zorn, wie ein Bäcker einen Klumpen Teig knetet, ihn hierhin schiebt, ihn dorthin zieht und ihn mit Hefe und Tränen durchsetzt, bis der richtige Zeitpunkt gekommen ist.
Als die Sonne aufging, öffneten sich die Tore von Thendara. Naotalbas Armee verließ die Stadt in kleinen Gruppen. Der geplante Sammelpunkt, eine Wegkreuzung, befand sich weit genug hinter dem Hali-Tor, dass er für Carolins Männer nicht sofort zu erreichen war. Die Stadtwachen unternahmen keinen Versuch, die Leute aufzuhalten. Sie waren froh, dass die Unruhestifter die Stadt verließen.
Eduin folgte in der Anonymität der Menge. Er hatte in dieser Nacht nur wenig geschlafen, und Saravio war überhaupt nicht zur Ruhe gekommen, aber das war nichts verglichen mit dem blutunterlaufenen Wahnsinn, den er in den Augen der Menge sah. Er spürte ihren Zorn wie Zündstoff, der den Funken erwartet.
»Keine Hexenkönige mehr!«, riefen sie. Das schräge Morgenlicht fiel auf Mistgabeln, Stöcke, Holzfälleräxte. Ein paar hatten Waffen mitgebracht, Bogen, Pfeile und Messer, und sahen aus, als wüssten sie, wie man mit ihnen umging.
»Schluss mit den Türmen! Widernatürliche Hexerei!«
Saravio stand auf einer kleinen Anhöhe oberhalb der Kreuzung. Wie sie geplant hatten, trug er ein gegürtetes weißes Gewand mit einer Kapuze. Eduin versah ihn mit Glanz, sodass Saravios Gestalt von innen zu leuchten schien, als er die Arme hob.
»Nieder mit den Teufeln aus den Türmen! Keine Tyrannen mehr!«
Eine Hand voll Männer war selbst auf die Idee gekommen, eine Puppe aus schmutzigem Stroh auf einem Stab zu platzieren und in Streifen von rotem Tuch zu wickeln. Auf den Sack um den Kopf der Puppe hatten sie ein primitives, beinahe obszönes Grinsen gemalt, und an einer Schnur um ihren Hals hing eine Glasscherbe.
Eduin schauderte. Saravio war erfolgreicher gewesen, als er erwartet hatte. Er hatte diese Leute zu einer Waffe geschmiedet, die so mächtig war wie Haftfeuer. Ihre Emotionen, deutlich im psychischen Raum wahrzunehmen, zuckten in hektischen Mustern, dem Wahnsinn sehr nahe. Sie waren über jeden rationalen Gedanken hinaus. Nichts würde sie aufhalten, kein Vernunftargument, kein Hunger, keine körperlichen Wunden, denn wenn einer von ihnen fiel, würden zehn andere seinen Platz einnehmen. Sie würden nicht aufhören, bis sie sogar den Turm selbst niedergerissen hatten – nicht, solange sie noch lebten und atmeten.
Einen Augenblick traten die Männer zurück von der Spottfigur eines Bewahrers, die sie hergestellt hatten. Eduin berührte seinen Sternenstein, um sich zu konzentrieren, und benutzte sein Laran, um das Stroh zu entzünden. Es war so trocken, dass es sofort in Flammen aufging. Die Menge schrie in einem Augenblick des Entsetzens auf. Dann erklang Jubel und steigerte sich zu einem wortlosen, hirnlosen Brüllen.
Ein paar der stärkeren Männer packten den Stab, hoben ihn hoch und trugen ihn weiter. Auf Saravios geistiges Drängen hin begannen sie zu rufen: »Hali! Nieder mit Hali!«
Innerhalb von Augenblicken hatte die Menge sich auf den Weg gemacht und rannte Hals über Kopf die Straße entlang, die zum Turm führte. Um dorthin zu gelangen, würden sie am See vorbeikommen, wo, wenn die letzten Berichte der Wahrheit entsprachen, Varzil wartete.
Der Kreis fühlte sich für Dyannis vollkommen vertraut an, obwohl sie draußen standen, statt in einer abgeschirmten Matrix-Kammer zu sitzen. Sie atmete die taufeuchte Luft ein, roch die Gräser und die niedrig wachsenden Himmelsblüten, die sich zäh an die Dünen klammerten. Der Morgen umgab sie beinahe liebevoll, und sie bemerkte, dass das gelegentliche Vogelgezwitscher sie nicht ablenkte, sondern ihre Geistesgegenwart nur vergrößerte.
Dyannis schloss die Augen, um sich besser konzentrieren zu können. Ebenso wie die anderen trug sie ihren Sternenstein ungeschützt an der nackten Haut. Raimon gab das Zeichen zu beginnen. Mit seiner kühlen, leichten geistigen Berührung verwob er sie miteinander. Dyannis dämpfte ihre Aufregung und verband sich mit den Menschen, mit denen sie schon so lange und vertraulich zusammengearbeitet hatte, und sank in die Verbindung. Ihr Atem wurde tiefer. Die körperliche Welt zog sich zurück, sodass Dyannis nicht mehr wusste, ob sie stand oder saß, ob es Tag oder Nacht war, Winter oder Sommer, ob sie sich draußen befand oder eingeschlossen in ihrem Turm.
Als Varzil und Alderic sich vom Kreis entfernten, bewirkte das nur ein geringfügiges Schwanken in der Einheit. Raimon hatte sie auf solche Weise miteinander verbunden, dass die körperliche Trennung vielleicht die Färbung des Verbundenseins veränderte, aber nicht die Verbindung selbst. Dyannis stand am Seeufer, mit den anderen zu einem Kreis vereint, und gleichzeitig reiste sie mit ihrem Bruder und ihrem Freund durch die Schichten des Wolkenwassers.
Sie hatte das Gefühl zu schweben, als hielte das Universum den Atem an. Die einzige Realität waren Rhythmus und Struktur des geistigen Pulsschlags des Kreises.
Durch die Linse der Gedanken ihres Bewahrers spürte sie, wie die beiden drunten vorankamen. Macht schimmerte durch das Netz, das sie miteinander verband. So intensiv war ihre Konzentration, dass sie alles Zeitgefühl verlor.
Varzil erreichte die Säulen und durch sie den Energieriss. Dyannis spürte ihn als Spalte, als Öffnung in der Haut der Welt. Das Wasser in seiner seltsam veränderten Form kam ihr wie Tränen vor, als weinte Darkover selbst über das, was hier getan worden war.
Wir sind hier, um diese Wunde zu heilen.
Dyannis war von Hoffnung erfüllt. Sie sprach ein lautloses Gebet darum, dass diese Heilung möglich sein würde, dass sie die Kraft haben würden, es zu tun. Sie sehnte sich danach, den See mit echtem Wasser unter der großen Roten Sonne glitzern zu sehen und dahinter den Turm von Hali, der sich erhob, um Erde und Himmel zu verbinden.
In einem Augenblick wortlosen Verstehens begriff sie, dass darin der Sinn ihres Laran lag – das Unsichtbare zu sehen, das Nichtmaterielle zu fassen, die Qualen der Welt selbst zu heilen. Das Wort für »Begabung«, Donas, bedeutete etwas, das einem in einem Zustand der Gnade geschenkt wurde. War nicht Hastur, Sohn des Herrn des Lichts, von dem diese Gaben kamen, gleichzeitig Gott und Sterblicher gewesen?
Die Verbindung des Kreises wurde noch tiefer, als ihre vereinten Kräfte sich durch einen Bewahrer konzentrierten und mit dem anderen Bewahrer unten im See verbanden. Wie ein einziges Wesen atmeten sie Luft und Wolkenwasser ein. Wie ein einziges Wesen spürten sie, wie Leben und Zeit durch sie hindurchflossen. Wie ein einziges Wesen streckten sie sich über diese Kluft von Falschsein zu einem Ort hinter der Überwelt.
Bilder zogen durch ihr vereintes Bewusstsein, durchscheinend wie Glas, fließend wie Wasser. Dyannis sah einen anderen Kreis über eine Matrix gebeugt, die größer als alles war, was heutzutage existierte. Die Gesichter der Leronyn waren in unheimliches Licht getaucht. Oberhalb von ihnen tanzten Blitze über verschneiten Gipfeln.
In der Vision war das Wasser aufgewühlt, aufgepeitscht von einem Sturm. Etwas Dunkles bewegte sich unter der Oberfläche. Dyannis schreckte davor zurück, näher hinzusehen, hatte aber nicht die Macht, sich zurückzuziehen, so verbunden war sie selbst auf der elementarsten Ebene ihres Seins mit dem Kreis. Steinerne Entschlossenheit durchdrang sie, und sie erkannte die geistige Berührung ihres Bruders. Mit ihm stieg sie tiefer hinab, nicht nur durch den wirklichen See, sondern auch in die Vision der Vergangenheit.
Nach nur einem winzigen Zögern näherte sich Varzil der verformten Dunkelheit.
Heilige Mutter, Gebenedeite Cassilda, Aldones, Herr des Lichts – steht ihm bei!
Dyannis war es nicht gewöhnt, förmliche Gebete zu sprechen, dennoch ging dieser Gedanke von ihr aus. Sie klammerte sich daran wie an ein Amulett gegen das Entsetzen.
Beim nächsten Herzschlag schloss sich das Dunkel um ihn. Alles Gefühl körperlicher Realität – der steinige Boden, die bleichen Umrisse der gestürzten Säule, die Kälte des Wolkenwassers – verschwand.
Sie spürte vollkommene, unmenschliche Leere. Nicht einmal ein Pulsschlag störte diese reine Abwesenheit.
Sie schwebte darin, gelähmt, machtlos.
Atme..., flüsterte es in ihrem Kopf, vielleicht aus den tiefsten Schichten ihres Ichs oder dem verbundenen Bewusstsein des Kreises. Atme für Varzil...
Der Hauch eines Schauders ging durch den Kreis, und im nächsten Augenblick veränderte sich die Dunkelheit und wurde schwächer. Dyannis bewegte sich hindurch und spürte, wie etwas getrennt wurde – die Dunkelheit dieser Welt und Zeit von der Dunkelheit einer anderen.
Atme...
Mit jedem Einatmen nahm der Kreis Energie auf, und mit jedem Ausatmen teilte er die Leere. Wie Varzil das erreichte, wie er etwas so Substanzloses und Grundlegendes wie Dunkelheit teilte und jedem Teil seinen angemessenen Platz zuwies, hätte Dyannis nicht sagen können.
Atme...
Das Falsche zog sich mit jedem Atemzug mehr zurück. Die Energieströmung, die in die Überwelt eingedrungen war, verringerte sich zu einem Rinnsal, einem Faden, und dann war sie vollkommen verschwunden. Der Bruch war versiegelt, die Welten waren wieder getrennt.
Sie hatten es geschafft. Er hatte es geschafft.
Aber Varzil zog sich noch nicht zurück. Er blieb, wo er war, lauschte und spürte. Der Kreis wurde zum Netz eines Fischers, spinnennetzdünn und gleichzeitig so stark wie Spinnenseide, breitete sich weit aus, um das Wasser selbst einzufangen.
Begeisterung flackerte auf – er würde das Wasser zurückverändern!
Das Netz spannte sich an, als der Druck drinnen stärker wurde. Nebel wogten, Strömungen veränderten sich. Macht, voller Liebe gegeben, ging vom Kreis aus und zog durch die miteinander verbundenen Bewahrer. Statt Schaum bildeten sich durchsichtige Bläschen, begannen, die Klarheit echten Wassers anzunehmen.
»Tod! Tod! Tod!«
Ein splitternder Bogen des Schmerzes bog sich durch den Kreis, zerschmetterte die Einheit. Das Netz riss, gerissene Fäden von Laran-Macht peitschten umher, Herzen rasten, stotterten. Lungen keuchten nach Luft.
Dyannis schwankte. Licht blendete sie; weißlicher Himmel, Gestalten in langen Gewändern, die sie kennen sollte – all das wand sich in einer Vision, gefangen zwischen geistiger und materieller Ebene. Farben verschwammen und Gestalten verbanden sich miteinander – Sand und Pflanzen, das leuchtende Rot eines Bewahrergewandes. Geräusche droschen auf sie ein, Schreie, so verzerrt, dass sie nichts Menschliches mehr hatten.
Sie fing eine Spur ausgebildeten Larans auf, und dann gab es einen winzigen Augenblick des Wiedererkennens.
Eduin – wie war das möglich... nach all diesen Jahren...
»Tötet die Dämonenbrut!« – »Keine Zauberei mehr!« – »Nieder mit Hali!«
Wieder erklang dieses Grollen wie von einer Trommel – »Tod! Tod! Tod!« –, und über alles schob sich ein hoch aufragender Schatten in Gestalt einer schwarz verschleierten Frau. Augen wie Scherben von schimmerndem Eis, in denen bleiche, unmenschliche Bosheit stand.
»Tod! Tod! Tod!«
Dyannis fuhr taumelnd herum und sah sich einer Mauer von Menschen gegenüber, Menschen mit roten Gesichtern, weit aufgerissenen Augen und erhobenen Keulen und Stöcken. Sie hatte ihre Barrieren vollkommen gesenkt, als sie mit dem Kreis verbunden gewesen war, und nun lag ihr Geist vollkommen offen. Ein kochendes, brodelndes Chaos von Emotionen überwältigte ihre inneren Sinne – die metallische Hitze von wildem Hass, Spuren schwärender Bitterkeit, geronnene Verzweiflung, der weiße, belebende Schock des Sieges.
NA-O-TAL-BA! Tod! Tod! Tod!
Einen schrecklichen Augenblick lang war Dyannis überwältigt, überflutet, in hundert Stücke gerissen. Jedes Fragment war ein loses Ende voller Qual und Zorn, der Geschmack und Geruch eines anderen Lebens. Sie kannte diese Menschen nicht, und dennoch, in diesem Augenblick wurde sie zu jedem einzelnen von ihnen. Die meisten waren verschwommen, eine Resonanz von Geschichten, die man ihr erzählt hatte, Menschen, deren Geist sie bei ihrer Heilarbeit oder vor Jahren während ihrer Kindheit auf dem Bauernhof von Sweetwater berührt hatte. Andere waren ihr vollkommen fremd; sie hätten auch Ya-Männer sein können. Einen Augenblick zuckte etwas über ihren wirren Geist wie der reine, hohe Ton einer Flöte – Laran! –, ausgebildet wie gehärteter Stahl, vertraut, quälend...
Haltet stand! Raimons geistiger Befehl ging wie ein Schock durch den Kreis.
Standhalten? Wem standhalten?, fing sie die benommenen Reaktionen auf.
Hände packten sie, Finger gruben sich in ihren Arm. Ihre Muskeln wurden bei dem plötzlichen körperlichen Kontakt weich; schwielige Haut drückte sich an ihre.
Sie keuchte. Die Luft brannte in ihrer Kehle.
Dann übernahm der Instinkt. Das Laran, das während ihrer Arbeit im Kreis durch sie hindurchgeflossen war, verwandelte sich in gleißende Energie. Blauweiße Blitze zuckten über die nackte Haut ihres Arms, den ihr Angreifer in rauem Griff hielt.
Mit einem Schrei wich der Mann zurück und ließ sie los. Statt einer Hand drückte er eine geschwärzte Klaue an die Brust.
»Verfluchte Hexe!«, schrie jemand.
»Nieder mit den Zauberern! Tötet sie!«
Der dunkle Schatten einer Frau beugte sich über die Menge; ihr Umhang breitete sich im Wind aus, um sie alle zu umfassen.
Die Menge brüllte ihren Hass heraus, aber sie zögerte auch. Dyannis sah nach beiden Seiten und bemerkte, dass der Kreis von Hali sich in gewisser Weise neu gebildet hatte, nur diesmal hatten sich alle nach außen gewandt. Sie streckten ihre Hände nach den Seiten, schufen eine schützende Energiekugel um sich und ihre Freunde. Sie waren immer noch in Verbindung, immer noch halb im Reich des Geistes. Aber im Augenblick waren sie in Sicherheit.
Varzil war drunten im See abgeschnitten von seiner Verankerung, von jeglicher Hilfe...
Sie sendete einen geistigen Ruf, obwohl das bedeutete, die Konzentration von den zornigen Gesichtern und erhobenen Fäusten abzuwenden.
Komm sofort nach oben!
Muss ... zu Ende bringen ... Seine Antwort kam stockend und von weit entfernt, als wäre es ihm kaum möglich, geistig Worte zu formen.
Varzil war immer störrisch gewesen, das wusste sie seit ihrer frühesten Kindheit. Sobald er sich zu etwas entschlossen hatte, hatte nicht einmal das aufbrausende Temperament ihres Vaters ihn davon abbringen können. Was für einen Ärger es wegen seiner Ausbildung in Arilinn gegeben hatte! Der alte Dom Felix hatte sich so heftig dagegen gesträubt, dass nur Varzils zähe Willenskraft sich darüber hinwegsetzen konnte.
Diesmal muss er zuhören! Er darf sich nicht selbst gefährden. Es würde eine andere Gelegenheit, eine sicherere Gelegenheit geben ...
Steine, einige faustgroß, Hände voll Kiesel und Dreck prasselten auf den Kreis nieder. Ein Stein traf Dyannis an der Seite der Stirn. Sie spürte den Aufprall als einen Augenblick der Taubheit, dann flackerte Hitze auf, als wäre sie von einer glühenden Kohle getroffen worden. Sie hob die Hand, und ihre Fingerspitzen streiften etwas Feuchtes. Einen Moment später traf ein zweites Wurfgeschoss.
Sie spürte den Pfeil, der durch die Luft raste, noch bevor das Geräusch der schnappenden Sehne an ihre Ohren drang. Schmerz explodierte hinter ihren Augen. Keuchend taumelte sie rückwärts. Der Pöbel stürzte auf sie zu, alles Zögern war verschwunden, noch während eine zweite Pfeilsalve auf den Kreis losgelassen wurde.
Instinkt hielt Dyannis auf den Beinen, nachdem der erste Schmerz vergangen war, und sie erkannte, dass der Pfeil nicht sie getroffen hatte.
Rorie!
Innerer und äußerer Blick konzentrierten sich auf das Gleiche: Rorie klammerte sich an den Schaft, der noch immer in seiner Brust bebte. Als ob er sich durch Honig bewegte, bogen sich seine Beine langsam, und Hüft- und Kniegelenke gaben nach. Dyannis eilte zu ihm, schneller als sie sich in ihrem ganzen Leben bewegt hatte, und fing ihn auf, bevor er den Boden berührte.
Nein, nicht Rorie!
Sein Gewicht riss sie mit, aber es gelang ihr, ihn festzuhalten und selbst in einer sitzenden Position zu landen. Rorie in ihren Armen rang um Atem. Mit einer Hand berührte sie die nackte Haut an seiner Kehle. Sie spürte die Wunde, als wäre sie ihre eigene, den Weg der Pfeilspitze zwischen den Rippen hindurch, die verwundete Lunge, die zusammenfiel, das Blut, das aus den durchtrennten Blutgefäßen lief. Cassilda sei gedankt, keine größere Arterie war zerrissen...
Jemand hinter ihr schrie auf, so verzerrt, dass Dyannis nicht hätte sagen können, welcher ihrer Freunde es war.
Die Menge drängte vorwärts. Sie rochen den Sieg. Etwas Krankes stieg von ihnen auf, roch nach Blutdurst und Wahnsinn. Metall schimmerte, der dünne, tödliche Bogen eines Messers.
Ein weiterer Pfeil bohrte sich neben Dyannis in den Boden. Ihr Blickfeld wurde scharlachrot und ließ Leere zurück – Raimon! Ohne seinen Bewahrer brach der Kreis auseinander. Kälte durchflutete Dyannis, als hätte die fantastische Gestalt, die die Menge geschaffen hatte, sie mit Zandrus eisigem Atem berührt.
Dyannis spürte, wie Adrenalin durch ihre Adern rauschte. Empörung und Zorn ließen ihren Blick schärfer werden. Wie konnten sie es wagen, eine Hand gegen einen Kreis zu erheben, der versuchte, ihre Welt zu retten? Wie konnten sie es wagen, ihren Freund zu verwunden, einen Laranzu, den sie verehren sollten? Was für eine Dreistigkeit!
Zandru verfluche sie alle!
Der Himmel spannte sich hoch über ihr. Der Planet lag unter ihr, und zwischen beiden gefangen hing ein Überrest gewaltiger geistiger Macht. Varzil mochte die Quelle am Boden des Sees versiegelt haben, aber es war noch genug für ihren Zweck geblieben.
Mit einem Grollen wie von einer Lawine in den Hellers drängte die Menge vorwärts. Dyannis warf sich über Rorie, um ihn zu schützen. Am Rand ihres Blickfelds bemerkte sie Lewis-Mikhail, der mit einem Mann mit einem Holzhammer rang. Die anderen lagen am Boden oder würden bald am Boden liegen. Dyannis konnte Raimons Geist nicht mehr spüren.
Wie können sie es wagen!
Dyannis klammerte die Finger um ihren Sternenstein und griff nach der Energie über ihr. In einem Aufflackern des Zorns bediente sie sich der Bilder, die tief in ihren Geist eingeprägt waren – die schlimmsten Kindheitsalpträume, an die sie sich erinnern konnte. Als sie vier gewesen war, hatte ihr Bruder Harald sie alle mit Geschichten über schreckliche Ungeheuer wach gehalten, und Dyannis war noch einen Monat danach schreiend aufgewacht.
Gegen die dunkle Schattengestalt der Frau in Umhang und Schleier beschwor sie einen Drachen aus der Legende herauf – ein riesiges Reptil, schlangenhaft und geflügelt –, und projizierte ihn in die Köpfe der Menge. Ihr ausgebildetes Laran stieß auf keinen Widerstand, als sie die jämmerlichen, schwachen Schilde der Angreifer beiseite schob.
Sie fügte weitere Einzelheiten hinzu, jede lebhafter und entsetzlicher als die vorherige. In dem dreieckigen Kopf des Drachen glitzerten Augen mit Schlitzpupillen. Flügel wirbelten die Luft auf, und der stachelige Schwanz peitschte umher. Von den Reißzähnen triefte glühendes Gift.
Wie ein einziger Mann hielt die Menge im Angriff inne, wich zurück, den Blick zum Himmel gerichtet, die Arme erhoben. Aus Zornesschreien wurde entsetztes Kreischen. Die einheitliche Vorwärtsbewegung brach ab; einige wandten sich zur Flucht, andere rannten ziellos umher, und noch mehr fielen auf die Knie oder duckten sich und drückten die Hände auf die Köpfe. Nur einige wenige hielten noch stand, aber das waren die Männer mit den Waffen. Einer oder zwei legten Pfeile auf und zielten abermals nach dem Kreis.
Dyannis packte die rohe Energie der Gefühle dieser Menschen – Verwirrung und Angst – und nährte damit ihr Alptraumbild. Das Bild des Drachen wurde schärfer. Sein schlangenartiger Körper bog sich nach unten. Sie fügte Geräusche hinzu – das Flattern von Flügeln, das Zischen von Krallen, die durch die Luft rasten, das Knistern von Schuppen, grollender Donner mit einer Spur von Metall.
In gedankenloser Panik rannte die Menge davon. Mistgabeln und Bogen fielen zu Boden. Menschen schubsten einander, trampelten über ihre niedergestürzten Genossen hinweg.
Dyannis schickte ihnen den Drachen hinterher und ließ ihn eisige Funken sprühen. Sie erhob sich mitsamt ihrem Geschöpf in die Luft, schaute nieder auf die Menschen, die vor Angst vollkommen den Verstand verloren hatten. Rache biss in ihr Herz wie Zandrus eisige Peitschen.
Sollen sie fliehen, diese jämmerlichen Dummköpfe, die geglaubt haben, sie könnten die Hände gegen die Leronyn eines Turms erheben! Sollen sie sich im Staub winden, stolpern, kreischend vor Entsetzen. Sie haben nichts Besseres verdient.
Sie öffnete ihr Drachenmaul und atmete einen Strom von Helligkeit aus, so weiß, als glühte sie, aber kalt, kalt wie der Atem der Hölle selbst.
Diejenigen, die noch auf den Beinen geblieben waren, rannten schreiend davon. Keine Spur der geisterhaften Gestalt im Umhang war geblieben. Die Gedanken der Menge, die wenigen, die eine Spur von Rationalität bewahrt hatten, waren einzig auf Flucht konzentriert. Mit einem weiteren Aufflackern von Bosheit ließ Dyannis sie gehen und wandte sich stattdessen denen zu, die noch am Boden lagen. Einige lagen ausgestreckt, andere hatten sich so gut wie möglich zusammengerollt, die Knie angezogen, die Arme vor das Gesicht gehoben. Einige zuckten in Krämpfen.
Hilflose Beute, die nur darauf wartete, verschlungen zu werden.
Grimmig und triumphierend stürzte sie sich auf sie.
Dyannis! Der Name krachte auf ihren Geist hernieder, ein so fremdes Geräusch, dass sie einen Augenblick lang nicht begriff, was es bedeutete. Ein Name? Ihr Name? Und eine Stimme, die sie kennen sollte.
Dyannis, hör auf! Sofort!
Die Worte vibrierten in ihr, als hätte man sie plötzlich in eine riesige Glocke gesteckt. Sie hielt mitten in der Luft inne. Eine Kakophonie von Entsetzen und Zorn, die von dem Feld drunten ausging, schüttelte sie. Durch diese Gefühle spürte sie einen silbrigen Pfeil des Schmerzes, metallische Klauen, die sich tief in Fleisch bohrten...
...ein Herz verkrampfte sich, eine Brust steckte in einem unsichtbaren Schraubstock, Haut war feuchtkalt von Schweiß...
Dunkle Herrin, was habe ich getan?
Die Drachengestalt löste sich auf, als hätte sie nie existiert, und nur blauer Himmel blieb zurück.
Dyannis blinzelte und sah sich um. Rorie lag bewusstlos in ihrem Schoß. Sein Atem war flach, seine Haut kalt, aber nicht von tödlichem Schock. Sie berührte seinen Geist, spürte die Reglosigkeit der Heiltrance. Die Blutung hatte beinahe aufgehört. Lewis-Mikhail war unverletzt und half Raimon auf die Beine. Blut verklebte das Haar über der Schläfe des Bewahrers und lief an der Seite seines Gesichts entlang, aber seine Augen waren klar, sein Blick konzentriert. Er war kurze Zeit bewusstlos gewesen, nicht mehr, und sie wusste von ihrer Arbeit als Überwacherin, dass Kopfwunden heftig bluteten. Die anderen im Kreis schienen unverletzt zu sein.
Überall in der Nähe lagen Menschen, als hätte sie die Hand eines Riesen niedergestreckt. Einige trugen die grob gewebte Kleidung der Bauern, andere nur fleckige Lumpen. Dyannis sah nun, dass auch Frauen darunter waren, ebenso zerlumpt gekleidet wie die Männer. Eine Frau hockte neben einer am Boden liegenden weißhaarigen Gestalt und jammerte.
War das Krieg? Dyannis war nie mit Carolins Armee in den Kampf geritten. Sie hob die Hand zum Gesicht, und dennoch konnte sie die Augen nicht bedecken und den Blick nicht abwenden.
Überall sah sie Menschen, die sich gequält duckten oder wie weggeworfene Spielzeuge am Boden lagen. Es gab nicht viel Blut und nur hin und wieder Gestank, wo sich jemand beschmutzt hatte, und dennoch hing ein Miasma, ein geistiger Gestank, über dem Seeufer wie ein aschgrauer Schleier. Unterhalb davon herrschte schreckliche Stille, das Schweigen nach dem letzten Herzschlag, dem letzten schaudernden Atemzug.
Das hier – das hier ist mein Werk.