Читать книгу Die Flamme von Hali - Marion Zimmer Bradley - Страница 9
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ОглавлениеAdrenalin schoss durch Eduins Nerven; Entsetzen, das von Jahren des Versteckens herrührte. Nur ein Angehöriger der Comyn, Darkovers telepathischer Kaste, konnte solch flammend rotes Haar haben und würde imstande sein, Eduins Laran zu bemerken. Eduin konnte sich kaum an die Hälfte der Dinge erinnern, die er im vergangenen Jahr getan hatte, aber er hätte sein Leben – so wenig das auch wert sein mochte – darauf verwettet, dass seine geistige Schilde nicht nachgelassen hatten. Sie waren ebenso Teil von ihm wie sein Atem oder das Geräusch seines Herzens in der Stille vor dem Morgengrauen. Sobald seine Macht sich gerührt hatte, hatte man ihn darauf gedrillt, seine innersten Geheimnisse zu wahren. Und das hatte er getan, sogar seinen eigenen Bewahrern in Arilinn und Hali gegenüber. Wenn diese Männer, die mächtigsten und am besten ausgebildeten Telepathen von Darkover, nicht imstande gewesen waren, seine Barrieren zu durchdringen, dann war es doch sicher unmöglich, dass es diesem abgerissenen Fremden gelungen sein sollte, ganz gleich, welche Farbe sein Haar hatte und wie dreist er sich gab.
»Ich weiß nicht, wovon Ihr redet«, sagte Eduin also.
»Erniedrigen wir uns nicht mit kleinlichen Spielchen«, erwiderte der Fremde. »Jeder von uns hält das Schicksal des anderen in seinen Händen. Man nennt mich Saravio.«
Eduins Blick zuckte noch einmal zu dem flammend roten Haar des Mannes und der Kapuze, die nun auf seinen Schultern lag. Man nennt mich..., hatte er gesagt. Nicht ich bin oder mein Name ist. Was verbarg er? War er ebenfalls ein Abtrünniger aus einem Turm, auf den eine Belohnung ausgesetzt war? Hatte er erraten, dass sich Eduin in einer ähnlichen Situation befand?
»Du kannst mich Eduin nennen«, sagte er mit bewusst sanfter Stimme. Saravio hatte keinen Familiennamen genannt, aber das war vielleicht nicht mit böser Absicht geschehen. Viele illegitime Kinder großer Comyn-Lords fanden ein Zuhause in den Laran-Kreisen. Dort zumindest waren die Fähigkeiten eines Menschen wichtiger als sein Titel.
Einen Augenblick später fragte Eduin: »In welchem Turm wurdest du ausgebildet?«
»Wahrheit für Wahrheit, mein Freund. Ich werde meinen Turm nennen, wenn du mir deinen verrätst.«
»Was bringt dich auf die Idee, dass ich in einem Turm ausgebildet wurde?«, fragte Eduin. »Du hast mich in der Gosse gefunden; das ist kaum ein angemessener Platz für einen mächtigen Laranzu.«
Saravio lachte. »Und dein Haar ist Schlammfarben und nicht rot. Aber was bedeutet das schon? Dann behalte deine Geheimnisse eben für dich, und saufe dich zu Tode oder erfriere, weil du nicht mehr genug Verstand hast, dir einen Unterschlupf zu suchen. Falls du jedoch...«
In einem raschen Stimmungswechsel kniff er die Augen zusammen. »Falls man dich geschickt hat, um mich auszuspionieren, wirst du dir wünschen, du wärest draußen im Schnee geblieben.«
Ohne jede Vorwarnung wurde Eduin von einem Ausbruch psychischer Macht aus dem Geist des anderen getroffen. Er wich zurück. Telepathischer Kontakt bedeutete Entdeckung, und Entdeckung bedeutete Tod. Instinktiv wehrte er die Sondierung ab und benutzte Fähigkeiten, die er nicht mehr eingesetzt hatte, seit er den Turm von Hestral verlassen hatte.
Ah, dann bist du also im Exil, genau wie ich. Diesmal war Saravios geistige Berührung sanfter und mitleidiger.
Das hier ist gefährlich, erwiderte Eduin lautlos. Es gab keine Fluchtmöglichkeit. Er hatte bereits zu viel von sich preisgegeben. Aber was hatte Saravio darüber gesagt, dass jeder von ihnen das Schicksal des anderen in den Händen hielt? Er wurde neugierig.
»Bist du ebenfalls ein Flüchtling?« Er sprach laut, denn er hatte immer noch Angst vor geistiger Kommunikation. Aber Saravio ließ sich nicht anmerken, ob er Eduins unbewachte Gedanken aufgefangen hatte oder nicht.
»In gewissem Sinne«, antwortete Saravio. »Auf mich ist keine Belohnung ausgesetzt, wenn du das meintest. Mein eigenes Gewissens hat mich zum Ausgestoßenen gemacht.« Er warf einen Blick auf die mit Papier bespannten Fenster und die Stadt dahinter.
»Mein Turm, Cedestri, hat mich ausgestoßen«, sagte er verbittert. »Denn sie waren zu Verbündeten des Bösen geworden.«
Eduin runzelte die Stirn. Cedestri lag zwei oder drei Tagesreisen von Thendara entfernt in Richtung der Trockenstädte. Während seiner kurzen Zeit in Hali hatte er gehört, dass dort erforscht wurde, wie man Spurenelemente aus Sand gewinnen konnte – kaum etwas Gefährliches oder Kontroverses.
Saravios Blick verlor sich in der Ferne. »Als die wiedererbauten Türme von Neskaya und Tramontana den verfluchten Pakt der Hasturs Unterzeichneten, haben viele, die sich nicht daran halten konnten, in Cedestri Aufnahme gefunden. Aber am Ende war Cedestri nicht aufgeklärter als jeder andere Turm. Sie haben mich weggeschickt.«
»Der Arm der Hasturs reicht weit«, sagte Eduin. Er wählte seine Worte vorsichtig und beobachtete die Reaktion. »Ich fürchte, es wird eine Zeit kommen, in der ganz Darkover sich unter das Joch ihrer Herrschaft beugt und die Türme vollkommen in ihrem Dienst stehen.« Er setzte sich auf den Strohsack. »Ich bin kein Freund der Hasturs oder ihres Pakts.«
Er hätte es vielleicht einmal sein können, denn er hatte Carolin Hastur kennen gelernt. Als Jungen waren sie in Arilinn zusammen gewesen, wo der junge Prinz sich kurz nach dem Beginn von Eduins Ausbildung eine Weile aufgehalten hatte. Gegen seinen Willen hatte er den lässigen, großzügigen Carolin lieb gewonnen. Er fragte sich, ob es ihm vielleicht deshalb nie gelungen war, Carolin zu töten, oder ob es nur eine Mischung aus Pech und der teuflischen Einmischung von Carolins anderem Freund Varzil Ridenow gewesen war.
Saravio setzte sich. »Was ist deine Geschichte, Freund? Wieso hasst du die Hasturs so?«
Wo sollte er anfangen? Er kam zu dem Schluss, dass es besser wäre, nicht über den letzten Vorfall zu sprechen. Ein Gesetzloser zu sein, war genügend Grund, etwas gegen die Hastur-Familie zu haben.
»In den Tagen von König Carolins Exil«, begann er, »hat Rakhal, der Usurpator, eine Armee nach Hestral geschickt, um uns zu zwingen, Haftfeuer für seine Kriege herzustellen.«
Kurz berichtete er darüber, was als Nächstes geschehen war. Der Bewahrer von Hestral hatte sich geweigert, hatte erklärt, die alten Vorräte des ätzenden Brandmittels wären vernichtet worden und er würde kein neues mehr herstellen. Er weigerte sich allerdings auch, die gewaltige geistige Kraft seines Kreises zu benutzen, um den Turm aktiv zu verteidigen. Er gab sich damit zufrieden, einfach jeden Angriff zu neutralisieren und zu hoffen, dass Rakhals Leute sich nach einiger Zeit leichterer Beute zuwenden würden. Bei der Erinnerung verspürte Eduin ein Echo seines alten Zorns.
Tag um Tag waren sie belagert worden und dem Hungertod immer näher gekommen. Verzweifelt über die Untätigkeit des Bewahrers hatte Eduin schließlich eine Gelegenheit genutzt, Rakhals Armee zu besiegen. Insgeheim hatte er einen Kreis der stärksten Arbeiter versammelt. Gemeinsam hatten sie die Feinde mit Entsetzen und Wahnsinn erfüllt. Er hätte Erfolg gehabt, wäre er nicht entdeckt und von Varzil Ridenow in Gewahrsam genommen worden.
Eduin versuchte nicht einmal, seine Bitterkeit zu verheimlichen, als er diesen Teil der Geschichte erzählte. Zur Strafe hatte Hastur den Turm von Hali in den Kampf befohlen. Als sie den Turm von Hestral einstürzen ließen, hatte Eduin der Gefangenschaft entkommen können.
Als er seine Geschichte beendet hatte, nickte Saravio, die Lippen zusammengekniffen. In diesem Augenblick bemerkte Eduin eine Art von Verwandtschaft zwischen ihnen.
Wir sind wie Brüder, dachte er. Unsere Begabung und Ausbildung macht uns unfähig, in der normalen Welt zu leben. Die Türme, die uns zu dem gemacht haben, was wir sind, haben uns ausgestoßen und zu einem Leben im Verborgenen gezwungen.
Es war so lange her, dass ein anderer Mensch verstanden hatte, wie es war. Selbst sein Vater...
Eduin brach den Gedanken ab. Er hob unwillkürlich die Hand an die Schläfe. »Ich danke dir für deine Hilfe gestern Abend, fetzt werde ich mich auf den Weg machen.«
Er wagte nicht zu bleiben. Die Gefahr, entdeckt zu werden, war zu groß, denn selbst ein anderer Flüchtling würde sich vielleicht von der Belohnung verlocken lassen. Zandru allein wusste, dass es Zeiten gegeben hatte, in denen Eduin sich am liebsten selbst für einen Krug Bier verkauft hätte.
Beweg dich, und lass dich nicht sehen, war seit dieser verzweifelten Flucht aus Hestral seine Parole gewesen.
Er schloss die Tür hinter sich. Mit einigem Glück würden sie einander nie wieder begegnen.
Draußen blendete ihn das helle Tageslicht beinahe. Ansonsten fühlte er sich ausgesprochen gut. Wie lange das dauern würde, wusste er nicht. Er würde die Zeit nutzen, sich ein wenig Geld zu verschaffen, um vielleicht selbst ein kleines Zimmer zu mieten und sich, so lange er konnte, unauffällig zu verhalten.
In den nächsten beiden Tagen arbeitete er für einen Schmied, dessen Lehrling am Lungenfieber erkrankt war, schleppte Wasser und Holzkohle und verdiente sich eine Mahlzeit und eine Unterkunft für die Nacht. Das Bedürfnis zu trinken nagte hin und wieder an ihm, aber er zwang sich, es zu ignorieren. Stattdessen rollte er sich auf dem Strohsack in der Hütte hinter der Schmiede zusammen, schlang die Arme um den Oberkörper und klammerte sich fest. Solange der Druck in seinem Kopf nicht zurückkehrte, sagte er sich immer wieder, würde alles in Ordnung sein. Er konnte denken, er konnte anfangen, Pläne zu schmieden.
Stunden vergingen. In der Nacht stand er auf, um Wasser aus dem mit Eis verkrusteten Eimer zu trinken, dann kroch er schaudernd wieder ins Bett. Während er dort lag und darauf wartete, dass der Schlaf zurückkehrte, musste er wieder an diesen Traum von Licht und Gesang denken. Die Erinnerung verschwamm bereits. Er wusste nicht mehr genau, wo er gewesen war, mit wem er getanzt und warum er solch übermütige Freude empfunden hatte. Sein Herz schmerzte vor Sehnsucht, aber er hatte nicht das Bedürfnis, sie in Alkohol zu ertränken. Stattdessen drückte er sie an sich wie einen kostbaren Gegenstand, diese halb erinnerte Schönheit.
Nach dem Vormittag des dritten Tags brauchte der Schmied ihn nicht mehr. Eduin beschloss, es in einem der Mietställe zu versuchen, wo er manchmal die Pferdeboxen ausgemistet hatte, wenn er nicht zu betrunken gewesen war. Ein paar würden ihm vielleicht immer noch Arbeit geben. Auf dem Weg zu diesem Stadtviertel veränderte sich etwas in ihm – als ob eine Wolke sich vor die Sonne schieben würde. Druck streifte seine Schläfen, und sein Magen zog sich zusammen.
Töte die Hasturs... Töte sie alle...
Nein, das war unmöglich! Nicht nach so vielen Tagen.
Versagt..., flüsterte die vertraute gnadenlose Stimme. Du hast versagt.
Eduins Magen zog sich zusammen. Galle stieg ihm in den Mund. Er bebte wie ein Mann mit Schüttellähmung. Ihr Götter, er musste unbedingt etwas trinken. Er brauchte Alkohol.
Bevor er die nächste Kneipe erreichte, traf ihn der Zwang mit voller Kraft. Er taumelte und sackte gegen die Seite des Gebäudes. Die Kanten von Stein und Mörtel stachen durch die Schichten seiner Kleidung. Seine Gedanken wurden klarer, und der Schmerz schob das Verlangen einen Augenblick beiseite. Das Bedürfnis zu trinken zog sich ein wenig zurück, und ein noch tieferes Verlangen begann in seinem Bauch zu toben, der zerschmetternde Drang zu suchen..., zu vernichten...
Töte..., t-t-töte... Die Silben klackten wie die Zangen eines Trockenstadtskorpions.
Er schrie auf und sank an der Wand nach unten. Ob er sich nun das Gesicht zerkratzte, sich die Ohren zuhielt oder in einem Meer von Bier ertrank, er konnte sich dieser lautlosen, beharrlichen Forderung nicht entziehen.
Flucht war unmöglich. So war es immer gewesen. Wie dumm von ihm zu glauben, es könnte anders sein.
Verzweiflung zerriss ihn, Welle um Welle, so intensiv, dass er es nicht ertragen konnte. Wie lange er dort gelegen hatte, halb an die grob gemauerte Wand gesackt, halb im Dreck der Gosse, hätte er nicht sagen können.
Schließlich begannen seine Gedanken sich wieder zu regen, zusammen mit neuem Durst.
Trinken – Alkohol würde diese Schlinge um seine Seele lockern. Nur dieses eine Mal. Nicht genug, um völlig betrunken zu sein, nur um der schlimmsten Qual zu entgehen, damit er klar denken konnte.
Ein paar Stunden Ausmisten in einem der ärmeren Mietställe und der Verkauf seines Bündels schmutziger Kleidung brachten ihm genug für einen Krug vom billigsten Bier, das er finden konnte.
Im Bierhaus suchte sich Eduin einen wackligen Tisch in einer nach Schimmel riechenden Ecke. An der Theke tranken Männer, lachten und erzählten unflätige Geschichten. Er war zufrieden, dass man ihn in Ruhe ließ.
Zunächst trank er schnell wie immer. Die ersten Schlucke brannten in seiner Kehle. Er schloss die Augen und wartete darauf, dass die vertraute Wärme sich in seinem Bauch ausbreitete. Noch ein Schluck und dann noch einer. Bald schon schmeckte er das Zeug nicht mehr; sein Hals schien weiter zu werden und die Flüssigkeit einzusaugen. Erleichterung breitete sich aus, das unaufhaltsame Drängen ließ ein wenig nach.
Seufzend goss er den Rest aus dem Krug in seinen Becher und trank ihn aus.
Er taumelte nur ein wenig, als er zur Theke ging, um noch einen Krug zu kaufen. Einer der Männer erzählte gerade eine Geschichte über einen betrunkenen Bauern und sein geduldiges Chervine. Eduin bemerkte, dass er lachen musste, ein Lachen, das seinen ganzen Körper erschütterte und durch ihn hindurchrollte.
Jemand schlug ihm auf den Rücken.
»Noch einen Krug für diesen feinen jungen Mann.«
Eduin nahm einen weiteren vollen Krug entgegen und hob ihn zum Gruß. Der Alkohol floss durch seine Kehle wie Honig. Jemand begann ein Lied zu singen, und andere Gäste stampften oder klatschten rhythmisch dazu.
»Ein Prosit dem Mann, der sein Bierchen genießt, einem glücklichen Manne, den nichts verdrießt. Ein Prosit dem Mann, der sein Bierchen genießt, Und ein Prosit all seinen Freunden!«
Eduin warf den letzten Rest seines Lohns für einen weiteren Krug auf die Theke. Ein Lied ging ins nächste über. Er zog sich wieder in seine Ecke zurück und gab sich damit zufrieden, aus dem Schatten mitzusummen. Alles rings um ihn her verschwamm, es blieb nur die selige Stille in ihm. Er sackte gegen die Wand und wiegte den Krug in den Armen. Die Flüssigkeit schwappte tröstlich, und dann schwappte nichts mehr. Der Krug kippte um. Eduin konnte nicht mehr klar sehen, aber das Gefäß schien leer zu sein.
Das zählte nicht; es genügte, einfach hier zu sitzen..., hier zu liegen, auf dem Boden, eingezwängt zwischen Tischbein und Wand, sein Körper zu einem Knoten seligen Schweigens zusammengerollt.
Stimmen drangen auf ihn ein, aber er winkte ab. Lasst mich schlafen. Sie verschwanden eine Weile, dann kehrten sie zurück, verärgerter und beharrlicher als zuvor.
»Kommt schon, steht auf, Freund...«
Die Stimme hallte auf seltsame Weise wider. »Wir machen zu. Hast du ein Zuhause?«
Dann stand er aufrecht, feste Hände hielten ihn, und die Welt drehte sich. Seine Beine bewegten sich unter ihm, als gehörten sie einem anderen.
»Lass mich in Ruhe...« So warm, so still.
»Ich kümmere mich um ihn.« Die Stimme war heiser, aber vertraut. Der Mann, der ihm einen Krug spendiert hatte.
»Wie wäre es mit noch einem?«, fragte Eduin.
»Ich sollte ihn lieber in eine der Unterkünfte des Königs bringen«, sagte der Mann. »Das ist genau der richtige Platz.«
Nein! Dort würden Comyn als Kadetten dienen, und es würde von Männern der Stadtwache nur so wimmeln. Man würde ihn erkennen und...
Eduin wich zurück. »Ich brauche keine Hilfe. Weder von dir noch von diesem Mist... noch vom König.«
»Immer mit der Ruhe, Freund. Wir versuchen nur zu helfen.«
»Ich gehe nach Hause..., kein Problem..., kann alleine gehen.« Eduin eilte auf die Tür zu, bevor sie ihn aufhalten konnten.
Die kalte, feuchte Luft traf ihn wie ein Schlag. Er musste sich anstrengen, auf den Beinen zu bleiben, stolperte ein paar Schritte, dann brach er zusammen. Er raffte sich wieder auf und drehte sich zu dem Bierhaus um. Ein Mann zeichnete sich als Silhouette vor dem Licht von drinnen ab.
Dann verschwand das Rechteck aus gelbem Licht.
Nur noch das schwache Flackern von Kerzen war in den Fenstern im oberen Stockwerk zu sehen, und eine Querstraße weiter brannte eine einzelne Fackel. Kein Mond schien, keine Sterne waren zu sehen. Der Wind hatte eisige Spitzen und drohte mit Schlimmerem.
Finde einen trockenen, windgeschützten Platz, drängte er sich, und dann schlaf einfach...
Halb kriechend, halb stolpernd bewegte er sich auf die flackernde Fackel zu. Die wenigen Türen, an denen er vorbeikam, waren fest verschlossen. Er suchte nach einem Torbogen, einer Nische, irgendetwas, was ein wenig Schutz bieten konnte. Er fand nichts, aber das zählte nicht wirklich. Die Nacht war nicht so kalt. Der Wind war nicht viel mehr als eine leichte Brise. Sein Körper kam ganz von selbst unter einem vorspringenden Giebel zur Ruhe. Aus den Augenwinkeln heraus sah Eduin, wie die Fackel zu spucken begann und dann ausging.
Dunkelheit verschlang ihn.
»Du da!« Finger gruben sich in seinen Arm, Hände zogen ihn hoch.
Er blinzelte in die unerwartete Helligkeit. Eine Fackel erhellte die Nacht. Ein Mann hielt diese Fackel, während ein anderer ihn auf die Beine zerrte. Er schnappte nach Luft und atmete den säuerlichen Geruch von Erbrochenem ein. Der Wind blies in grausamen Böen, schnitt durch seine Kleidung, brannte auf seiner Haut.
»Bah!«, schnaubte der Mann, der ihn festhielt, angewidert. »Er stinkt zum Himmel!«
»Er ist keine Gossenratte.« Der zweite Mann war ein wenig näher gekommen. »Sieh dir seine Kleidung an.«
Eduin bemerkte die Abzeichen an ihren Umhängen, die Schwerter am Gürtel, die gewichsten Stiefel, das präzise geschnittene Haar.
Stadtwachen. Bei Zandrus siebter Hölle!
»Er ist nur ein armer Teufel, der mehr getrunken hat, als ihm gut tut«, sagte der zweite Mann und hob die Fackel noch höher. »Bringen wir ihn rein, bis er wieder nüchtern ist.«
»In Ordnung«, erwiderte der erste. Er drehte Eduin um und schob ihn in Richtung des Wachhauptquartiers.
In beinahe instinktivem Entsetzen erstarrten Eduins Muskeln.
Der Wachmann hatte keinen Widerstand erwartet. »Heh, du kannst nicht einfach gehen. Du wirst dich zu Tode frieren!«
Eduin drehte sich um und rannte. Irgendwie brachte er seine Beine dazu, ihm zu gehorchen. Er rannte weiter auf die dunklen Gassen zu. Seine einzige Hoffnung war Flucht, und er klammerte sich daran wie an eine Rettungsleine. Jahre des Verbergens, des heimlichen Umherschleichens führten ihn. Die Wachen riefen ihm hinterher, er solle stehen bleiben, aber er rannte weiter, stolperte um Ecken, spürte kaum den Biss des Windes oder den Aufprall, wenn er gegen eine Wand stieß.
Schließlich kam er am Ende einer Reihe gewundener Gassen zum Stehen, knietief in Müll und schmutzigem Schnee. Mit brennender Lunge lehnte sich gegen eine Wand aus grob behauenen Steinen und spitzte die Ohren. Augenblicke vergingen, gemessen mit seinem langsamer werdenden Pulsschlag. Er hörte nur normale Nachtgeräusche, das Knarren von Holzbalken, das Schnüffeln eines Hundes, der im Müll wühlte, das Schnauben eines Pferdes, das aus dem Schlaf erwachte.
Es dauerte nur ein paar Minuten, bis die Wärme, die sein Körper während der kurzen Flucht aufgebaut hatte, wieder verschwunden war. Er begann zu schaudern, er hatte keinen Umhang und keinen anderen Schutz. Der Wind fegte durch die Gasse, und sein Heulen klang unheimlich, wie der Ruf eines der riesigen Banshee-Vögel des Hochlandes. Dieses Heulen schien ihm zu folgen.
Die Wachen hatten Recht gehabt. Er würde in einer solchen Nacht hier draußen sterben.
Er war immer noch betrunken genug, dass der Alkohol den Zwang ein wenig dämpfte, aber das genügte nicht, um seinen Geist vollkommen zu verwirren. Er verließ die Grabeskälte der Gasse und versuchte, sich zu orientieren. Tatsächlich war er nicht weit von dem Stall entfernt, in dem er gearbeitet hatte. Mit ein wenig Glück würde er sich hineinschleichen können.
Die Seitentür knarrte, als er sie öffnete, aber niemand bemerkte es. Die Luft war warm, und es roch nach Futter und Tieren. Eins der Pferde schreckte auf, und zwei andere verlagerten unruhig das Gewicht, als er vorbeikam. Er tastete sich durch die Dunkelheit und entdeckte eine der Boxen, die er zuvor ausgemistet hatte. Das Pferd war eine alte weiße Stute, sanft und zahm. Sie wieherte leise, als er das sauberste Stroh in einer Ecke aufhäufte und sich darin vergrub.
Graues, gefiltertes Licht fiel in den Stall. Pferde stampften und Eimer klapperten. Eduins Kopf dröhnte, und sein Mund fühlte sich geschwollen an. Sein Hemd war größtenteils trocken, aber es roch nach Bier und Erbrochenem. Er reinigte sich, so gut er konnte, mit sauberem Stroh. Die weiße Stute beobachtete ihn aus sanften, dunklen Augen, als er auf stand und den Stall verließ.
Schaudernd drehte er sich um und schaute zurück zur Innenstadt. Dort erhob sich die Zitadelle Hastur mit ihren Türmen hoch über bescheidenere Gebäude. Er dachte an das Leben, das er verloren hatte, an warme, helle Räume, dieses klare, erfrischende Gefühl beim Benutzen seines Laran, die Intimität und Kameradschaft des Kreises. All das hatte er für immer verloren.
Der Zwang erwachte und riss an ihm wie ein wildes Tier. Bald würde nichts mehr von ihm übrig sein. Es würde ihn verschlingen, Herz, Träume und Willenskraft. Wie als Reaktion darauf krallte sich der Durst in seinen Hals.
Trinken..., ah ja..., murmelte der verführerische Gedanke. Trinken und vergessen...
Und wieder einmal mit diesem Dröhnen in seinem Kopf und Galle im Mund aufwachen. Erneut trinken, wenn der Zwang ihn heftiger bedrängte, jedes Mal länger und ekelerregender, jedes Mal mit weniger Hoffnung für die dahinschlurfende, versoffene Gestalt, zu der er geworden war. Diesmal würde kein sanftmütiger Fremder ihn aus der Kälte holen, kein Traum...
Kein Traum.
Er wollte nicht sterben. Und ganz besonders wollte er nicht allein sterben. Er wusste nicht, was er tun sollte. Er wusste nur, dass er nicht so weitermachen konnte wie bisher.
Der Traum selbst war verschwunden, weggefegt von pochendem Schmerz. Aber er hatte es tatsächlich geträumt. So viel musste er glauben, oder er würde den Verstand verlieren.
Er glaubte keinen Augenblick, dass die Vision der Wahrheit entsprach. Es war einfach nur eine Illusion gewesen, geboren aus seiner inneren Sehnsucht. Saravio hatte offenbar einen Zustand außergewöhnlicher Euphorie oder Beeinflussbarkeit bei ihm bewirkt, mit einer Technik, die er bei seiner Ausbildung in Cedestri gelernt hatte. Vielleicht hatte auch das Kirian eine Rolle gespielt.
Der Traum... und dann diese gesegneten Tage der Freiheit. Er musste herausfinden, wie das zustande gekommen war.