Читать книгу Die Flamme von Hali - Marion Zimmer Bradley - Страница 14

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Dyannis Ridenow lockerte das Tuch, das ihr kupferrotes Haar bedeckte, und schaute über den See von Hali hinaus. Ein Frühlingswind, kühl und feucht, zupfte an ihrem Umhang. Sie atmete tief ein und genoss ihr unwillkürliches Schaudern.

Aldones, es tat gut, wieder draußen zu sein! Der Winter war ihr unendlich lang vorgekommen; jeder Zehntag der Gefangenschaft war langweiliger und unerträglicher gewesen als der vorhergehende. Sie streckte die Arme aus. Diese alten Weiber beider Geschlechter, die sich in alles und jedes einmischten, würde der Schlag treffen, wenn sie wüssten, dass Dyannis hier draußen war, ohne Anstandsdame und in einem Umhang und einem Überkleid, die sie von einem Küchenmädchen geliehen hatte.

Sollten sie doch glucken wie ein paar alte Hennen, es wäre nicht das erste oder letzte Mal. Sie konnte genauso gut auch den Rest des Tages draußen verbringen und ihnen noch mehr Grund zum Klatsch geben.

Ein Opfer, das sie nicht um der Verkleidung willen hatte bringen wollen, waren ihre eigenen Stiefel aus feinem, butterweichem Leder, die genau ihren kleinen Füßen angepasst waren. In diesen Stiefeln stand sie nun direkt am Rand des goldenen Sands. Dahinter wogte das Wolkenwasser des Sees, schwappte ans Ufer und zog sich wieder zurück. Statt der üblichen sanften Wellen hatte der See an diesem Tag eine unruhigere, zerrissene Oberfläche.

Der Himmel verbarg sich hinter Wolken. Einen Augenblick lang stürzte sich ihre Fantasie auf das Bild, und sie sah nicht nur sich selbst, sondern ganz Darkover, eingefangen und gepresst wie getrocknete Blüten.

Gepresst. Ja, das war ein gutes Bild. Ihre Nerven kribbelten von der elektrischen Spannung, die sich täglich weiter aufbaute. Dyannis konnte die ungeborenen Blitze beinahe sehen, spürte ihre metallische Spur.

Die Unwetter waren seit dem Ende des Winters schlimmer geworden, sowohl was Häufigkeit als auch was Intensität anging. Die Feuerwehren in Hali und im nahen Thendara waren vollkommen erschöpft, denn die Unwetter brachten niemals Regen, ebenso wenig wie der Blitz die elektrische Spannung entlud. Stattdessen schien sich ein Unwetter von dem vorangegangenen zu nähren.

Etwas musste geschehen. Selbst unter den mächtigsten Schilden mussten sich die Kreise in den betroffenen Türmen angestrengt um Konzentration bemühen, die für gewöhnlich mühelos kam. Manchmal war die Hälfte der Arbeiter wegen Überladung ihrer Energonkanäle arbeitsunfähig.

In Hali-Stadt ging es noch friedlich zu, aber jeden Tag trafen Berichte über wachsende Unruhe in Thendara ein. Was als Aufbrausen eines Einzelnen oder Streit unter Betrunkenen begann, konnte sich rasch zu einem Aufstand auf den Straßen auswachsen. Manchmal waren die Stadtwachen nicht imstande, Ruhe und Ordnung wiederherzustellen, und mussten warten, bis der Ausbruch sich erschöpfte. Dyannis, die längere Zeit nicht als Überwacherin gearbeitet hatte, wurde häufig zusammen mit den anderen erfahrenen Leronyn gerufen, um sich um die Verwundeten zu kümmern.

Dyannis war seit dem Tag, an dem sie als staunende Novizin in Hali eingetroffen war, viele Male zum See gegangen, weil frische Luft und die rhythmische Bewegung der Wellen sie stets beruhigten. Nun musste sie feststellen, dass sie hier draußen noch gereizter wurde als im Turm. Diese Spannung schien sowohl Land als auch Luft zu durchdringen und auf ihrer Haut zu kribbeln. Sie hätte am liebsten irgendetwas zerschlagen, ihre aufgestaute Frustration losgelassen. Noch während sie die Fäuste ballte, wusste sie, wie irrational das war. Als ausgebildete Leronis erkannte sie ihre immer aufbrausendere Stimmung als Reaktion auf die atmosphärischen Störungen, aber als Mensch war sie immer noch Opfer der nervenzerrüttenden Auswirkungen dieser Situation.

Ungeduldig trat sie in den Boden, und Sand spritzte in die Wolkenwellen. Ihre Stiefelspitze stieß gegen einen Stein im Sand, und Dyannis stolperte. Fluchend wischte sie den feuchten Sand vom Leder, dann beugte sie sich vor, um sich die Hände zu waschen.

Sobald ihre nackte Haut den Nebel berührte, spürte sie psychische Energie. Sie keuchte, trat auf den Rock, der viel zu groß für sie war, und setzte sich unfreiwillig in den Sand. Sie holte tief Luft, versuchte sich zu fassen und starrte den See an, der einmal so vertraut und beruhigend gewesen war.

Was in Zandrus sieben gefrorenen Höllen war das?

Sie hatte das Gefühl, als hätte sie eine riesige Ansammlung von Laran-Batterien berührt, von der Art, die benutzt wurden, um einen Luftwagen anzutreiben oder einer ganzen Stadt Licht zu spenden, nur instabiler, sodass der geringste Kontakt eine Entladung bewirken konnte.

Unmöglich! Sie hatte das Wolkenwasser so häufig berührt, war sogar ein kleines Stück in den See hineingegangen, aber noch nie hatte sie so etwas erlebt. Sie hatte auch keine Berichte über irgendetwas Ungewöhnliches am See gehört; aber es war auch ein wirklich langer, kalter Winter gewesen, und nur wenige hatten sich nach draußen gewagt, wenn es nicht unbedingt notwendig war. Der See war mit einem Nebel gefüllt, der weder vollkommen flüssig noch vollkommen gasförmig war. Er wand sich und schwebte, war stets in Bewegung, und man konnte ihn einatmen wie Luft, obwohl das seine eigenen Gefahren mit sich brachte. Dieses Wolkenwasser leitete Geräusch und Licht jedoch ganz ähnlich wie gewöhnliches Wasser.

Dyannis, deren Herz immer noch raste, zwang sich nachzudenken, zwang sich, die Sache mit Vernunft anzugehen. Wasser leitete auch Elektrizität, und die Substanz des Sees tat es ebenfalls. Aber aus welcher Quelle kam diese Spannung? Warum sollten die Nebelschwaden sich anfühlen wie eine überladene Laran-Batterie?

Sie hob den Kopf, um zum grauen, bewölkten Himmel hinaufzublicken. Ihre Nerven kribbelten. Sie hätte keine Worte dafür finden können, aber sie spürte eine Verbindung zwischen der elektrischen Spannung des Himmels und dem, was sie in dem kurzen Augenblick des Kontakts mit dem Seewasser wahrgenommen hatte. Sie glaubte nicht, dass die ungewöhnlichen Unwetter der Grund für diese seltsame Veränderung waren, nein, sie hielt sie eher für eine Auswirkung.

Wenn der See psychische Energie schuf, die dann in die Luft entwich und sich als Gewitter manifestierte, warum war das noch nie jemandem aufgefallen?

Dyannis dachte stirnrunzelnd über das Problem nach. Der Boden des Sees war weitgehend unerforscht, und das aus gutem Grund. Man konnte im Wolkenwasser leben, aber irgendetwas darin unterdrückte nach einiger Zeit den Atemreflex, sodass es gefährlich war, sich längere Zeit im Nebel aufzuhalten. Und vielleicht war dieses Phänomen auch etwas Neues, das in diesem besonders harten Winter begonnen hatte und nun langsam an Kraft gewann. Sie hielt es durchaus für möglich, dass sie die Erste war, die seit dem letzten Herbst nur zum Vergnügen am See entlangging.

Augenblicke vergingen. Die Wolkenwellen schlugen an den Strand. Das diffuse Licht veränderte sich nicht. Irgendwo hinter Dyannis zwitscherte ein Vogel und verstummte dann.

Dyannis stand auf. Ein Schritt oder zwei brachten sie zurück zum Rand des Wassers. Sie nahm ein Amulett aus Kupferfiligran, das an einer Kette hing, vom Hals. Darin lag, eingepackt in Seide, ein strahlend blauweißer Sternenstein. Ohne den Stein aus der Fassung zu nehmen, drückte sie die Fingerspitzen darauf und spürte ein Wachsen der Kraft.

Dyannis legte die Hand auf den Sand, der von einer sich zurückziehenden Welle feucht war. Wieder spürte sie die seltsame psychische Energie. Jeder Nerv schrie ihr zu, die Hand zurückzuziehen, aber sie verlagerte nur das Gewicht und drückte die Finger fest in den grobkörnigen Sand. Schaudernd zwang sie sich, so zu verharren, als die Welle zurückkehrte. Die wolkenartige Substanz schwappte wärmer als Wasser über ihre Hand.

Plötzlich sah sie nur noch Weiß, als wäre sie durch das Eis eines winterlichen Flusses gebrochen. Dann schaltete sich die Disziplin von Jahren der Turmarbeit ein. Noch während ein Teil ihres Bewusstseins von der Überladung verwirrt war, leitete sie sie ab und erneuerte die Integrität ihrer eigenen Laran-Systeme.

Sie erkannte, dass ihr erster Eindruck korrekt gewesen war. Das Wolkenwasser agierte als Leiter. Und so, wie gewöhnliches Wasser von der Oberfläche eines Flusses oder Sees verdampfte, wurde diese Energie als elektrisches Potenzial freigesetzt und manifestierte sich in Gestalt der immer schlimmer werdenden Unwetter.

Bei der nächsten Welle fiel es Dyannis schon weniger schwer, still zu halten. Die Kraft bewegte sich ebenfalls in Wellen, baute sich auf, erreichte einen Höhepunkt und ließ dann wieder nach. Der Rhythmus half, die Energie zu sammeln und zu leiten. Mit einem Schaudern erkannte Dyannis, dass dies kein natürliches Phänomen sein konnte.

Sie wandte ihre Konzentration dem rhythmischen Muster zu. Indem sie benutzte, was ihr erster Bewahrer »die Hintertür des Geistes« genannt hatte, spürte sie die viel sagende Spur eines Matrix-Gitters. Sie war jedoch so schwach, dass Dyannis, so sehr sie sich auch anstrengte, nichts weiter als einen allgemeinen Eindruck erhalten konnte.

Eine unausweichliche Tatsache drängte sich auf: In der Tiefe des Sees befand sich eine Quelle gewaltiger künstlicher psychischer Kraft, die durch das Wolkenwasser abgestrahlt wurde. Wie lange sie schon dort gewesen war, hätte Dyannis nicht sagen können. Vielleicht bestand sie bereits seit Anbeginn der Welt und war erst in diesen unruhigen Zeiten neu erwacht.

Trotz ihrer Ausbildung scheute Dyannis vor dem Kontakt damit zurück. Ihr Magen zog sich zusammen, und Galle stieg ihr in die Kehle, zog sie zurück in ihren eigenen Körper. Inzwischen war sie durch die intensive Laran-Arbeit außerdem körperlich und geistig so erschöpft, dass ihre Konzentration nachließ. Sie hatte keinen Überwacher, der sie schützte.

Ich hatte nicht vorgehabt, hier ein wenig unerlaubte Laran-Arbeit zu leisten!

Mit einiger Anstrengung zog sie ihre Laran-Schilde hoch und bewegte sich rückwärts aus der Reichweite des Wassers. Sie hatte nur die Oberfläche dessen berührt, was dort im See geschah, und sie würde dieses Rätsel nicht allein lösen können. Sie wagte nicht mehr zu warten. Sie fasste sich und stand wieder auf.

Als Dyannis zum Turm zurückeilte, schickte sie eine Botschaft voraus, um ihre Mit-Leronyn zu wecken. Um diese Zeit schliefen viele nach einer Nacht intensiver Arbeit oder ruhten sich aus und hatten die Laran-Schilde verstärkt. Mit der Empfindsamkeit, die es brauchte, um sich mit anderen ausgebildeten Telepathen in einem Kreis zu verbinden, kam auch eine tiefe Verwundbarkeit gegenüber dem Eindringen zufälliger Gedanken und Gefühle. Erfahrung hatte gezeigt, dass so etwas nicht nur ablenken, sondern sogar zerstören konnte, wenn man es mit ungemein mächtigen Matrix-Systemen zu tun hatte. Viele Leronyn lernten, sich mithilfe besonderer Techniken abzuschirmen. Es war auch der Grund, wieso man den Turm am anderen Ende des Sees errichtet hatte, weit entfernt von der Stadt Hali.

Dyannis fand einen Geist, der wach und für ihren Ruf empfänglich war, den eines brillanten jungen Laranzu aus Carcosa. Er war Mitte zwanzig, also ein paar Jahre jünger als sie, und sie konnte eine gewisse geistige Verwandtschaft mit ihm wahrnehmen, die Dyannis gegenüber den anderen Matrix-Arbeitern in Hali nicht spürte.

Rorie!

Dyannis, erwiderte er zum Gruß. Was ist geschehen?

Hinter Rories Gedanken spürte sie seine Angst, dass ihr impulsiver kleiner Ausflug ihr irgendwie geschadet hatte.

Es geht mir gut, versicherte sie ihm rasch. Aber ich habe etwas entdeckt – am See –, und ich fürchte Schlimmes, nicht nur für den Turm. Ich muss mit dem Bewahrer sprechen.

Mit wortloser Zustimmung zog sich Rorie zurück, um alles für ihr Eintreffen vorzubereiten.

Raimon Lindir, der Bewahrer des Turms von Hali, wartete vor dem äußeren Tor auf sie, zusammen mit Rorie und Lewis-Mikhael. Sein Aussehen, hoch gewachsen, schlank und auf eine unbewusste Art würdevoll, wies auf das Chieri-Blut hin, das es angeblich in seiner Familie gab. Manchmal wirkten seine Augen beinahe silbrig. Das dunkle Rot seines Bewahrergewands und sein feuerrotes Haar kontrastierten mit seiner blassen Haut, aber er hatte nichts Anämisches an sich. Er war vielleicht einer der jüngsten Bewahrer, der allein über einen größeren Turm herrschte, aber an seinen Fähigkeiten bestand kein Zweifel.

Er streckte die Hände aus, und Dyannis legte ihre Hände darauf und spürte seine Handflächen kühl unter ihren Fingerspitzen. Die körperliche Berührung katalysierte den geistigen Kontakt. Dyannis brauchte keine Worte, um etwas zu beschreiben, zu erklären, sie brauchte nicht zu interpretieren, was geschehen war. Sie gab einfach die Erinnerung an ihre Erfahrung am See weiter und wusste, dass Raimon jede Einzelheit so deutlich spürte, als wäre er selbst dort gewesen.

Das dauerte nur einen Augenblick. Raimon schauderte, als er die körperliche Verbindung abbrach.

»Was du gesehen hast, ist in der Tat von größter Wichtigkeit«, sagte er laut. »Wir müssen herausfinden, was dort unten geschieht. Ich werde die Arbeiten des heutigen Abends umorganisieren.«

Dyannis nickte. Die kurze Entfernung vom Turm zum See war für einen Kreis unter der Führung eines Bewahrers, besonders eines so starken wie Raimon, vollkommen unbedeutend. Sie hatten zusammen schon kostbares Metall tief aus der Erde geholt und Wolkenmuster am Himmel verändert. Darüber hinaus war jeder von ihnen vertraut mit dem See. Ihre miteinander verbundene geistige Begabung würde dieses Rätsel bestimmt lösen können.

An diesem Abend rief Raimon den Kreis des Turms zusammen. Dyannis, auf halbem Weg die Treppe vom Gemeinschaftsraum nach oben, fluchte leise. Der Saum ihres Gewands war wieder aufgegangen, und sie wäre beinahe gestolpert und hätte sich den dummen Kopf gestoßen.

Sie bückte sich, um die Naht näher zu betrachten. Man sollte eigentlich erwarten, dass ich nach all dieser Zeit einen Rock säumen kann, dachte sie bedauernd. Sie wusste, es war ihre eigene Schuld, dass sie sich nicht die Zeit nahm, es richtig zu lernen. Es gab immer etwas zu tun, das interessanter oder wichtiger war als Nähen. Ein paar ältere Frauen im Turm hatten Zofen, die sich um ihre Kleidung kümmerten, aber Dyannis fand dieses ununterbrochene Bemuttertwerden noch lästiger. Wie so oft zuvor zog sie den Stoff einfach ein wenig höher durch den Gürtel und ging weiter.

Sie hatte den gerissenen Saum bereits vergessen, als sie durch den Flur fegte, der zum Flügel des Bewahrers führte. Nur eine der drei Wohnungen dort war derzeit bewohnt, und seit dem Tod von Dougal DiAsturian hatte niemand den Mut gehabt, auch nur darüber zu sprechen, seine Räume anderweitig zu benutzen.

Eine schmale Treppe führte Dyannis zwei weitere Stockwerke hinauf zum kleinsten und am besten geschützten Arbeitsraum im Turm. Durch die offene Tür hörte sie leise Stimmen. Sie hielt einen Augenblick inne, um sich zu sammeln. Direkt hinter ihr kam die kleine Ellimara mit einem dicken Schultertuch über ihrem langen weißen Überwachergewand. Mit dreizehn war sie das jüngste vollständige Mitglied des Turms, aber sie war von reinem Aillard-Blut und ausgesprochen begabt.

Raimon blickte auf, als sie hereinkamen. »Ah, da seid ihr ja.«

Dyannis lächelte Ellimara kurz zu. Dank dir, mein Schatz, bin ich nicht die Letzte hier. Ihre Unpünktlichkeit war schon lange Grund für Witzeleien.

Ellimara errötete, was ihr gut stand, und setzte sich auf ihren Platz auf der Bank an der gegenüberliegenden Wand. Als Überwacherin würde sie vom Kreis selbst getrennt bleiben. Wenn Laran-Arbeiter in geistiger Einheit versunken waren, beachteten sie oft ihre körperlichen Funktionen nicht mehr. Es war die Verantwortung der Überwacherin, dafür zu sorgen, dass sie gesund blieben, dass ihre Kanäle klar und frei waren, um all ihre Konzentration und Kraft der geistigen Verbindung zu widmen. Kein angespannter Muskel, kein stotternder Herzschlag, kein Luftmangel, keine Veränderung des Hormonspiegels durfte diese Einheit unterbrechen, denn das würde alle gefährden.

Dyannis setzte sich auf ihren Platz an dem ovalen Tisch. In der Mitte stand das Matrix-Gitter, eine Anordnung miteinander verbundener Sternensteine, die ihr natürliches Laran konzentrieren und verstärken würde. Es glitzerte wie von innen her beleuchtet, ein kristallines, feenhaftes Ding aus winzigen Sternensteinen, verbunden und auf ihren Zweck eingestimmt.

Der Kreis arbeitete an diesem Abend mit vollständiger Kraft, sechs Arbeiter zusätzlich zu Raimon als Bewahrer. Es gab zwei weitere Arbeiter in der Gemeinschaft von Hali, aber ein Kreis von neun wäre über Raimons derzeitige Fähigkeiten hinausgegangen, und sie waren nicht genug für zwei Kreise, selbst wenn sie einen zweiten Bewahrer gehabt hätten. Häufig arbeiteten sie nur zu fünft, wenn andere für die Relais gebraucht wurden oder wegen Krankheit und Erschöpfung – oder bei den Frauen auch wegen ihres Zyklus – keine aktive Arbeit leisten konnten.

Hali ist nicht der einzige Turm, der nur noch einen einzigen arbeitenden Kreis hat, dachte Dyannis. Ihr Blick begegnete dem von Alderic, der erst vor kurzem nach Hali gekommen war. Er war bei dem Kampf zur Wiedereroberung des Throns an König Carolins Seite geritten, und sie hörte in seinem Kopf manchmal die Echos der sterbenden Geister jener Leronyn, die auf beiden Seiten gekämpft hatten. Wir haben zu viele verloren, und jene, die übrig geblieben sind, werden zu sehr gefordert. Hali hatte einmal ein Dutzend oder mehr Novizen gehabt, zusätzlich zu jungen Comyn, die mehr Ausbildung brauchten, als ihre Haushalts-Leronis ihnen liefern konnte. Nun, nachdem Ellimara ihre Ausbildung beendet hatte, stand der Novizenflügel leer.

Für alles gibt es eine Zeit, hatte ihr Bruder Varzil gesagt. Nichts dauert ewig, weder die guten Zeiten noch die schlechten. Dyannis schauderte und wischte rasch jede Spur von Trübsinn beiseite. Solch ziellose Gedanken waren gefährlich, wenn man sie in einen arbeitenden Kreis mitbrachte.

Nach einer kurzen Einführung wiederholte Dyannis sowohl in Worten als auch telepathisch, was ihr am See zugestoßen war. Alle Anwesenden befanden sich bereits durch die Tatsache, dass sie häufig zusammenarbeiteten, in leichter Verbindung. Während Dyannis sprach, spürte sie, wie die einzelnen Mitglieder sich auf die Einheit zubewegten.

»Nun wollen wir uns diese Sache einmal näher ansehen«, sagte Raimon. Er gab das Zeichen zu beginnen.

Dyannis legte ihren Sternenstein vor sich, schloss die Augen und senkte ihre geistigen Schilde. Sie spürte bereits Rories Kraft wie stetige Wärme, wie die Sonne des Hochsommers auf den Steinen am Fluss in Sweetwater, wo sie als Mädchen gelebt hatte. Raimons Geist streifte den ihren, und sie versenkte sich noch tiefer. Schichten von Farben schwebten an ihr vorbei, Blau verwandelte sich in Schattierungen von Grün und dann in Gold. Es fühlte sich immer so an, wenn Raimon die einzelnen Mitglieder des Kreises zu einer Gesamtheit verwob. Einmal hatte sie Lewis-Mikhail nach den Farben gefragt, aber der hatte sie nur verwirrt angesehen.

»Für mich ist es, als würde ich in einem Chor in Nevarsin singen«, sagte er. »Viele Stimmen, einige hoch, einige tief, vermischen sich miteinander, bis ich sie nicht mehr getrennt voneinander wahrnehme.«

Ein Hauch von Wildblumen berührte ihr Bewusstsein, und sie spürte, wie ihre Schultermuskeln sich entspannten, ebenso wie ihr Bauch, als sie tiefer Luft holte. Ellimara machte sie alle für eine lange Sitzung bereit. Dyannis trieb auf einer Welle von Erleichterung und Zufriedenheit dahin. Sie war keine einzelne Person mehr, die sich dem herausfordernden Geheimnis des Sees gegenübersah, sondern verbunden mit einem größeren Ganzen, das an Kraft und Weisheit weit über sie hinausreichte. In diesem Augenblick kam es ihr so vor, als gäbe es keine Herausforderung, die sie nicht gemeinsam bewältigen konnten.

Raimon begann mit seiner Arbeit, nahm einen Abdruck des Musters in Dyannis’ Geist und leitete ihn an den Kreis weiter. Erinnerungen stiegen an die Oberfläche, die Dinge, die sie am Seeufer gespürt und gedacht hatte. Diesmal kamen sie ihr entfernt vor, als betrachtete sie sie durch gefrorenes Glas. Sie spürte, wie Raimon alles hintereinander durchging, ihre eigenen körperlichen Reaktionen und Gefühle beiseite schob und sich dann mit großer Präzision auf ihre direkten Wahrnehmungen konzentrierte und sie extrahierte.

Eine Bewegung ging durch den Kreis, und Dyannis wusste, dass nun jeder von ihnen diese Wahrnehmungen mit ihr teilte, als wären sie alle ebenfalls dort gewesen und hätten ihre eigenen Hände ins Wolkenwasser getaucht und das Zucken der elektrischen Kraft gespürt.

Schwaches Summen, kaum mehr als eine Vibration, ging durch sie hindurch. Es war vertraut, wenn auch künstlich – das Matrix-Gitter, das auf das Muster reagierte, das Raimon ihm zuführte. An diesem Punkt bestand ihre Aufgabe allein darin, sich auf das Gitter zu konzentrieren und ihre eigene Laran-Energie hineinfließen zu lassen. Von ihnen allen beherrschte nur der Bewahrer diese Energien und leitete sie.

Als Dyannis nach Hali gekommen war, war der alte Dougal DiAsturian Bewahrer gewesen, und sie hatte das meiste von dem, was er tat, nicht verstanden. Mehr als einmal hatte man sie dafür getadelt, dass sie sich seinen Befehlen widersetzte. Raimons Berührung war viel subtiler, und sein Geist hatte eine transparente, beinahe vollkommen klare Qualität. Sie behielt einen gewissen Grad getrennten Bewusstseins, als er einen Ankerpunkt hier im Turm etablierte und begann, eine Brücke zum See drunten zu errichten.

Viele Aufgaben eines Bewahrers verstand Dyannis, und sie konnte sich durchaus vorstellen, sie selbst zu leisten – aber das hier gehörte nicht dazu. Damit ein solcher geistig-räumlicher Sprung präzise und sicher stattfinden konnte, musste der Bewahrer sich seines Ziels ausgesprochen sicher sein. Er musste das Bild so klar im Kopf haben, als schaute er seine eigene Hand an. Raimon zögerte keinen Augenblick.

Im nächsten Moment spürte Dyannis eine kalte Windbö, genau wie an diesem Morgen, nur, dass es jetzt Nacht und ihr Körper hinter den Mauern in Sicherheit war. Durch die Macht des Kreises hörte sie das leise Plätschern der Wellen und roch den Duft von nassem Sand und Wasserpflanzen.

Nun schwebte sie über dem See, gewiegt von den Bewegungen der Wellen. Einen Augenblick später würde sie diese seltsame, nebelhafte Feuchtigkeit spüren. Irgendwo im Hinterkopf machte sie sich auf diese unheimliche Kraft gefasst...

Aber sie spürte nichts. Sie schwebte weiter, unberührt, gerade hoch genug über der Oberfläche, dass selbst die höchsten Wellen sie nicht erreichen konnten. Sie folgte dem Strom der Laran-Energie aus ihrem eigenen Geist, der zu Raimon und dann durch das Gitter führte, und berührte an der Wasseroberfläche eine feste Barriere. Als sie versuchte, sich hindurchzubewegen, war es, als erzwänge sie sich einen Weg durch ein Dickicht miteinander verflochtenen Rieds, federnd und dennoch undurchdringlich. Selbst der vereinte Geist des Kreises konnte diese Energieschicht nicht durchdringen. Wer immer die künstliche Kraftquelle erzeugt hatte, wollte nicht, dass irgendjemand sie untersuchte.

Das ist selbstverständlich nur umso mehr Grund, es zu tun, dachte sie.

Der direkte Weg war ihnen also versagt. Trotz Ellimaras beruhigendem Einfluss wuchsen Dyannis’ Neugier und Entschlossenheit. Sie spürte, wie Raimon begann, sich zurückzuziehen. Du willst einfach aufgeben? Nicht, solange ich hier etwas mitzureden habe!

Dyannis! Konzentriere dich! Brich nicht aus der Einheit aus!

Mit einiger Anstrengung beruhigte sich Dyannis, und ihr Bewusstsein fügte sich erneut in den Kreis ein. Ihre Gefühle waren nicht so leicht zu beherrschen, aber es gelang ihr schließlich doch. Sie verfügte über jahrelange Erfahrung darin, ihr aufbrausendes Temperament zu zügeln.

Der Kreis schwang weiterhin in ungebrochener Einheit. Dyannis’ kleiner Ausrutscher hatte zu keinem ernsthaften Schaden geführt. Einen Augenblick lang schwebte das verbundene Bewusstsein des Kreises noch über der Seeoberfläche. Dann hob Raimon sie mit seidiger Glätte in die Oberwelt.

Dyannis sah sich auf einer Ebene aus ungebrochenem Grau unter einem gleichermaßen einheitlich grauen Himmel stehen. Rings um sie her erhob sich die geisterhafte Manifestation des Turms von Hali, so substanzlos, als bestünde er aus Wasser. Als sie hinabschaute, sah sie sich selbst, wie sie hier schon viele Male erschienen war: in einem Körper ganz ähnlich dem ihren, gekleidet in ein hellgraues Gewand, das kaum ihre Fußknöchel erreichte. Ihre Hände verharrten nahe denen ihrer Nachbarn im Kreis. Einige von ihnen sahen jünger oder älter aus – Ellimara erschien als Frau um die vierzig, und ihr Gewand war nicht weiß wie das einer Überwacherin, sondern rosig, als wäre das Rot des Bewahrers dort eingesickert.

Raimon erschien wie immer in der Überwelt beinahe androgyn und schimmernd wie ein altersloser Chieri. Er begegnete ihrem Blick und lächelte.

Mit einer Bewegung seines Geistes rief er den See zu ihnen. Hier in der Überwelt verloren Entfernung und Zeit ihre Bedeutung, wurden zu Werken des Geistes. Selbst der Turm um sie her war im Laufe von Jahrhunderten durch die Gedanken von Arbeitern aus Hali geschaffen worden, einfach, weil sie daran gewöhnt waren, in geschlossenen Räumen zu arbeiten, und sich in dieser vertrauten Umgebung wohler fühlten.

Auch der See hatte viel von seinem grundsätzlichen Erscheinungsbild behalten – eine Senke, die mit bewegtem Nebel gefüllt war. Als Dyannis ihn sich näher ansah, wirkte er allerdings nicht nur sehr viel kleiner, sondern auch erheblich tiefer. Sie konnte den Boden nicht erkennen, nicht einmal als Raimon das Wolkenwasser Schicht um Schicht transparent werden ließ. Die seltsamen Geschöpfe, die im Wasser des Sees lebten, halb Fisch und halb Vogel, huschten als bunte Gestalten vorbei und verschwanden rasch wieder.

Wenn man nicht genau hinsah, wirkte die Überwelt genau wie immer. Unter anderen Umständen hätte Dyannis alles als normal hingenommen und sich abgewandt. Nun ließ genau diese Glätte ihre Neugier nur noch größer werden. Raimon brachte die Konzentration des Kreises näher an das Objekt.

Eine Schicht psychischer Energie lag über dem See. Sie diente dazu, die Erwartungen von allen, die sich aus der Überwelt näherten, zu reflektieren. Ein Matrix-Arbeiter würde nur sehen, was nach seiner eigenen Ansicht dort sein sollte. Es wirkte so normal, dass nur jemand, der Grund zum Misstrauen hatte, den Unterschied erkennen konnte.

Dyannis wusste, dass das spiegelartige Muster auch alle von außen kommende Energie abweisen würde. Sie hatte solche Phänomene schon zuvor studiert und sogar selbst welche geschaffen. Diese Barriere würde die Energie eines Angreifers nutzen, und je stärker er drängte, desto heftiger würde er zurückgestoßen werden. Nur ein geübter Turmkreis konnte so etwas hergestellt haben.

Wer? Wer würde so etwas tun? Und warum?

Auch Raimon waren diese Strategien nicht fremd. Er formte die Energie des Kreises zu einer lang gezogenen, schmalen Speerspitze. Damit zielte er nicht senkrecht gegen die Barriere, sondern sandte die Spitze schräg im kleinstmöglichen Winkel darauf zu. Die Spitze schlüpfte unter den äußeren Rand. Es gab beinahe keinen Widerstand. Raimon änderte ihren Abstiegswinkel. Einen Augenblick später gab die Barriere plötzlich nach. Sie waren durchgebrochen.

Der See lag unter ihnen. Raimon sammelte die Kräfte des Kreises und schob den Gedankenstoff der Überwelt beiseite. Grau wurde dunkler, Kontraste wurden intensiver. Der Nebel war jetzt dichter und brach sich am Ufer des Sees. Zur gleichen Zeit erschienen Umrisse auf dem Grund des Sees. Sie waren verschwommen und unklar, aber präsent.

Dyannis verspürte so etwas wie freudige Erregung. Es war tatsächlich etwas da unten!

Wortlos sammelte Raimon mehr Kraft von ihnen. Dyannis gab großzügig und spürte, wie die anderen das Gleiche taten. Sie bewegten sich tiefer und tiefer durch das ätherische Wasser. Drunten entdeckte Dyannis einen riesigen zerklüfteten Umriss. Ihr Instinkt trieb sie zurückzuweichen, drängte sie zu fliehen. Sie hielt stand. Obwohl es alle Disziplin brauchte, über die sie verfügte, zwang sie sich, näher hinzuschauen.

Es hatte keine feste körperliche Form, war weder Dunkelheit noch Licht. Mit ihren Laran-Sinnen nahm Dyannis es als eine Art Riss wahr, eine Unterbrechung in der Kontinuität der Zeit.

Das Ding zog sie an und stieß sie gleichzeitig ab. Und es stank geradezu nach Laran.

Die Flamme von Hali

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