Читать книгу Die Flamme von Hali - Marion Zimmer Bradley - Страница 11

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Selbst nachdem der Schnee überall sonst geschmolzen war, lagen in den Gassen von Thendara noch Reste davon. Hier in den ärmsten Stadtvierteln klebte der Schatten, kalt und geheimnistuerisch, an den geborstenen Wänden. Dreck überzog Tümpel von Schneeregenwasser. Halb verhungerte Kinder suchten auf den Müllhaufen nach Resten von schimmligem Brot.

Eduin, nun eng mit Saravio befreundet, war mit ihm in ein größeres Zimmer gezogen. Saravio sang für ihn, wann immer Eduin den inneren Druck des Fluchs seines Vaters nicht mehr ertragen konnte, und dann hatte er ein paar Tage Zeit, bevor der Kreislauf gnadenlos und unausweichlich wieder begann. Saravio erlitt mitunter Anfälle, aber sie waren nie wieder so heftig wie der erste. Eduin wagte nicht, ihn allein zu lassen, denn er befürchtete, dass Saravio wieder aufhören könnte zu atmen. Dadurch war er nur umso häufiger der Euphorie des Liedes ausgesetzt. Sein Bedürfnis nach Alkohol ließ nach, aber gleichzeitig sehnte er sich nach den Augenblicken der Freude, die ihm Saravios Laran-Manipulationen bescherten, und suchte nach Möglichkeiten, sie zu verlängern. Diese Verlockung verängstigte ihn, denn sie war in ihrer Macht und Reinheit viel verführerischer als Alkohol.

Nachdem er die betäubenden Auswirkungen des Alkohols abgeschüttelt hatte, erlebte Eduin auch eine Erneuerung aller anderen Emotionen. Wann immer Saravio seine Anfälle erlitt, spürte Eduin eine Mischung aus Mitgefühl, Ekel und Schuld. Schuld, dass er selbst diese Krankheit bei einem Freund auslöste, der nur versuchte, ihm zu helfen. Er fragte nie, wieso Saravio bereit war, einen solchen Preis zu zahlen. Tatsächlich kam er Eduins Bitte um das Lied stets vergnügt nach und schien hinterher nicht zu wissen, was geschehen war. Dann schämte sich Eduin, als hätte er das unschuldige Vertrauen eines Kindes ausgenutzt. Er schob die unangenehmen Gefühle weg. Was konnte er sonst schon tun? Er nahm sich jedoch vor, dass er seine Befreiung von dem Zwang zu einem guten Zweck nutzen würde. Er schwor, eine Möglichkeit zu suchen, ohne die beruhigende Wirkung des Liedes auszukommen. Für gewöhnlich fühlte er sich nach dem Lied eine Weile besser, bevor er wieder gezwungen war, Saravio zu bitten, für ihn zu singen.

Ein Zehntag ging in den nächsten über, und die Sonne kletterte höher am Himmel und kündigte das Ende des Winters an. Eduin begann sich zu fragen, ob er nicht einfach nur eine Art von Gefangenschaft gegen die andere ausgetauscht hatte. Soweit er sagen konnte, gefährdete Saravios Laran-Manipulation sein Leben und seine Gesundheit nicht so, wie der Alkohol es getan hatte, aber er war dennoch daran gekettet. Früher oder später kehrte der Zwang in seinem eigenen Geist zurück, der Skorpion erwachte, um sein Gift in Eduins Kopf zu verbreiten, und trieb ihn dazu, um ein weiteres Lied zu bitten. Eduin begann, seine Abhängigkeit übel zu nehmen. Nur die Tatsache, dass er sich als Naotalbas Bote dargestellt hatte, verhinderte, dass er schlicht zu Saravios Sklaven wurde, bereit, alles für einen weiteren Augenblick der Ekstase zu tun.

Aber zumindest gab es Zeiten, wenn auch nur kurze, in denen er klar denken konnte. Es musste eine Möglichkeit geben, sich sowohl dem Befehl seines Vaters als auch der betäubenden Abhängigkeit sowohl von Alkohol als auch von Saravios euphorisierender Berührung zu entziehen. Auf dem Weg zu seinen Tagelöhnerarbeiten und zurück durch die Außenbezirke der Stadt dachte er über seine Situation nach.

Langsam, aber stetig veränderte sich sein Denken. Er wusste, er brauchte eine dauerhafte Lösung, keine kurzfristige Atempause, die einen nur noch höheren Zoll forderte. Vielleicht bestand die Antwort nicht darin, den Zwang zu dämpfen, sondern ihm nachzugeben. Er hatte das jetzt schon so lange Zeit für unmöglich gehalten. Wie konnte er Carolin Hastur angreifen, solange er im Schatten bleiben musste, damit er sich nicht verriet, und daher kaum imstande war, auch nur seinen Lebensunterhalt zu verdienen? Er hatte keinen Erfolg gehabt, als er sich noch direkt in Gesellschaft des Prinzen befunden hatte, und Zandru allein wusste, wie viele Möglichkeiten ihm damals geschenkt worden waren.

Es war, als stünde Carolin Hastur unter dem Schutz eines Zaubers. Er hatte alle Mordanschläge überlebt, nicht nur die von Eduin und seinem Bruder, sondern auch jene durch seinen Vetter Rakhal, der sich des Throns bemächtigt und Carolin ins Exil geschickt hatte. Wie hatte der Mann das gemacht?

Mit einer seltsamen transzendenten Klarheit verstand Eduin plötzlich, worum es ging. Es war nicht sein Fehler, dass er vor so vielen Jahren nicht imstande gewesen war, Carolin Hastur zu besiegen. Etwas war immer im Weg gewesen.

Nein, nicht etwas. Jemand.

Eine Stimme flüsterte in seinem Kopf. Es war nicht der brutale Befehl, den Eduin so gut kannte, aber sie war dennoch vertraut, subtil und tückisch: Varzil Ridenow ist die Macht hinter den Hasturs. Ohne seinen Rat... wird Carolin stürzen.

Und wenn Varzil Ridenow nicht gewesen wäre, wäre Eduin auch kein bettelarmer Ausgestoßener. Er hätte eine Position als Bewahrer erhalten, wäre als Retter Hestrals gefeiert worden, und Carolin läge längst in seinem Grab.

Varzil! Bei jeder Wendung in Eduins Leben war es Varzil Ridenow gelungen, seine Pläne zu vereiteln. Es war Varzil, der Carolin vor Eduins Anschlägen bewahrt hatte. Varzil, der versucht hatte, Eduins erste Romanze mit seiner Schwester Dyannis zu verhindern. Varzil, der Gwynns Attentatsversuch verhindert, Varzil, der Carolin während des langen Exils des Prinzen insgeheim geholfen, Varzil, der herausgefunden hatte, dass Eduin den Tod von Königin Taniquels Tochter bewirkt und ihn beim Kampf zur Rettung von Hestral verraten hatte. Um den Befehl seines Vaters zu erfüllen, musste Eduin Carolin Hastur töten, der einmal sein Freund gewesen war. Aber dazu wiederum würde er zunächst Varzil Ridenow eliminieren müssen, den er immer noch hasste.

Während diese Gedanken durch Eduins Geist zogen, löste sich der eisige Knoten in seinem Bauch. Schaudernder Triumph erfüllte ihn. Zum ersten Mal brauchte er nicht mehr gegen den Zwang anzukämpfen. Stattdessen würde er ihn benutzen, um seinen eigenen Durst nach Gerechtigkeit zu verstärken.

Ja, er wollte Gerechtigkeit – und den Tod von Varzil Ridenow. Er würde vorsichtig vorgehen müssen. Er hatte keinen direkten Zugang zu einem Turm, und er würde erst recht nicht in die Nähe des berühmtesten Bewahrers auf Darkover gelangen können. Einen Bewahrer von Varzils Fähigkeiten konnte man nicht überraschen oder auf gewöhnliche Weise umbringen. Andererseits: Varzil hatte vielleicht die Möglichkeiten von Rang und Turm hinter sich, aber selbst die mächtigsten Tenerézu waren aus Fleisch und Blut und daher sterblich. Eduin brauchte eine Möglichkeit, Varzil aus Neskaya und in seine Reichweite zu locken, ihn abzulenken ...

Und bei der Ausführung dieser Pläne würde Saravio sein Verbündeter, sein Helfer, sein Werkzeug sein.

Als die Straßen wieder offen waren, erschienen auch die Kaufleute wieder, und Gruppen reicher Comyn-Lords gingen in ihren pelzbesetzten Umhängen die breiten Straßen entlang, die Gesichter in die Frühlingssonne gereckt. Das Lachen der Frauen erhob sich über die Musik. Eine Truppe von Gauklern und Straßensängern begleitete sie. Zwei Jungen, offenbar Zwillinge, warfen unter begeistertem Kreischen einen glitzernden Ball hin und her. Ihre Kinderfrau rannte mit wehenden Röcken aus bester Wolle hinter ihnen her.

»Sieh sie dir nur an«, sagte Eduin zu Saravio. Sie standen an einer Ecke neben der Tür eines Gasthauses, wo sie sich mit Holzhacken und Geschirrspülen ein paar Münzen verdient hatten.

Ein Stück weiter die Straße entlang drängte sich eine Menschenmenge in zerfetzten Lumpen, viele mit nässenden Wunden auf der bloßliegenden Haut, gegen die Stadtwachen. Trotz des klaren Himmels lag in der Luft ein leichtes Kribbeln, wie die erste Ankündigung eines Blitzes, nur wahrnehmbar für jene mit ausgebildetem Laran, aber auch für sie nur am Rande.

Saravio trug immer noch einen Umhang. Mit der Zeit hatte er allerdings dank Eduins Hilfe aufgehört, sich wie ein Turmarbeiter zu verhalten. Niemand würde ihn für einen Bauern halten, aber er ging in der Unterschicht unbemerkt durch. Er hätte ein Händler oder ein Soldat sein können, der schlechte Zeiten hinter sich hatte und sich schon zu lange von einem Tag zum anderen auf der Straße durchschlagen müsste. Nun fiel es ihm nicht mehr schwer, Arbeit als Tagelöhner zu finden.

Saravio verzog höhnisch den Mund, was Eduin eher spürte als sah. »Sie vergnügen sich, während unser Volk leidet.«

Unser Volk. Eduin fragte sich, ob er Saravios Bitterkeit und den schwelenden Groll der Bevölkerung vielleicht irgendwie ausnutzen könnte, um einen Angriff gegen Varzil Ridenow zu führen. »Die Comyn sind nichts als Parasiten«, sagte er. »Aber es sind die korrupten Türme, die ihre Position sichern. Ohne die Macht der Türme wären sie nichts.«

Eduin hatte einmal geglaubt, dass die Türme keine Befehle von Königen entgegennehmen sollten. Jene, die die Laran-Waffen schufen, sollten als Einzige das Recht haben zu entscheiden, wie sie eingesetzt wurden. Solche Macht sollte herrschen und nicht dienen. Aber auch die Bewahrer waren zu sehr an Gesetz und Tradition gebunden, um die Wahrheit zu erkennen, ebenso wenig wie sie Saravios bemerkenswerte Begabung erkannt hätten. Ihre Gründe mochten sich unterscheiden, aber Eduin und Saravio hatten in ihrem Hass auf die Türme eine gemeinsame Sache gefunden.

»Zurück!«, rief einer der Wachtposten. Er hatte statt des Schwerts einen hölzernen Stock gezogen und drückte ihn gegen die erste Reihe der Menge.

»Habt Mitleid!«, rief ein Mann. Sein Hemd hing lose an Schultern, die einmal breit und stark gewesen waren. Nun standen seine Knochen vor wie die Balken einer Hausruine. »Meine Kinder verhungern!«

»Dann hättest du bleiben sollen, wo du hingehörst, statt nach Thendara zu kommen!« Einer aus der Gruppe von Comyn, ein junger Mann von kaum zwanzig, machte einen Schritt auf die Menge zu. Er hatte den Umhang zurückgeworfen, und man sah eine Tunika aus kunstvoll gemustertem Samt und eine goldene Kette, von deren Preis man ein ganzes Dorf ein Jahr lang hätte ernähren können. Die Sonne schimmerte auf seinem hellen Haar, das strohblond war und nur eine Spur von Rot aufwies. Eduin fing nur ein winziges bisschen Laran von dem jungen Mann auf, nicht annähernd genug, um eine Ausbildung zu lohnen.

»Guter Mann«, fuhr der junge Adlige lässig fort, »hast du geglaubt, dass die Straßen hier voller Garküchen sind? Wir haben nichts für euch. Kehrt nach Hause zurück.«

»Nach Hause?« Der Mann sprach mit ausgeprägtem Dialekt. Zorn lag deutlich in seiner Stimme und wurde aufgenommen von den Leuten neben ihm, die ihm zunickten. »Von welchem Zuhause redet Ihr? Ein Haufen Asche ist alles, was nach dem Haftfeuer übrig geblieben ist.« Mit einer Hand riss er sein Hemd auf. Die Umstehenden keuchten entsetzt.

Eduins Magen zog sich beim Anblick der Brust des Mannes zusammen, die dort vernarbt war, wo man einen Teil des Fleisches brutal weggeschnitten hatte. Von einem Arm war nur ein verkrüppelter Rest geblieben. Er hatte gesehen, was Haftfeuer anrichten konnte. Sobald es entzündet war, verbrannte es alles, selbst Menschenfleisch und Knochen, bis nichts mehr übrig war. Die einzige Möglichkeit, es aufzuhalten, bestand darin, jedes einzelne Fragment buchstäblich herauszuschneiden und zu -graben. Jemand hatte diesem Mann das Leben gerettet, ihm aber die Möglichkeit genommen, seinen Lebensunterhalt zu verdienen.

»Was kann er schon tun?«, murmelte Eduin Saravio zu. »Mit einem solchen Arm kann er das Land nicht bebauen. Er ist hierher gekommen, weil er Hilfe braucht, und jetzt erzählt ihm dieser arrogante Welpe, er sollte nach Hause gehen!«

»Ich bin nicht für Almosen gekommen«, fuhr der Mann fort, »sondern um Arbeit zu finden.«

»Arbeit!«, rief ein anderer Mann, der ebenfalls Lumpen trug. »Arbeit und Gerechtigkeit!«

»Das tut mir ja alles sehr Leid.« Der Junge war eindeutig erschüttert. »Aber es war nicht unsere Schuld...«

»Leute von eurer Art haben die Luftwagen geschickt, aus denen es fiel!«, rief einer hinter dem verkrüppelten Bauern hervor.

»Ja, und die Wurzelpest, die zwei Jahre lang die Weizenernte zerstört hat, bis wir nicht einmal mehr Saatkorn hatten!«, ließ sich ein anderer hören. Noch mehr schlossen sich an, und sie drängten vorwärts, drückten fest gegen die Wachen. Die beginnende elektrische Spannung des Tages ließ ihren Zorn noch größer werden.

Die Comyn-Frauen und Kinder wurden bleich und eilten davon. Die Stadtwachen schlugen alle zurück, die versuchten, ihnen zu folgen.

Eduin lächelte grimmig. Das Erbe von Carolins Vorgänger, dem brutalen Rakhal Hastur, lastete auf allen: Ungerechtigkeit, Hunger, Krankheit und die Verwüstung durch schreckliche Laran-Waffen.

Die Zeit der Hundert Königreiche ging zu Ende – wenn nicht in dieser Generation, dann zweifellos in der nächsten. Selbst ein Narr konnte das sehen. Diese Kriege waren die letzten Zuckungen eines Zeitalters. Noch während sie hier standen, versuchten anderswo mächtige Familien, ihre Herrschaft über schwächere Reiche auszudehnen.

König Carolin Hastur war der wichtigste Herrscher geworden. Er war vielleicht einmal ein guter Mann gewesen, aber die Welt mit aller Verlockung der Macht hatte ihn nun fest im Griff.

Bald schon würde ihn niemand mehr aufhalten können.

Eduin hörte im Kopf die Worte seines Vaters: Varzil Ridenow ist der Schlüssel. Ohne seinen Rat wird Hastur fallen...

Der verkrüppelte Bauer blieb stehen und schaute den reichen Adligen hinterher. Seine Brust hob und senkte sich heftig, und der Zorn hatte ihm das Blut ins Gesicht getrieben. Verzweiflung strahlte von seinem geschundenen Körper aus wie Hitze von einem Schmiedeofen. Ein Teil der Menge zerstreute sich, aber einige, besonders die Männer, blieben. Sie schienen von der Intensität dieses Mannes angezogen zu werden, als hätte er ihre Geschichten ebenso erzählt wie die seine.

Eduin hatte eine Idee. Er winkte Saravio, ihm zu folgen, und ging auf den verkrüppelten Bauern zu.

»Es war mutig von dir, so mit einem Comyn-Lord zu sprechen«, sagte er laut genug, dass alle in der Nähe ihn hören konnten.

Der Bauer kniff die Augen zusammen. Adrenalin und Farbe wichen aus seinen Zügen. Er zog die unverletzte Schulter hoch, als wollte er sich davonschleichen.

Eduin hielt ihn sanft am Arm fest. »Es ist ein finsterer Tag für uns alle, wenn ein Mann nicht mehr die Wahrheit aussprechen und Gerechtigkeit verlangen kann.«

»Ob er sie erhält, ist allerdings eine andere Sache«, fügte Saravio hinzu.

Eduin trat in den offenen Bereich in der Mitte der Straße. Mithilfe einer raschen Veränderung der ihn umgebenden psychischen Energie versah er sich selbst mit etwas mehr Glanz, was alle Blicke anzog. Selbst wenn er im Flüsterton sprach, würden jetzt alle jedes Wort hören und sich daran erinnern.

»Und ob er sich nehmen wird, was ihm zusteht, ist noch etwas ganz anderes«, sagte er. Die Menschen rings um ihn her waren für sein Laran so deutlich wahrzunehmen, als hätten sie ihre Gefühle laut herausgeschrien. Zorn und Neugier setzten sich über ihre tief eingefleischte Angst hinweg.

Der Bauer rieb sich mit der gesunden Hand die verkrüppelte Schulter, als wollte er messen, welchen Wert seine eigene menschliche Macht gegen Zauberei hatte, die eine Waffe wie Haftfeuer hervorbringen konnte.

»Was nützt das schon? Was kann einer von uns schon gegen die mächtigen Adligen ausrichten? Und was wird aus meinen Kindern, wenn man mich ins Gefängnis steckt und ich nicht einmal mehr die paar jämmerlichen Reis nach Hause bringe, die ich jetzt verdiene?«

Einer der Männer murmelte: »Was sollen wir tun? Sie gehen zu Festbanketten, während unsere Kinder verhungern.«

Ringsumher nickten andere Männer und Frauen. Ihre Augen glühten vor Eifer.

»Und warum ist das so?«, fragte Eduin. »Wer gibt ihnen das Recht, sich von allem das Beste zu nehmen? Sind sie Götter, dass sie sich anmaßen zu entscheiden, wer leben und wer sterben wird? Brennen sie von dem Haftfeuer, über das sie gebieten?«

»Nein!«, rief eine Frau mit pockennarbigem Gesicht. »Wir hungern! Wir brennen!« Ihr bis dahin unterdrückter Zorn flackerte plötzlich heftig auf.

»Ich will nichts weiter von diesen verräterischen Reden hören«, meldete sich ein grauhaariger Bursche mit einer Augenklappe zu Wort und machte einen Schritt rückwärts. Sein Umhang war ebenso schmutzig und abgerissen wie die Kleidung der anderen, aber er hielt sich wie ein Soldat. »Ich habe für König Carolin gekämpft, als er Rakhals Schreckensherrschaft ein Ende machte. Und jetzt haben er und Varzil, den sie den Guten nennen, sich diesen Pakt ausgedacht, der solch schrecklichen Kriegen für immer ein Ende machen soll. Sollen ehrliche Soldaten kämpfen, so gut sie können, und die Zauberer sollen sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern!«

»Glaubst du wirklich, dass die Adligen ihre besten Waffen aufgeben werden?« Die Frau fuhr zu ihm herum. »Dass sie sich um solche wie uns scheren?«

»Halt den Mund, Frau«, knurrte der Grauhaarige und zeigte auf Saravio und Eduin. »Der König ist hunderte von denen da wert, und wenn er sagt, dass er Frieden in dieses Land bringen wird, dann glaube ich das.«

»Lasst uns noch mehr darüber sprechen«, drängte Eduin. »Aber nicht hier auf der Straße, denn Spione sind überall. Wir treffen uns heute Abend an einem sicheren Ort – im Gasthaus Zur weißen Feder.«

»Ja, das kennen wir«, sagte ein anderer Mann, der ebenfalls gekleidet war wie ein Bauer. »Die Leute dort sind ehrlich, oder zumindest so ehrlich, wie man in diesen Zeiten sein kann.«

Rasch vereinbarte Eduin einen Zeitpunkt. Dann streifte er die sich auflösende Gruppe noch einmal mit dem Geist. Hoffnung war aufgeflackert, und Aufregung, die weit über das, was er erwartet hatte, hinausging. Jemand hatte die glühenden Kohlen der Unruhe sanft zu flackernden Flammen geschürt.

Saravio.

Der rothaarige Mann starrte ins Leere. Eduin spürte die Laran-Macht, die von ihm ausging, und war Überwacher genug, um die beinahe euphorische Reaktion der Menge zu bemerken.

Eduin musste Saravio mehrmals ansprechen, ehe der andere Mann ihn zu hören schien. Saravio blinzelte, als erwachte er aus dem Schlaf, und ließ sich nicht anmerken, dass etwas Ungewöhnliches geschehen war.

»Wir müssen im Gasthaus Vorbereitungen treffen«, sagte Eduin. »Die Frau des Wirts wird sich sicher an dich erinnern.«

»Wie auch nicht?«, sagte Saravio, als sie sich auf den Rückweg durch den Irrgarten enger Straßen machten. »Aber ich verstehe nicht, wozu ein solches Geheimtreffen gut sein soll. Das da sind arme, unwissende Leute. Nutzlos.«

»Für die großen Herren in ihren Palästen sind sie das zweifellos. Vielleicht sogar für dich oder mich.« Eduin hielt um der dramatischen Wirkung willen einen Augenblick inne. »Aber nicht für Naotalba.«

Wie er erwartet hatte, wurde Saravio sofort aufmerksam.

Eduin drängte weiter. »Hat sie mich nicht zu dir geführt? Genau wie jetzt diese Menschen? Diese Armee.«

»Naotalbas Armee? Aber Eduin – das sind keine Soldaten. Sie sind in Lumpen gekleidet. Sie haben keine Waffen, keine Ausbildung. Was können sie schon ausrichten?«

»Das ist die falsche Frage, mein Freund. Es geht mehr darum, was Naotalba mit ihnen ausrichten kann. Zweifelst du etwa an ihrer Macht?«

Sie bogen auf eine Straße ein, die ein wenig breiter war als die anderen und sie zum Gasthaus Zur weißen Feder bringen würde. Saravio stolperte über einen Pflasterstein, der aus dem Schlamm ragte. Eduin packte ihn am Ellbogen und hielt ihn fest.

»Ich bin ihr Diener«, verkündete Saravio. »Es steht mir nicht zu, ihre Wege in Zweifel zu ziehen.«

»Es ist wunderbar, auf dem Weg Naotalbas zu wandeln«, verkündete Eduin. Er verachtete sich dafür, eine Frömmigkeit vorzugeben, über die er nicht verfügte, und Saravios Wahn noch zu nähren.

Eduin hatte einmal zu Zandru, dem Herrn der sieben gefrorenen Höllen gebetet. Die meisten Comyn beteten zu Aldones, dem Herrn des Lichts, zu der schönen Evanda oder zur dunklen Herrin Avarra. Aber was zählte es schon, an wen er sich wandte, wenn die Sache stimmte? Er erinnerte sich an die Frau aus Saravios Vision und schauderte innerlich. Sie konnte Finsternis oder Licht sein, Hoffnung oder Verzweiflung, je nachdem, auf welchen Aspekt des Mythos man sich konzentrierte. Sie war ein Traumbild, nichts weiter. Zweifellos brauchte er ein solches Wesen nicht zu fürchten ...

Als er Naotalba erwähnte, hatte Eduin sofort gespürt, wie sich Saravios psychische Energie regte. Einen Augenblick lang gestattete er sich, es zu genießen. Es wäre einfach gewesen, diese Ausstrahlung zu blockieren, und sich nicht davon berühren zu lassen, während alle anderen spürten, was Saravio ihnen sandte. Freude... Schmerz... Hochstimmung... Zorn...

»Naotalbas Armee«, murmelte Saravio. Er blieb an der Schwelle des Gasthauses stehen und senkte ehrfürchtig den Kopf. »Hier beginnt es also.«

Naotalbas Armee, wiederholte Eduin lautlos. Ein paar verzweifelte Flüchtlinge heute Abend, aber morgen werden es schon mehr sein. Ja tatsächlich, eine Armee. Eine, die den Bewahrer des Turms von Neskaya stürzen wird.

Die Flamme von Hali

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