Читать книгу Außerhalb der Zeit - Marit Schalk - Страница 10
Kapitel 8
ОглавлениеIda zeigt mir den Weg zum Speisezimmer der Sievekings. Ebenso wie alle anderen halboffiziellen Wohnräume befindet es sich in der ersten Etage.
Zu meiner heimlichen Enttäuschung ist der freundliche Eduard noch nicht da, als ich den Raum betrete.
Nur Henry Sieveking sitzt am Kopfende eines Tisches, der für drei Personen eingedeckt ist, an dem aber locker dreimal so viele Leute Platz finden. Seine Augenbrauen schnellen vor Überraschung hoch, als er mich sieht. Nur um sich gleich darauf zu umwölken, während eine ganze Reihe von Emotionen in schneller Abfolge über sein Gesicht zieht. Ich glaube Verwirrung zu erkennen, ebenso wie Erschrecken, Enttäuschung, Trauer und Wut. Schließlich fängt er sich ein wenig und setzt die übliche Maske unbewegter Herablassung auf. Einzig die Tatsache, dass seine Stirnfalte die Tiefe eines Canyons hat verrät, dass er innerlich noch immer in Aufruhr ist. „Woher haben Sie dieses Kleid?“, fragt er eisig, ohne ein einziges Wort der Begrüßung.
„Ida hat es herausgesucht. Wieso?“, gebe ich verständnislos zurück.
„Ida?! Was fällt dem Mädchen ein?!“ Er ist echt wütend und ich habe keinen Schimmer, warum.
„Ich verstehe nicht, warum Sie so aufgebracht reagieren. Da mir die Kleider Ihrer Schwägerin offenbar zu klein waren, hat Ida mir passende besorgt. Was ist dabei?“, verteidige ich das Mädchen. „Im Übrigen sollten Sie doch froh sein, Mitarbeiter zu haben, die selbstständig denken und handeln können. Oder hätten Sie mir sonst auf die Schnelle etwas Passendes zum Anziehen besorgt?!“, gifte ich ihn an.
Das bringt ihn zum Verstummen. Nur seine Kiefer mahlen noch gefährlich aufeinander.
Obwohl ich unseren kurzen Schlagabtausch offenbar gewonnen habe, fühle ich mich furchtbar unwohl, da ich sein Verhalten nicht einordnen kann. Inzwischen bin ich es ja schon gewohnt, dass er meinen Anblick aus den unterschiedlichsten Gründen nur schwer ertragen kann. Aber diese Reaktion übertrifft alles bisher Dagewesene. Ist dieses Kleid eine heilige Reliquie oder was?
Enttäuscht stelle ich fest, dass die kurzzeitige Hochstimmung, in die mich mein eigenes Spiegelbild und Idas Kompliment versetzt haben, schlagartig dahin ist. Stattdessen fühle ich mich unter seinem Blick schrecklich deplatziert und overdressed bis zur Peinlichkeit. Am liebsten würde ich mir das Kleid auf der Stelle vom Leib reißen und mich auf die Suche nach meiner Jeans und meinem Top machen, gleichgültig wie sehr verdreckt diese sein mögen. Aber das würde ihn mit Sicherheit noch mehr gegen mich aufbringen. Vielleicht sogar so sehr, dass er mich vor die Tür setzt. Ein Gedanke, der mir nach den Erlebnissen des heutigen Tages ganz und gar nicht schmeckt.
Ich versuche es diesmal ein wenig mit Sachlichkeit, wobei es mir allerdings nicht ganz gelingt zu verbergen, dass mich seine Reaktion auf mein Erscheinungsbild verletzt hat: „Im Gegensatz zu den Kleidern Ihrer Schwägerin passt mir dieses hier sehr gut, wie Sie sehen. Insbesondere was die Länge angeht. Allerdings gebe ich zu, dass es sehr festlich ist und ich darin aussehe, als wolle ich in irgendeinem Provinznest zum Schützenball gehen. Sie haben also recht, wenn Sie diesen Anblick ein wenig verstörend finden. Da es aber nun einmal das einzige Kleid im ganzen Haus zu sein scheint, das mir passt, bitte ich Sie, meinen vielleicht unangemessenen Aufzug einfach zu ignorieren. Meinetwegen dürfen Sie die ganze Zeit stumm die gegenüberliegende Wand anstarren. Ich werde es Ihnen nicht als Unhöflichkeit auslegen.“
Einige Augenblicke lang ist es absolut still im Raum, bis auf das Ticken einer Standuhr in der Zimmerecke. Dann sagt er zu meinem grenzenlosen Erstaunen leise: „Bitte entschuldigen Sie, sollte ich Sie verletzt haben. Es lag nicht in meiner Absicht Ihnen persönlich zu nahe zu treten.“ Und nach einem kurzen Zögern fügt er sogar noch hinzu: „Das Kleid steht Ihnen im Übrigen ganz vorzüglich.“
Guck an! Mister Ich-habe-einen-Stock-verschluckt-und-weiß-alles-besser kann sich entschuldigen und sogar Komplimente machen! Der Typ scheint immer wieder mal für eine Überraschung gut zu sein. Ich weiß nicht, was ich von ihm halten soll. „Bitte setzen Sie sich doch“, besinnt er sich auf seine gute Erziehung. Er steht auf, zieht den Stuhl zu seiner Linken vom Tisch für mich weg und macht eine einladende Geste.
Ich setze mich, was mit dem ungewohnten, steifen Unterrock und all dem vielen Stoff darüber gar nicht so leicht ist, und er rückt mir den Stuhl zurecht, bevor er selbst wieder Platz nimmt.
„Mein Bruder wird wohl jeden Augenblick eintreffen. Wir sollten mit dem Auftragen des Essens so lange warten.“
„Ja natürlich“, stimme ich zu. Es fällt mir diesmal nicht schwer, in dieser Beziehung großzügig zu sein, da ich meinen schlimmsten Hunger ja erst vor kurzem gestillt habe. Ich nutze die Wartezeit dazu, mich verstohlen umzusehen. Das Zimmer ist, genau wie die anderen Räume, die ich bisher gesehen habe, in pastelligen Farben gehalten. Die Wand ist in einem zarten Grün gestrichen, das zusammen mit den weißen Türen und Fensterrahmen und dem blankgescheuerten hellen Dielenboden eine freundliche und ruhige Atmosphäre erzeugt. Möbel gibt es nicht übermäßig viele, nur das, was notwendig und zweckmäßig ist. Dementsprechend macht das gesamte Haus einen aufgeräumten und sehr sauberen, aber keineswegs kahlen oder gar sterilen Eindruck. Die Möbel haben denselben schlicht-eleganten Stil wie die in meinem Zimmer. Sie haben geschwungene Formen und sind aus dunklem, sorgfältig poliertem Holz gefertigt. Mahagoni schätze ich. Hier im Speisezimmer befindet sich neben der Standuhr nur noch eine Anrichte, über der eine gerahmte Landschaft in Öl an der Wand hängt. Ansonsten wird die gesamte Länge des Raums von dem ovalen Tisch bestimmt, um den zwölf Stühle herum angeordnet sind. Ähnlich wie die in Sievekings Büro, sind die Sitzflächen in einem schicken Streifenmuster bezogen. Hier jedoch in Weiß auf Beige. An der Decke über dem Tisch hängt ein geschwungener Leuchter aus Messing, der mit sechs weißen Kerzen bestückt ist. Die Kerzen brennen jedoch nicht, denn es ist noch immer sommerlich lange hell.
„Haben Sie den Inhalt Ihrer Tasche kontrolliert? Ist alles vollständig?“, unterbricht Herr Sieveking das Schweigen zwischen uns.
„Ja, alles da. Bis auf mein Handy. Aber das habe ich bei dem Unfall mit dem Bestattungsunternehmer verloren“, gebe ich Auskunft, bevor mir auffällt, dass er ja gar nicht weiß, was ein Handy ist.
Bei meinen Worten beginnt er in der Tasche seiner Weste zu nesteln und zieht zu meiner großen Freude besagtes Handy daraus hervor. „Meinen Sie dieses schwarze Kästchen?“, fragt er und gibt es mir.
„Mein Handy, ja. Sie haben es gefunden?“, erkundige ich mich und streiche vorsichtig über das Display, das zu meinem Bedauern mächtig lädiert ist und mich das Schlimmste befürchten lässt. Wahrscheinlich ist das Gerät hinüber.
„Wie ich ja vorhin bereits erwähnte, war es für Mathis und mich nicht sonderlich schwer, Ihrer Spur durch die Stadt zu folgen“, kehrt er wieder den Oberlehrer raus. „Trotzdem hatten wir Glück, dass es niemand sonst gefunden hat. Ebenso wie Ihre Tasche, mit allem, was sich noch an rätselhaften Dingen darin befinden mag.“
Bei seinen Worten wird mir klar, dass er längst kapiert hat, dass mit mir etwas nicht stimmt. Ich beschließe, dass es höchste Zeit ist, ihm reinen Wein einzuschenken, was es genau mit meinem plötzlichen Auftauchen in seinem Haus auf sich hat, auch wenn ich es mir selbst nicht wirklich erklären kann und auf die Gefahr hin, dass er mich für irre hält.
„Sie wissen, dass ich von sehr weit herkomme, nicht wahr?“, beginne ich vorsichtig.
Er gibt einen amüsierten Ton von sich. Dann deutet er auf das Handy, das ich auf dem weißen Tischtuch abgelegt habe, und stellt mir eine Gegenfrage: „Aus welchem Material ist das gefertigt?“
Ich zucke die Achseln. So ganz genau weiß ich es nicht. „Plastik“, schlage ich vor und präzisiere noch: „Kunststoff.“
„Hm“, macht er nur und mir wird klar, dass seine Frage mehr rhetorisch gemeint war und er mir deutlich machen wollte, dass das Gerät aus einem ihm völlig unbekannten Zeug besteht.
In diesem Moment öffnet sich die Zimmertür und Eduard Sieveking betritt den Raum. „Verzeiht bitte meine Verspätung, aber Hetty wollte mich nicht gehen lassen, bevor das Unwetter nicht abgezogen war“, entschuldigt er sich, noch ehe er die Tür hinter sich richtig geschlossen hat. Dann nimmt er mich genauer wahr, und er unterbricht sich selbst. „Fräulein Jensen! Sie sehen ganz verändert aus!“, ruft er begeistert. „Ganz entzückend!“ Dann jedoch wandert sein Blick von meiner Frisur zu meinem Kleid, und er reagiert prompt ähnlich verstört, wie der grimmige Henry vorhin. Unsicher sieht er zu seinem Bruder hin, als wisse er nicht, wie er sich verhalten soll.
Aber dieser schaut betont gleichgültig und gibt vor, die stumme Frage des Jüngeren nicht zu bemerken.
Was haben die bloß mit diesem Kleid?
Ida kommt und trägt das Essen auf, sodass die Gelegenheit verstreicht nachzufragen, was es damit auf sich hat.
Geistesgegenwärtig wirft Henry Sieveking bei ihrem Eintreten eine Serviette über mein Handy, bevor ihr Blick darauf fallen kann.
Während des Essens dreht sich unser Gespräch zunächst um das Gewitter und erst später um die Ereignisse des heutigen Tages, über die der grimmige Henry seinen Bruder in knappen Worten in Kenntnis setzt.
„Um Himmels Willen, das hätte übel für Sie ausgehen können, Fräulein Jensen!“, ruft Eduard Sieveking aus, als er die Geschichte gehört hat. „Wie sind Sie denn bloß auf die Idee gekommen, auf eigene Faust und noch dazu ohne männliche Begleitung durch die Stadt zu laufen?“
„Nun, ich bin schon ein großes Mädchen und kann normalerweise ganz gut ohne Kindermädchen spazieren gehen“ beantworte ich seine Frage lächelnd.
„Wie wir sehr anschaulich gesehen haben“, wirft der grimmige Henry trocken ein und bedenkt mich mit einem vielsagenden Blick aus seinen unglaublichen Augen.
„Es ist heute alles nicht ganz so optimal gelaufen“, gebe ich zu. „Aber das liegt nur daran, dass sich die Stadt so verändert hat und ich deswegen die Orientierung verloren habe!“
„Als du eingetreten bist, setzte Fräulein Jensen gerade dazu an mir zu verraten, woher genau sie eigentlich kommt und was sie zu uns ins Haus verschlagen hat“, informiert er seinen Bruder und nickt mir dann auffordernd zu: „Nun mal endlich heraus mit der Sprache, Fräulein: Aus welchem fernen, unbekannten Land kommen Sie? Und wie ist es möglich, dass Sie trotzdem unsere Sprache sprechen, fast als sei es Ihre eigene?“
„Nun, Letzteres ist leicht zu beantworten: Ich bin Hamburgerin, genau wie Sie und wohne schon mein ganzes Leben lang in dieser Stadt“, beginne ich zu erläutern und fahre dann hastig fort. „Was Ihre erste Frage angeht, ist die Erklärung jedoch etwas komplizierter: Ich komme nämlich aus der Zukunft, direkt aus dem Jahr 2016.“
So, jetzt ist es raus. Angespannt blicke ich zwischen den beiden Herren hin und her, in banger Erwartung ihrer jeweiligen Reaktion. Werden sie mir glauben? Oder werden sie mich für eine Lügnerin halten? Vielleicht sogar für eine entlaufene Irre? Und welche Konsequenzen werden sie dann daraus ziehen?
Zunächst einmal starren mich beide bloß sprachlos an. Was ich gut verstehen kann. Es würde mir genauso gehen, wenn mir jemand solch eine haarsträubende Behauptung servierte. Ich kann förmlich sehen, wie es hinter den Stirnen der beiden heftig arbeitet und ihre Gehirne in blitzschneller Folge sämtliche Möglichkeiten bezüglich meiner Person durchspielen und auf ihre Wahrscheinlichkeit hin überprüfen.
Tja, ich mache mir nichts vor: Die Hypothese, dass ich die Wahrheit sage und tatsächlich ein Mensch aus der Zukunft bin, ist mit Abstand die Unwahrscheinlichste von allen.
Daher bin ich nicht weiter überrascht, als Eduard Sieveking, der als Erster seine Sprache wiederfindet, sich zwar noch immer freundlich, aber doch merklich irritiert erkundigt: „Ist das Ihr Ernst, Fräulein Jensen? Versuchen Sie tatsächlich gerade uns für dumm zu verkaufen?“
„Nein, aber nein. Es ist die Wahrheit. Das müssen Sie mir glauben!“, versichere ich hastig. „Ich weiß, dass es unglaublich klingt, und ich habe es selbst ja den ganzen Tag über nicht kapieren wollen. Aber es ist wohl wirklich wahr!“ Und dann erzähle ich ihnen ausführlich, wie ich gestern – also um genau zu sein, am 19. August 2016 – den Antiquitätenladen von Alex in exakt diesem Hause betrat, in dem wir jetzt gerade sitzen. Ich berichte, was Alex meinem Bruder und mir über den Sprechenden Spiegel und die Legenden erzählt hat, die sich angeblich darum ranken, als wir uns das besagte Stück in seinem Verkaufsraum ansahen. Um meine Glaubwürdigkeit zu unterstreichen, beschreibe ich das Aussehen des Spiegels haargenau und verhehle den beiden auch nicht, dass ich mich über den Sinnspruch auf dem Rahmen skeptisch, wenn nicht sogar ein wenig abfällig geäußert habe. Danach schildere ich noch, wie mir anschließend beim Anheben meiner Tasche die Teppichkante in die Quere kam, ich das Gleichgewicht verlor und ich dann mitsamt der Tasche und der pastelligen Porzellanfigur vom Beistelltisch durch die Spiegelscheibe fiel. „Das Nächste, woran ich mich dann wieder erinnere ist, dass ich bei Ihnen unten im Kontor auf dem Fußboden zu mir kam“, beende ich meinen Bericht.
Erneut herrscht ungläubige Stille in unserer kleinen Runde. Die erst halb aufgegessenen Teller auf dem Tisch hat schon lange keiner mehr von uns angerührt, und das Essen ist mit Sicherheit inzwischen kalt.
Nervös rühre ich mit meinem Besteck auf dem Teller herum, um es gleich darauf wieder zur Seite zu legen. Dabei denke ich fieberhaft nach, was ich ihnen noch erzählen könnte, damit sie mir endlich Glauben schenken.
Da unterbricht die Stimme Henry Sievekings die Stille. Er spricht drei schlichte Worte ganz gelassen aus: „Beweisen Sie es!“
Ich überlege kurz. Dann ziehe ich das lädierte Handy, das nach wie vor unter seiner Serviette liegt, darunter hervor und lege es zwischen den beiden Herren auf den Tisch. „Ich habe diesen Gegenstand heute Vormittag auf der Straße verloren, und ihr Bruder hat ihn wiedergefunden“, wende ich mich erklärend an Eduard Sieveking. „Offenbar besteht das Ding aus einem Material, das Ihnen beiden unbekannt ist. Es ist aus einem von Menschen auf chemischen Wege erzeugten Kunststoff gemacht, ein Herstellungsverfahren, das man zu Ihrer Zeit wohl noch nicht kennt.“
Eduard Sieveking wiegt nach wie vor skeptisch den Kopf. „Das muss nicht zwangsläufig bedeuten, dass Sie aus der Zukunft kommen. Vielleicht sind Sie bloß aus einem entfernten, noch unentdeckten Erdteil hierher gesegelt, wo man bereits fortschrittlicher ist als bei uns“, wendet er ein.
„Ein noch unentdeckter Erdteil?“ Jetzt ist es an mir, ungläubig zu gucken. Da ich aus einer Welt komme, in der bekanntlich der gesamte Globus per Satelliten permanent durchgescannt wird, klingt sein Gedanke ein wenig bizarr in meinen Ohren. Für einige Sekunden lang stelle ich mir vor, was meine beste Freundin Caro wohl zu seiner Bemerkung sagen würde. Sie ist Fachverkäuferin in der Abteilung Übersee bei „Dr. Krothe Land und Karte“, einer Buchhandlung bei uns in Hamburg, die auf Landkarten, Globen, Navigationsgeräte und sämtliche gedruckte Literatur spezialisiert ist, die auch nur im Entferntesten mit Reisen zu tun hat. Caro fände die Vorstellung unentdeckter Erdteile jetzt gewiss zum Brüllen komisch. Bei „Dr. Krothe“ rühmt man sich, sogar Landkarten aus dem wirklich allerletzten Winkel der Erde vorrätig zu haben und – wenn ausnahmsweise einmal nicht – dann doch über Nacht für den Kunden besorgen zu können. „Wir finden auch noch die vorletzte verzeichnete Jurte in der hintersten Mongolei“, behauptet Caro immer. Demnach dürften unentdeckte Erdteile für sie vollkommen lächerlich sein.
Aber dann fällt mir auch die Spezialabteilung bei „Dr. Krothe“ ein, in der man historische Landkarten und Stadtpläne erwerben und sich sogar fachgerecht einrahmen lassen kann. Auf einigen dieser Karten gibt es tatsächlich noch zahlreiche und noch dazu enorm große der sprichwörtlichen weißen Flecken. Insofern ist Herrn Sievekings Einwand dann wohl doch gar nicht so erstaunlich, je nachdem, aus welcher Zeit er kommt. Das bringt mich prompt wieder zu der entscheidenden Frage zurück, die mich den ganzen Tag über schon umtreibt: „Darf ich einmal höflich fragen, in welcher Zeit und in welchem Jahr ich mich jetzt genau befinde? Ist das hier die Renaissance? Oder das Barock? Oder…“
„Oder das Mittelalter? Oder die Steinzeit?“, wirft der grimmige Henry launig ein, wofür er ein sanft tadelndes Kopfschütteln seines Bruders erntet.
Letzterer ist es auch, der mir ernsthaft antwortet: „Wie man unsere Epoche einmal nennen wird, das weiß ich leider nicht. So etwas wird ja immer erst rückblickend von späteren Generationen definiert. Was ich Ihnen jedoch mit Sicherheit sagen kann, ist, dass wir das Jahr 1841 schreiben und das letzte größere geschichtliche Ereignis wohl die Befreiung Europas von der Herrschaft Napoleons vor gut fünfundzwanzig Jahren war. Seitdem erleben wir eine Zeit des Friedens und des sich mehrenden Wohlstands bei uns in Hamburg.“
‚1841. Das ist nicht ganz so weit in der Vergangenheit zurück, wie ich befürchtet hatte‘, denke ich ironisch. ‚Vielleicht erleichtert dieser Umstand ja mal auf irgendeine Weise meine Rückkehr?‘ Ich spreche den Gedanken laut aus, woraufhin Henry Sieveking nüchtern feststellt: „Sie bleiben also bei Ihrer Behauptung, dass Sie selbst und dieses schwarze Kästchen nicht aus einer räumlichen, sondern vielmehr aus einer zeitlichen Ferne zu uns gekommen sind? Also von einem Zeitpunkt her, der aus unserer Sicht noch nicht stattgefunden hat?“
„Ja, dabei bleibe ich, denn es ist die reine Wahrheit“, nicke ich ernsthaft und ergänze noch: „Wenn ich Ihnen zeigen darf, was ich alles in meiner Tasche dabeihabe und Ihnen ein paar der Gegenstände sogar vorführen kann, wird es mir gewiss gelingen Sie davon überzeugen, dass ich Sie nicht anschwindele.“
„Nun, dann schlage ich vor, dass wir die Tafel aufheben und uns hinüber in den Salon begeben“, schlägt Eduard Sieveking vor, und sein Bruder ergänzt süffisant:
„Ja, lassen Sie uns sehen, was Sie aus Ihrer Tasche hervorzuzaubern vermögen! Auch, wenn ich kein bisschen daran glaube, dass der Inhalt uns wird überzeugen können, so verspricht es doch zumindest ein unterhaltsamer Abend zu werden. Man bekommt ja nicht alle Tage eine Varieté-Vorstellung frei Haus geboten.“
*
Nachdem ich meine Tasche aus dem Kleiderschrank in meinem Zimmer geholt habe, wo ich sie vorsorglich verstaut habe, damit sie mir nicht erneut abhandenkommen kann, treffe ich die beiden Sievekings in ihrem Salon wieder. Als ich ihn betrete, fühle ich mich ähnlich wie vorhin bereits im benachbarten Speisezimmer so, als würde ich eine lebensgroße Puppenstube betreten: alles sieht sehr freundlich und hell, ungemein sauber und ordentlich aus.
Ich darf mich auf ein elegantes Kanapee setzen, das hinter dem Tisch steht. Die ovale Tischplatte ist auffällig gemasert, wobei die Maserung spiegelbildlich angeordnet ist. Wahrscheinlich liegt deshalb keine Tischdecke darauf, damit man das Muster sieht.
Die hohen Wände des Salons sind beigefarben gestrichen. Daran hängen an ausgewählten Stellen in Reihen jeweils zwei Scherenschnitte von Leuten, die ich zwar nicht kenne, die jedoch bei genauem Hinsehen Ähnlichkeit mit Eduard und Henry Sieveking aufweisen.
In der von mir aus gesehen rechten Zimmerecke steht ein schmaler Ofen. An der mir gegenüberliegenden Wand, über einem schlichten Sekretär, hängt das Portrait einer hübschen jungen Frau mit Kleidern und einer Frisur, wie man sie vor langer Zeit getragen hat. Also jetzt gerade, erinnere ich mich.
Neben dem Sekretär mit dem Portrait befindet sich eine weißlackierte Holztür, durch die wir aus dem Speisezimmer hereingekommen sind. Daneben entdecke ich ein kleines Nähtischchen und einen schmalen Sessel, der so platziert ist, dass er gleichzeitig vor dem hohen Sprossenfenster steht. Eine weitere, dem Fenster gegenüberliegende Tür, führt nach draußen auf die Galerie. Vor dem Fenster hängen ebenso wie nebenan im Raum weiße, luftige Gardinen, die jeweils an der Seite gerafft sind, sodass man nach draußen auf die Giebel der gegenüberliegenden Straßenseite schauen kann.
Die Männer setzen sich auf Stühle mir gegenüber. Der grimmige Henry stopft sich die Pfeife, und der freundliche Eduard schlägt lässig die Beine übereinander.
„Nun, dann führen Sie uns die wundersamen Dinge aus Ihrer Tasche doch einmal vor“, fordert der Letztgenannte mich auf, wobei er einen durchaus aufgeschlossenen Eindruck macht – im Gegensatz zu seinem Bruder, der mich über den Rand seiner Pfeife hinweg mit unverhohlener Skepsis mustert.
Ich beginne also eifrig damit, Gegenstände aus meiner Tasche auszupacken, von denen ich am ehesten vermute, dass sie meinen beiden Gastgebern angemessen futuristisch vorkommen, und führe sie ihnen gegebenenfalls vor: einen Kugelschreiber zum Beispiel, einen Lippenstift, meine Sonnenbrille, eine kleine Minitaschenlampe, die ich an meinem Schlüsselbund mit mir führe, obwohl ich längst eine entsprechende App auf meinem Handy habe…
Die beiden Brüder folgen meinen Ausführungen mit spürbar wachsender Aufmerksamkeit und untersuchen meine Habseligkeiten mit großem Interesse.
Ich gewinne den Eindruck, dass ich zumindest den Jüngeren der beiden schließlich von meiner Redlichkeit überzeugen kann. Der Ältere jedoch scheint mir noch immer nicht so recht zu trauen. Bis mir dann endlich mein Geldbeutel in die Hände fällt, in dem sich nicht nur Münzen und Geldscheine mit darauf ausgewiesener Jahreszahl befinden, sondern außerdem mein Personalausweis, der neben meinem Konterfei auch schwarz auf weiß mein Geburtsdatum und den Wohnort ausweist.
„Es stimmt also wirklich“, stellt der jüngere Sieveking schließlich mit fassungslosem Kopfschütteln fest, während sein Bruder mit gerunzelter Stirn den Ausweis und die Euroscheine untersucht, offensichtlich in der Hoffnung, doch noch einen Beleg dafür zu finden, dass ich eine Hochstaplerin bin. Aber auch ihm scheinen allmählich die Gegenargumente auszugehen, denn er gibt mir die Sachen schließlich zurück, ohne irgendetwas daran zu mäkeln zu finden. Während er sich in seinen Stuhl zurücklehnt und bedächtig an seiner Pfeife zieht, macht sein inzwischen überzeugter Bruder keinen Hehl mehr daraus, dass er mir glaubt.
„Sie kommen demnach tatsächlich aus der Zukunft zu uns?“, vergewissert er sich nochmals und klingt dabei merkwürdig andächtig.
Ich nicke verlegen. So wie er das sagt, hört es sich an, als hätte ich irgendeine bedeutende Leistung vollbracht.
„Ist es denn in Ihrem Zeitalter üblich, in der Zeit zu springen?“, erkundigt sich er interessiert.
„Nein, absolut nicht. Niemand kann das“, widerspreche ich. „Und ich habe offen gesagt keine Ahnung, wie es dazu gekommen ist und warum es mich hierher verschlagen hat. Das Einzige, was ich weiß ist, dass ich es nicht mit Absicht gemacht habe.“
„Ich gestehe, dass wir gestern Abend zunächst nicht wussten, was wir von Ihnen halten sollen“, erzählt Eduard Sieveking. „Die Art und Weise wie Sie plötzlich unten im Kontor aufgetaucht sind, völlig unvermittelt, wie aus dem Nichts… Das hat uns doch sehr stutzen lassen. Dann noch dazu Ihre freizügige Kleidung, und wie Sie schließlich diesen kleinen Kasten auspackten und damit durch das Zimmer liefen auf der Suche nach irgendetwas…“
„Ein Netz“, helfe ich ihm, „ich habe nach einer Netzverbindung für mein Handy gesucht…“ Dann unterbreche ich mich selbst, weil mir klar wird, dass ihm diese Erklärung rein gar nicht weiterhilft.
Er hebt zur Antwort auch nur vielsagend die Brauen, als sei damit alles gesagt.
Ich lasse mir seine Beschreibung durch den Kopf gehen und stelle mir vor, wie mein Verhalten wohl in seinen Augen gewirkt haben muss. Unwillkürlich muss ich lachen. „Bestimmt bin ich Ihnen wie eine Außerirdische vorgekommen! Das hätte ich jedenfalls gedacht, wenn mir so jemand wie ich begegnet wäre!“, kichere ich.
Der junge Sieveking stimmt in mein Lachen ein.
Sein Bruder natürlich nicht, was mich auch wieder ernst werden lässt: „Fragt sich jetzt bloß, wie ich wieder nach Hause zurückkomme?“ Hilflos hebe ich die Schultern.
„Seien Sie versichert, verehrtes Fräulein Jensen, dass wir Ihnen im Rahmen unserer Möglichkeiten diesbezüglich jedwede notwendige Unterstützung zukommen lassen werden und dass Sie selbstverständlich solange bei uns wohnen können“, versichert mir Eduard Sieveking, wofür ich ihm ein dankbares Lächeln schenke. „Darüber hinaus werden wir unser Bestes geben, um Ihr Geheimnis zu wahren.“ Er sieht abwechselnd einmal zu mir, dann zu seinem Bruder hin, um sich unser stummes Einverständnis zu sichern und fügt erklärend hinzu: „Ich denke doch, wir sind uns einig, dass wir alle drei über Ihre exakte Herkunft Schweigen wahren werden? Den Aufruhr möchte ich nicht miterleben müssen, sollte allgemein bekannt werden, dass ein Mensch aus der fernen Zukunft unter uns weilt.“
„Aber ja“, stimme ich ihm von ganzem Herzen zu und sehe mich vor meinem geistigen Auge schon von Journalisten und Paparazzi verfolgt. Obwohl es die zu dieser Zeit vielleicht doch noch nicht gibt. Aber Sensationsgier gibt es bestimmt auch schon im 19. Jahrhundert, in welcher Form auch immer, und ich möchte mich lieber auf meine Rückkehr konzentrieren, als darauf, mir neugierige Leute vom Leib zu halten. „Auf keinen Fall möchte ich irgendwem erklären müssen, dass ich einen Zeitsprung gemacht habe. Die Leute würden mich ja für verrückt erklären!“, ergänze ich.
Während der freundliche Eduard zustimmend nickt, kommentiert der grimmige Henry meine letzte Bemerkung zwar schweigend, aber mit hochgezogenen Brauen, was zu deuten ich mich dann doch geflissentlich weigere.