Читать книгу Außerhalb der Zeit - Marit Schalk - Страница 5

Kapitel 3

Оглавление

Ich blicke mich im Zimmer um und stelle fest, dass es auf einmal viel kürzer ist als zuvor. Es scheint so, als habe man mitten durch die Länge von Alex‘ Laden eine Wand aus Sprossenfenstern eingezogen und daraus zwei hintereinanderliegende Räume gemacht.

Auch sind die Teppiche und die gesamte Ware aus dem Geschäft verschwunden. Übrig geblieben sind der große, überquellende Schreibtisch sowie eine ganze Wand voller Regale, die mit Kladden und Papierkram gefüllt sind. In der Ecke links hinter mir steht außerdem noch eine einfache Holzbank hinter einem runden Tischchen, um das drei weitere Stühle platziert sind, mit dem gleichen grüngestreiften Stoff bezogen wie der, auf dem ich gerade sitze. Die Wand hinter der Sitzecke ist gepflastert mit gerahmten, kolorierten Zeichnungen von lauter historischen Großsegelschiffen, denen gemeinsam ist, dass sie am Hauptmast die Flagge derselben Reederei tragen.

Wären da nicht mein brummender Schädel und die zertrümmerte Schäferin als Beweis, dann würde ich schwören, an einem völlig anderen Ort zu sein als noch kurz zuvor.

Ich betrachte die beiden Männer, die sich zwischenzeitlich die Westen wieder zugeknöpft und sogar jeweils eine frackähnliche Jacke übergeworfen haben. Was haben die denn noch Großes vor? Wollen die in der Oper auftreten oder machen sie sich für eine schicke Hochzeit bereit? Sollte meine letzte Vermutung stimmen, steht allerdings zu befürchten, dass sie mit ihren eleganten Stoffhosen, den weißen, steif gestärkten Hemden und den Fräcken am Ende bestimmt vornehmer aussehen als der Bräutigam selbst. Meiner Ansicht nach ist ihr Outfit an Eleganz kaum noch zu toppen, wenn man mal von den Stiefeln absieht, die sie beide tragen und deren Anblick mich an Zirkusdirektoren erinnert. Es fehlen jeweils nur noch ein steifer Zylinder auf dem Kopf sowie eine überlange Peitsche.

Der jüngere mit dem Schnurrbart sieht sogar noch ein wenig förmlicher aus als der Ältere. Er trägt an seinem Hemd einen engen, steif hochstehenden Kragen, der ihm bestimmt das Atmen erschwert. Zumindest aber das Drehen seines Kopfes. Man kann nur hoffen, dass er mit dieser Halskrause nicht Autofahren will. Das sollte er dann besser dem grimmigen Blonden überlassen. Die beiden betrachten mich immer noch, als wüssten sie nicht so recht, was sie mit mir anfangen sollen. Dabei spielt der Jüngere nachdenklich mit einem Siegelring, den er an der linken Hand trägt.

Ich kann ihnen ihre Irritation über unser unverhofftes Zusammentreffen nicht verdenken. Mir geht es mit ihnen schließlich umgekehrt genauso. Wo kommen die beiden bloß so plötzlich her? Handelt es sich bei ihnen vielleicht um zwei späte Kunden, die noch während meiner geistigen Umnachtung den Antiquitätenladen betreten haben, um ein Last-Minute-Hochzeitsgeschenk zu besorgen? In diesem Fall kann ich nur für sie hoffen, dass sie gut bei Kasse sind, denn Alex‘ Preise sind ja nicht von Pappe.

Wobei mir der zerstörte Spiegel wieder einfällt. Ob Gregor und Alex vielleicht gerade in dessen Büro verschwunden sind, um die Versicherungsformalitäten zu regeln? Aber das sähe Gregor irgendwie so gar nicht ähnlich. So verliebt kann er gar nicht sein, dass er mich einfach ohnmächtig in den Händen von zwei völlig Fremden zurücklassen würde, bloß um blöden Papierkram zu erledigen, nicht einmal mit Alex.

„Wo sind Gregor und Alex?“, wende ich mich an den Schnurrbärtigen, der mir der Zugänglichere von den beiden Befrackten zu sein scheint.

Er hebt überrascht die Augenbrauen. „Gregor und Alex? Wollen Sie damit vielleicht andeuten, dass es noch mehr ungebetene Gäste gibt?“ Er wirkt leicht beunruhigt. Vielleicht ist er für die Organisation der Hochzeit zuständig und macht sich jetzt Sorgen wegen der Verteilung der Sitzplätze?

„Keine Sorge, wir sind keine Hochzeitsgäste. Alex ist der Besitzer dieses Ladens, und mein Bruder und ich wollten mit ihm hier eigentlich nur gemeinsam zu Abend essen. Aber wir werden natürlich so lange warten, bis Sie ein passendes Geschenk gefunden haben“, erkläre ich großzügig.

Die Herren tauschen einen vielsagenden Blick.

„Mir scheint, Sie sind aufgrund Ihres Sturzes noch ein wenig verwirrt“, meint der Schnurrbärtige. „Lassen Sie sich von mir versichern, dass hier weder eine Hochzeit stattfindet noch dass es sich bei diesen Räumlichkeiten um einen Laden handelt. Auch der von Ihnen genannte Alex ist mir kein Begriff.“

„Keine Hochzeit und kein Laden?“, murmle ich irritiert. Was soll das hier werden? Versteckte Kamera?

Unwillkürlich wandert mein Blick durch den Raum und untersucht ihn auf mögliche Verstecke. Aber ich kann nichts Verdächtiges entdecken. Falls es sich um einen Fernsehstreich handeln sollte, dann ist er extrem gut gemacht: Die plötzlich so veränderte Umgebung, die beiden Typen im Frack – das alles wirkt eigenartig real auf mich und kann doch gleichzeitig gar nicht echt sein. Ich weiß doch, dass ich mir kurz zuvor noch mit Gregor und Alex die antiken Möbel angesehen habe! „Wenn dies nicht Alex‘ Laden ist, wo bitte befinde ich mich denn dann?“, erkundige ich mich bei dem freundlichen Schnurrbart. Den Grimmigen habe ich beschlossen zu ignorieren.

„Nun, wir befinden uns in der Deichstraße in Hamburg…“, beginnt er.

Das hört sich schon mal vielversprechend an. Ich atme erleichtert auf.

„… Um präzise zu sein: im Kontor der Gebrüder Sieveking – Reederei und Handelsgesellschaft.“

Okay. Also bin ich vielleicht durch die Wand ins Nachbarhaus gestürzt? Unwahrscheinlich zwar, aber vielleicht nicht gänzlich unmöglich bei so alten Häusern? Nur eigenartig, dass er behauptet, Alex nicht zu kennen, wenn er doch sein direkter Nachbar ist?

Meine Gedanken werden durch ein Klopfen an der Tür und das anschließende Eintreten eines weiteren Mannes unterbrochen. Auch er trägt eine Anzugshose und ein weißes Hemd unter einer dezent gestreiften Weste. Da er jedoch ein silbernes Tablett in den Händen hält, sieht er wie ein Butler aus. Er ist älter als die beiden anderen, hat schmale Lippen, eine große, lange Nase und Schlupflider, die ihn aussehen lassen, als würde er nur mit Mühe die Augen aufhalten und jeden Moment im Stehen einschlafen. Während er auf mich zukommt, fällt mir auf, dass er eine offensichtliche Glatze unter mehreren langen Haarsträhnen zu verbergen sucht, die er sich von seiner linken Schläfe aus einmal quer über den Kopf gekämmt hat.

„Ah, da kommt Mathis mit dem Eis. Sehr gut“, meint der Schnurrbart.

Der Grimmige, der die ganze Zeit schweigend schräg hinter mir gestanden hat, tritt einen Schritt vor und nimmt etwas von Mathis‘ silbernem Tablett. Auch er trägt einen Siegelring, fällt mir auf.

„Sie gestatten?“, fragt er mich, aber offensichtlich nur der Form halber, denn noch bevor ich antworten kann, spüre ich, wie etwas gegen meinen Hinterkopf gedrückt wird. Im ersten Moment tut es weh, aber dann breitet sich eine angenehme Kühle unter meinem Haar aus, die den Schmerz betäubt.

„Ich habe mir erlaubt, außerdem einen Schal von Frau Sieveking mitzubringen, da der Dame der ihre offenbar verloren gegangen ist“, erklärt der schlupflidrige Mathis mit betont unbewegter Miene. Gerade diese Ausdruckslosigkeit verleiht seiner Aussage eine gewisse Doppeldeutigkeit, die ich allerdings nicht verstehe. Unauffällig schaue ich an mir hinunter und frage mich, ob es an meiner Jeans und dem ärmellosen weißen Top irgendetwas auszusetzen geben könnte, komme aber zu keinem Ergebnis.

„Das war sehr aufmerksam, Mathis“, lässt sich der große Blonde unterdessen vernehmen, „mir scheint, die Dame hat in der Tat so allerhand verloren.“ Dabei streift sein Blick ebenfalls zunächst meine Hosen, danach mein Oberteil und schließlich meinen dröhnenden Kopf. Täusche ich mich, oder schwingt auch bei seiner Bemerkung so etwas wie Sarkasmus mit? Er will damit doch wohl nicht etwa andeuten, ich könnte meinen Verstand verloren haben?

Was für eine Unverschämtheit! Während ich noch empört nach Luft schnappe, wird ein leichter, dünner Stoff um meine nackten Schultern gelegt, der sich angenehm seidig anfühlt. Dabei fällt mir auf, dass die Temperatur im Raum zwar nicht unangenehm, aber doch bei weitem nicht mehr so warm ist, wie noch vor meiner Ohnmacht. Kein Wunder, denn offensichtlich ist es längst dunkel draußen und dementsprechend kühler geworden. Das weiche Tuch kommt mir daher gar nicht ungelegen. Also verkneife ich mir einen Kommentar und nehme einfach dankend an.

„Außerdem habe ich Ida angewiesen, ein Gästezimmer für die Dame herzurichten“, lässt sich Mathis erneut vernehmen, während er das kleine Wunder vollbringt, auf dem übervollen Schreibtisch noch einen freien Platz zu finden, auf dem er das Tablett abstellen kann. Ich erkenne drei Tassen, eine Kanne Tee und einen Teller mit Sandwiches, bei deren Anblick mir unwillkürlich das Wasser im Mund zusammenläuft.

„Hervorragend“, nickt der Schnurrbärtige in Mathis‘ Richtung. „Ich denke, ihr beide könnt dann zu Bett gehen. Wir kommen von nun an alleine zurecht.“

Mathis zieht sich diskret zurück und der Schnurrbärtige klärt mich auf: „Das war unser Hausdiener. Normalerweise gehört es nicht zu seinen Aufgaben, Tee zu servieren. Aber er ist diskret und verschwiegen. Eigenschaften, die mir unter den gegebenen Umständen bedeutsam zu sein scheinen.“

Zwar kann ich nicht hundertprozentig nachvollziehen, warum er offenbar ein Geheimnis daraus machen will, dass ich hier bin, denn auch wenn wir alle drei offensichtlich noch keine Erklärung für unser plötzliches Aufeinandertreffen gefunden haben, so tun wir hier ja nichts Ungesetzliches. Aber wenn ihm Diskretion so wichtig ist, dann mir meinetwegen auch.

„Bitte bedienen Sie sich, falls Sie Hunger haben“, fordert er mich freundlich auf, und ich lasse mich nicht zweimal bitten, wähle ein Käsebrot aus und beiße herzhaft hinein. Bereits nach den ersten Bissen merke ich, wie meine Lebensgeister langsam wieder in mich zurückkehren. Zudem werden meine Schultern auf angenehme Weise gewärmt, mein Kopf hingegen gekühlt. Somit hindert nichts mehr meine Gehirnzellen daran, ihre Arbeit wieder aufzunehmen. „Wenn ich eins und eins richtig zusammenzähle, habe ich es bei Ihnen beiden also mit jeweils einer Hälfte der „Gebrüder Sieveking“ zu tun. Korrekt?“, nehme ich das Gespräch wieder auf, nachdem ich das erste Sandwich verputzt habe.

„In der Tat. Mein Name ist Eduard Sieveking“, stellt der Schnurrbärtige sich vor und verbeugt sich dabei sogar vor mir. Scheinbar wirkt sich die Steifheit seines Kragens auch auf sein Benehmen aus. Dann deutet er auf den Blonden und stellt ihn mir als seinen älteren Bruder Henry Sieveking vor.

Ob dieser sich ebenfalls verbeugt, kann ich nicht sagen, da er noch immer hinter mir steht und ich nach seiner frechen Bemerkung von vorhin einen Teufel tun werde, mich in seine Richtung zu verrenken.

„Darf ich fragen, wer Sie sind? Vielleicht können wir dann gemeinsam herausfinden, wie es Sie zu uns hier herein verschlagen hat und wo wir Ihren Bruder und Ihren gemeinsamen Freund finden“, schlägt der Jüngere vor.

„Lena Jensen ist mein Name. Sehr erfreut“, entgegne ich und strecke ihm meine Hand entgegen, um ihn zu begrüßen.

Aber anstatt sie zu nehmen und zu schütteln, blinzelt er eine Sekunde lang irritiert, bevor er dann zu mir kommt und mir einen formvollendeten Handkuss verpasst.

„Mein lieber Schwan, Sie haben Ihre Rolle aber super drauf!“, entfährt es mir. Insgeheim frage ich mich erneut, wo die Kameras sind und worauf diese ganze Geschichte wohl hinauslaufen soll.

Und was treiben Gregor und Alex gerade? Sitzen die beiden irgendwo vor einem Bildschirm und lachen sich schlapp über diesen Quatsch? Ich merke, wie ich bei dieser Vorstellung allmählich die Geduld verliere. Tee und Käse sind ja ganz nett, aber ich möchte jetzt lieber endlich etwas von Alex‘ Nudelauflauf haben, und ein großes Alsterwasser dazu, wäre nach dem überstandenen Schrecken auch nicht verkehrt.

Also beschließe ich, diese Komödie jetzt zu beenden. „Wissen Sie was?“, fahre ich in energischem Ton fort. „Es war sehr nett bei Ihnen, aber ich habe jetzt keine Lust mehr auf dieses Spielchen. Ich werde jetzt meinen Bruder anrufen – er soll mich gefälligst hier abholen. Vielen Dank für den Eisbeutel, den kleinen Imbiss, das Tuch und den Handkuss!“ Während dies alles aus mir heraussprudelt, angle ich mir meine Handtasche unter dem Schreibtisch hervor und krame mein Smartphone heraus. Den Eisbeutel, ein simples, verschnürtes Ledersäckchen ohne Schraubverschluss, lege ich zwischen den Papierstapeln auf dem Schreibtisch ab, um besser in meiner Tasche wühlen zu können.

Endlich habe ich mein Handy herausgefischt und versuche Gregors Nummer anzuwählen. „Kein Netz? Ach wie blöd!“, murmle ich Sekunden später verärgert, als ich die Displayanzeige ablese. Ebensowenig gibt es offenbar ein W-LAN-Signal. Ein totales Funkloch mitten in der Hamburger City?! So etwas sollte es doch heutzutage wirklich nicht mehr geben. Ich hebe den Arm, um dadurch vielleicht einen Empfang zu bekommen, stehe sogar auf und wandere damit im Raum herum. Aber nichts tut sich. „Sie haben ja gar kein Netz hier! Ist das normal?“, frage ich die beiden Sievekings, erhalte aber keine Antwort.

Stattdessen starren mich die beiden mit großen Augen an, als hätten sie nie zuvor ein Handy gesehen. Bei allem Respekt vor ihrer Schauspielkunst – man kann es auch übertreiben! Wirklich seltsame Typen.

Ich schultere seufzend meine Handtasche, lege das geliehene Tuch auf den Stuhl, auf dem ich gesessen habe und begebe mich zur Tür, um mich auf den Weg zur U-Bahnstation zu machen. Wenn Alex und Gregor es lustig finden, mich hier einfach alleine zu lassen, dann sollen sie jetzt mal sehen, dass ich auch ohne sie zurechtkomme. „Nichts für ungut, aber ich gehe dann jetzt. Vielen Dank nochmal für Ihre Gastfreundschaft“, verabschiede ich mich erneut und öffne, ohne eine Antwort abzuwarten die Tür.

Dahinter erscheint der vordere Teil von Alex‘ Laden. Der mit dem großen Sprossenschaufenster, in dem der Stuhl, der Globus und die Porzellantassen gestanden haben. Jetzt hingegen ist davon nichts mehr zu sehen. Stattdessen kann ich in dem fast dunklen Raum, der lediglich vom schwachen Schein der Lampe auf Sievekings Schreibtisch erhellt wird und der durch die verglaste Wand fällt, einen langen Tresen erkennen. Darauf stehen ebenfalls mehrere Tintenfässer und liegen fein säuberliche angeordnete Papierstapel. Hinter dem Tresen befinden sich weitere Schreibtische, ähnlich wie der im Raum hinter mir. Linker Hand entdecke ich eine weitere Tür, von der ich annehme, dass sie zum Ausgang führt.

Jedenfalls sieht sie genauso aus, wie der Eingang von Alex‘ Laden, durch den man in die große Eingangshalle des Hauses mit der bemalten Decke und dem Messingleuchter kommt. Allmählich kommt mir nun doch der Verdacht, dass ich hier in etwas Größerem stecke als in einer albernen Fernsehshow. Warum sollten sich die Fernsehfuzzies die Mühe machen, noch einen weiteren Raum zur Kulisse umzugestalten? Das wäre doch sinnlos.

Außerdem fühlt sich das alles hier um mich herum eigenartig wirklich an: Die Räume, die Deko, die beiden Männer mit ihren vornehmen Klamotten, ihrer gestelzten Sprache und ihrem altmodischen Benehmen… Die komplette Szenerie wirkt bis ins Detail so echt und in sich stimmig. Das einzig Falsche an diesem Ort scheine tatsächlich ich selbst zu sein.

Unsicher bewege ich mich auf den Ausgang zu. Wer weiß, was mich dahinter erwartet? Und was mache ich, wenn diese eigenartige Kulisse, in der ich hier gelandet bin, dahinter noch weitergeht?

Noch ehe ich aber auch nur einen Schritt auf die Tür zugemacht habe, dringt ein energisches „Halt!“ an mein Ohr, das mich unwillkürlich innehalten lässt.

Langsam drehe ich mich um und erblicke Henry Sieveking, der nach wie vor mitten im Büro seines Bruders steht und mich streng fixiert. Sein langer Schatten fällt auf mich, so als sei ihm ein zusätzlicher Arm gewachsen, mit dem er mich festhält.

Ich führe es auf meine Unsicherheit über meine derzeitige Situation zurück, dass ich auf ein einziges Wort von ihm gleich derart spure – er hat allerdings etwas derart Autoritäres an sich, dass man sich wirklich anstrengen muss, um ihm Widerstand zu leisten. Trotzdem ärgere ich mich über mein Verhalten und versuche meinen vermeintlichen Gehorsam auszugleichen, indem ich unwirsch schnappe: „Was ist denn noch?!“

Seine steile Stirnfalte vertieft sich. Offensichtlich ist er Widerspruch nicht gewohnt.

„Zwar bin ich mir noch keineswegs schlüssig, wer oder was Sie sind“, beginnt er nachdenklich, „noch habe ich eine Erklärung dafür, woher Sie derart unerwartet gekommen sind. Aber eines scheint mir sicher: In dem nervösen Zustande, in dem Sie sich derzeit befinden, dürfen wir Sie sich nicht sich selbst überlassen.“

„Ach nein? Und was schlagen Sie also vor?“, erkundige ich mich neugierig.

„Nun, in Anbetracht der doch inzwischen weit vorgeschrittenen Stunde scheint es wohl das Sinnvollste zu sein, wenn Sie für heute Nacht hier bei uns im Hause Quartier beziehen. Schließlich hat Ida Ihnen bereits eines der Gästezimmer hergerichtet“, schaltet sich nun der freundliche Eduard ein und tritt neben seinen Bruder. „Und morgen früh sehen wir weiter. Bestimmt gelingt es uns dann leichter, etwas über den Verbleib der beiden Herren herauszufinden, die Sie uns gegenüber erwähnten.“

Misstrauisch sehe ich die beiden Männer an.

„Wie kommen Sie dazu, mir - einer völlig fremden Person - einfach so eine Übernachtungsmöglichkeit anzubieten?“, frage ich und lasse keinen Zweifel daran, dass ich mich innerlich frage, was die beiden wohl tatsächlich im Schilde führen.

„Offen gestanden frage ich mich das auch“, entgegnet der blonde Henry trocken und wirft seinem Bruder einen kurzen Seitenblick zu, bevor er seine Grimmigkeit wieder uneingeschränkt auf mich richtet. „Berücksichtigt man jedoch, dass Sie scheinbar aus dem Nichts in unserem Hause aufgetaucht und uns buchstäblich vor die Füße gefallen sind, resultiert daraus wohl unvermeidlich eine gewisse Verantwortung unsererseits für Ihre Person.“

„Abgesehen davon, dass es für uns als Männer von Ehre eine Selbstverständlichkeit sein dürfte, einem hilflosen Frauenzimmer, welches in unserem Hause Schutz sucht denselbigen auch zu gewähren“, ergänzt Eduard.

Zwar kann ich mich nicht erinnern die beiden um ihren Schutz gebeten zu haben, und als „hilfloses Frauenzimmer“ hat mich noch nie jemand bezeichnet. Aber Eduard Sieveking blinzelt mich derart freundlich an, dass ich mir plötzlich sicher bin, in ihm und seinem Bruder keine verkappten Zuhälter, sadistischen Triebtäter oder Meuchelmörder vor mir zu haben. Dafür sehen die zwei irgendwie zu anständig aus, sogar der grimmige Henry.

Außerdem fühle ich mich plötzlich unendlich müde, als hätte ich einen Jet-Lag nach einer stundenlangen Flugreise aus Übersee. Der Sturz, die Ohnmacht und dann mein kurzzeitiges Aufbäumen gegen diese ganze kafkaeske Situation scheinen meine letzten Energiereserven verbraucht zu haben. Gleichzeitig bin ich vollkommen verwirrt und verunsichert von alledem, was mir hier gerade passiert. Und zu allem Überfluss findet mein Handy nach wie vor nicht die Spur von einem Netz, wie mir ein letzter Blick darauf verrät. Kurzum: ich bin gerade ziemlich aufgeschmissen. Zuletzt habe ich mich als Kind derart ratlos und verloren gefühlt.

„Vielleicht haben Sie recht“, stimme ich also resigniert zu und stecke mein Handy in die Tasche zurück. „Eine Mütze voll Schlaf wäre bestimmt jetzt nicht das Schlechteste.“

Und vielleicht ist dieser Albtraum morgen beim Aufwachen einfach vorbei?

Freitag, 19. August 2016

Mit einem Mal überschlagen sich die Gedanken in seinem Kopf. Mal angenommen, dass er – Alexander Wahle – nicht verrückt ist, sondern dass dies alles tatsächlich so geschieht: woher kommen und gehen diese Personen dann? Und wer oder was bewirkt ihr plötzliches Auftauchen oder Verschwinden?

Er geht erneut zu dem Spiegel, durch den Lena gefallen ist und lässt sich Gregors Bemerkung von vorhin nochmals durch den Kopf gehen: Sollte dieser Spiegel etwas damit zu tun haben, dass Lena so plötzlich fort ist? Immerhin ist es ein besonderer Spiegel, nicht nur wegen seines hohen Preises.

‚Das ist doch verrückt!‘, schaltet sich eine zweite innere Stimme ein. Wie soll ein simpler Spiegel denn einen Menschen verschwinden lassen können?!

‚Ein simpler Spiegel?‘, fragt seine erste Stimme zurück. ‚Ein simpler ganz bestimmt nicht. Aber eventuell dieser hier?! Ein original legendenumwobener Lohrer Spiegel?‘

Alex betrachtet die französische Inschrift auf den beiden Medaillons des Rahmens. „Regardez les temps“, formen seine Lippen nachdenklich und probieren verschiedene Übersetzungen: „Betrachtet die Zeiten. Schauen Sie die Zeiten. Seht euch die Zeiten an… Die Zeit?“ Er hebt zögernd das rechte Bein und steigt damit vorsichtig durch die gesplitterte Spiegelfläche hindurch.

„Was machst du da?“, erkundigt sich Gregor, der das Verhalten seines Freundes verständnislos beobachtet hat.

Alex, der inzwischen unversehrt auf der Rückseite des Spiegels angekommen ist, dreht sich zu ihm um. Auf seinem Gesicht malt sich Enttäuschung ab, als er Gregor durch den Rahmen hinweg ansieht und erklärt: „Ach, ich hatte plötzlich so eine Idee. Aber sie war wohl falsch.“

„Was war das für eine Idee?“

„Nun ja. Du wirst mich wahrscheinlich für verrückt erklären. Aber für einen Moment dachte ich darüber nach, was wäre, wenn man die Inschrift auf dem Spiegelrahmen tatsächlich wörtlich nehmen würde.“

„Regardez les temps - Betrachtet die Zeiten. Was kann man daran anders verstehen, als dass man im Spiegel seinen eigenen körperlichen Verfall beobachten kann, so wie Lena vorhin meinte?“

Vorhin. Gregor lauscht seinen eigenen Worten nach. Ist es tatsächlich erst eine knappe Viertelstunde her, seitdem Lena in den Spiegel gestolpert und dahinter verschwunden ist? Ihm kommt es bereits jetzt wie eine halbe Ewigkeit vor.

Noch immer glaubt er daran, dass es sich hierbei um einen Streich seiner Schwester handelt, dass sie gleich aus irgendeiner Ecke des Ladens hervorkriechen und „April, April“ rufen wird. Obwohl ein solches Verhalten ihr kein bisschen ähnlich sehen und ihn, Gregor, in äußerste Besorgnis versetzen würde. Aber im Moment wäre es ihm lieber sich über die geistige Gesundheit seiner Schwester Gedanken machen zu müssen, als überhaupt nicht zu wissen, wo sie sich derzeit befindet und ob es ihr gut geht.

„Was könnte an ‚Betrachtet die Zeiten‘ wörtlich zu verstehen sein?“, wiederholt er seine Frage und wendet seine Aufmerksamkeit wieder Alex zu. „Verbirgt sich in dem Spiegel etwa eine Uhr?“

„Nein“, Alex schüttelt den Kopf. „Ich dachte in eine ganz andere Richtung. – Wahrscheinlich bin ich darauf gekommen, weil ich neulich in einem ersteigerten alten Reisekoffer ein Buch gefunden habe. Es war eine Erstausgabe von H.G. Wells Roman „Die Zeitmaschine“ aus dem Jahr 1895.“

Normalerweise hätte Gregor durchaus Freude daran zu hören, dass sein Freund mit dem ersteigerten Koffer offenbar einen besonders guten Kauf getätigt hat und ihm die gewiss kostbare Erstausgabe als zusätzliches Geschenk in den Schoß gefallen ist. Unter den gegebenen Umständen aber, interessieren ihn antiquarische Romane von wem auch immer nicht im Geringsten. Dementsprechend entgegnet er ungeduldiger als es sonst der Fall wäre: „Ja, und was ist jetzt damit? Was hat dieses Buch mit dem Spiegel und meiner Schwester zu tun?“

„Das Buch? Na, es geht darin um eine Zeitmaschine. Und als ich mir den Spruch auf dem Spiegelrahmen durch den Kopf gehen ließ, dachte ich eben, dass man sich mit Hilfe des Spiegels vielleicht auch andere Zeiten ansehen kann?“ Alex kratzt sich verlegen am Kopf. Es ist ihm wohl bewusst, dass diese Idee in Gregors Ohren reichlich haarsträubend klingen muss.

„Du meinst, das Ding ist ebenfalls so eine Art Zeitmaschine?“, hakt Gregor nach und kann seine Skepsis nicht verbergen. „Und „Betrachtet die Zeiten“ wäre dann die Aufforderung einfach hindurchzutreten und mit Hilfe des Spiegels die eigene Gegenwart zu verlassen?“

„So in der Art, dachte ich. Ja“, nickt Alex, noch immer ein wenig unsicher. „Aber ganz offensichtlich war der Gedanke falsch, denn wäre meine Idee richtig, dann müsste ich ja jetzt auch irgendwo anders sein, nachdem ich durch den Rahmen gestiegen bin, oder?“

„Nicht unbedingt“, meint Gregor nachdenklich. „immerhin ist der Spiegel jetzt kaputt. Wenn überhaupt, dann funktioniert er doch bestimmt nur, solange seine Scheibe intakt ist?“

„Sehr wahrscheinlich“, nickt Alex, erleichtert darüber, dass Gregor ihn nicht gleich für übergeschnappt erklärt, sondern sich auf den Gedanken zumindest eingelassen hat.

Plötzlich dröhnt das schrille Piepen des Rauchmelders im Büro durch den Laden.

„Mist! Der Nudelauflauf!“, entfährt es Alex. Er eilt, so schnell es in der Enge des Ladens möglich ist, in sein Büro, wo bereits blauschwarzer Rauch aus dem Ofen hervordringt. Hastig reißt er Fenster und Ofentür auf und stellt dann den zu Kohle verbrannten Auflauf auf das Fensterbrett.

Gregor ist ihm gefolgt und wedelt mit einem Küchentuch den beißenden Qualm in Richtung Fensteröffnung, während Alex auf einen Stuhl steigt und dafür sorgt, dass der Rauchmelder endlich Ruhe gibt. Erleichtert über die schlagartige Ruhe, lässt er das Küchentuch sinken und schenkt dann dem schwarzen Auflauf einen finsteren Blick, erscheint ihm dieser doch gerade wie ein Sinnbild für das ganze unübersichtliche Desaster, in das sie da soeben hineingeraten sind.

Auch Alex betrachtet die noch immer dampfende und nach wie vor gefährlich vor sich hin brodelnde Masse. „Also ich weiß ja nicht, wie es dir geht, aber mir hat es gerade jeglichen Appetit verdorben“, meint er trocken.

Gregor antwortet bloß mit einem tiefen Seufzer, der die gesamte Verzweiflung zum Ausdruck bringt, die ihn angesichts des rätselhaften Verschwindens seiner Schwester überfallen hat. „Was mache ich denn jetzt bloß? Was erzähle ich Johannes, wenn er fragt, wo Lena ist?“

„Falsch.“ Alex schüttelt den Kopf, nimmt ihm das Küchentuch aus der Hand und legt es beiseite. Dann umarmt er Gregor fest, bevor er richtigstellt: „Was machen wir?“

Außerhalb der Zeit

Подняться наверх