Читать книгу Außerhalb der Zeit - Marit Schalk - Страница 7
Kapitel 5
ОглавлениеSamstag, 20. August 2016
Lena ist die ganze Nacht hindurch nicht zurückgekommen. Vollkommen übernächtigt sitzt Gregor in Alex‘ Büro hinter dem Antiquitätenladen, während sein Freund vorne im Geschäft eine Kundin berät.
Bis zum Morgengrauen haben die beiden das Internet nach Informationen über die Sprechenden Spiegel aus der Lohrer Manufaktur durchforstet und nach Hinweisen gesucht, ob man mittels der Spiegel wohl durch die Zeit reisen könnte. Aber außer einer ganzen Reihe ziemlich schräger Internetseiten, auf denen Esoteriker und vermeintliche Wissenschaftler ihre zum Teil abstrusen Ideen verbreiten, haben sie nicht viel mehr herausfinden können als sie ohnehin schon wussten, und das ist nicht eben viel.
Alex setzt noch eine Hoffnung auf die Idee, die Geschichte des Spiegels selbst zu rekonstruieren. Er hofft, wenn sie herausfinden könnten, für wen genau der Spiegel ursprünglich einmal gefertigt und an wen er verkauft wurde, könnten sie daraus schließen, was Lena möglicherweise geschehen ist und wie man ihr vielleicht helfen kann. Dafür will er im Laufe des Tages den Vorbesitzer kontaktieren, von dem er den Spiegel erworben hat. Vielleicht weiß dieser ja bereits etwas mehr. In seinem Eifer hat er sogar kurzzeitig erwogen, den Antiquitätenladen heute komplett dicht zu machen, um mehr Zeit für die Nachforschungen zu haben.
Aber dieser Idee hat Gregor energisch widersprochen: „Das wirst du auf gar keinen Fall tun! Schließlich weiß ich, dass gerade am Samstag die meiste Kundschaft kommt und du die besten Geschäfte machst. Was soll es außerdem bringen, wenn wir beide hier sitzen und Trübsal blasen? Es genügt doch schon, dass ich alle meine Termine für heute abgesagt habe.“
Anstatt reiche Leute zu fotografieren, sitzt er vor einer großen Sperrholzplatte, die mit dunkelgrünem Samt bezogen ist und Alex‘ gesamten Schreibtisch bedeckt. Darauf liegen sämtliche Spiegelscherben, die er hinten im Laden hat finden können. Sogar fast mikroskopisch kleine Splitter hat er heute Morgen mithilfe einer Pinzette aus den Fugen der Wandvertäfelung gefischt und hier im Büro sichergestellt. Jetzt sitzt er davor und versucht sich daran die Spiegelscheibe möglichst lückenlos wieder zusammenzusetzen. Eine wahre Sisyphusarbeit. Trotzdem gibt er nicht auf, denn obwohl er sich bewusst ist, dass dieser Gedanke wahrscheinlich vollkommen irrational ist, hat er sich daran festgebissen, dass er Lena vielleicht damit zurückholen kann, wenn er den Spiegel so originalgetreu wie es eben geht wiederherstellt.
Und selbst, wenn diese Arbeit nichts bringt und seine Schwester weiterhin verschollen bleibt, ist seine Mühe nicht umsonst, tröstet er sich. Zumindest gibt es ihm dann selbst das Gefühl, seinen Teil dazu beizutragen, um den Schaden an Alex‘ sündhaft teurem Spiegel wieder gutzumachen.
*
Ich gehe die Deichstraße hinunter in Richtung Hafen und bin versucht, mir die Augen zu reiben. Es gibt keine Autos mehr, nur Pferdefuhrwerke wie dasjenige, das gerade eben vor dem Haus der Sievekings stand.
Auf der Straße sind viele Fußgänger unterwegs. Meist Männer in Arbeitskleidung, so wie ich sie gerade trage. Dazwischen aber auch vereinzelt vornehmer gekleidete, die sich mit ihren Zylindern und Fräcken deutlich von den übrigen unterscheiden.
Ein junges Mädchen mit einem Einkaufskorb kommt mir entgegen. Sie trägt ein langes Kleid mit einer Schürze darüber und eine Art Haube auf dem Kopf und mustert mich neugierig.
Unwillkürlich senke ich den Kopf und ziehe die Mütze tiefer ins Gesicht.
Ich erreiche das untere Ende der Deichstraße, wo der Binnenhafen liegt und dahinter der Überseehafen. Jedenfalls ist es das, was ich erwarte, als ich um die Ecke biege und dann abrupt stehenbleibe, um einen ungläubigen Ausruf auszustoßen. Vor meinen Augen befindet sich der Hafen, ohne Zweifel. Aber es ist nicht der Hafen, den ich erwartet habe, denn vor mir erblicke ich mit einem Mal ein ganzes Meer von Segelschiffen.
Wunderschöne Schiffe! Zweimaster, Dreimaster, Viermaster… Segelschiffe wo man nur hinblickt. Ein ganzer Wald aus Masten und Rahen, wie ich sie nie zuvor in einer solchen Fülle erblickt habe.
Ich sehe und staune. Nicht einmal beim Hafengeburtstag bekommt man bei uns in Hamburg noch eine derart große Zahl an historischen Schiffen zu sehen. Aber: das hier ist doch Hamburg?!
Fassungslos lasse ich mich auf einen eisernen Poller sinken. Meine Knie sind auf einmal weich wie Pudding, als mir klar wird, dass ich mir nicht mehr länger etwas vormachen kann. Im Grunde genommen ahne ich es bereits seit meiner unsanften Ankunft gestern Abend im Haus der Sievekings – diesem Haus ohne Strom, ohne fließend Wasser… Aber ich wollte es partout nicht wahrhaben. Wollte einfach nicht glauben, was doch gar nicht sein kann!
Der Anblick all dieser Segler im Hafen zwingt mich jedoch nun, mich endlich den Tatsachen zu stellen: Ich bin in einer anderen Zeit.
Mir schwindelt bei dem Gedanken, und einen Moment lang fürchte ich ohnmächtig zu werden. Aber ich reiße mich zusammen. Auf keinen Fall will ich in diesem lebenden Museum die Kontrolle über mich selbst verlieren. Wer weiß denn, was die hier mit einer bewusstlosen Person machen? In die Elbe werfen? Teeren und Federn? Von stabiler Seitenlage hat hier jedenfalls bestimmt noch nie jemand etwas gehört.
„Also ruhig, Lena! Keine Panik! Alles wird gut. Ganz bestimmt.“ So rede ich leise flüsternd auf mich ein, während ich gleichzeitig versuche, möglichst tief und regelmäßig zu atmen, um meinen beschleunigten Herzschlag zu beruhigen.
Samstag 20. August 2016
Gregor legt sein Handy zur Seite, lässt sich erleichtert in Alex‘ Schreibtischstuhl zurückfallen und sieht seinen Freund an, der im Türrahmen seines Büros steht. „Puh. Johannes scheint es geschluckt zu haben.“
„Was genau hast du ihm erzählt?“, erkundigt dieser sich.
„Ich habe gesagt, dass es Lena wieder besser geht und dass sie beschlossen hat, auch den Rest des Wochenendes noch mit uns zu verbringen. Ich habe behauptet, wir planen für morgen einen Ausflug nach Helgoland, und sie will unbedingt mit.“
„Nach Helgoland?“, grinst Alex. „Auf sowas wie früher diese Butterfahrten für Omis, oder was?“
„Aber ja! Weißt du denn nicht, dass du starker Raucher bist und dich regelmäßig auf Helgoland mit zollfreien Zigaretten eindeckst?“, grinst Gregor zurück. Es ist das erste Mal seit Lenas Verschwinden, dass er ein Lächeln zustande bringt.
„Nein, das wusste ich bisher nicht.“ Alex schüttelt den Kopf. „Also muss ich Johannes gegenüber den Kettenraucher mimen, sollten wir uns einmal persönlich begegnen?“
„Sieht mal so aus“, bestätigt Gregor.
„Und dass Lena mitfährt, hat ihn kein bisschen erstaunt?“, wundert sich Alex. „Und er wollte auch überhaupt nicht mit ihr sprechen?“
„Er war schon wieder auf dem halben Weg zur Arbeit. Am Wochenende spielt er meistens zwei Vorstellungen.“ Gregor zuckt mit den Achseln. Johannes‘ Desinteresse verwundert ihn nicht übermäßig, hat er doch schon seit ein paar Monaten das Gefühl, dass es zwischen Lena und Johannes nicht mehr so läuft wie früher. Die einzige, die das nicht zu bemerken scheint ist Lena. Aber auch dies erstaunt ihn nicht, hat seine Schwester doch einen manchmal fatalen Hang dazu, sich unangenehmen Situationen entweder zu entziehen oder sich selber einzureden, alles sei gut. Sie ist eine wahre Meisterin der Selbsttäuschung – was ihr nicht immer guttut. Er nimmt sich vor, sie bei nächster Gelegenheit einmal beiseite zu nehmen und mit ihr ein Gespräch über Paar-Beziehungen im Allgemeinen und Johannes und sie im Speziellen zu führen. Es stellt sich allerdings die Frage, wann diese nächste Gelegenheit kommen wird. Im Moment scheint sie irgendwo weit, weit fort zu sein. So unerreichbar sogar, als sei sie für immer gegangen. Panisch schiebt er diesen Gedanken von sich.
„Na gut. Hauptsache, wir haben erst mal wieder Zeit gewonnen“, reißt Alex ihn aus seinen düsteren Gedanken und deutet mit dem Kinn auf das Scherbenpuzzle auf seinem Schreibtisch. „Und? Wie läuft es damit?“
Gregor stöhnt auf. „Frag lieber nicht!“