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Kapitel 8

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27. Juli 2011

Auf der Fahrt zum Cafe ließ Kurt Erinnerungen an die Zeit mit Susanne vorbeiziehen. Sie hatten sich während morgendlicher U-Bahnfahrten kennengelernt. Auch die Wurzeln seiner Medienkarriere lagen in der U-Bahn.

Kurt überlegte, an welcher Stelle sich der Wandel in seinem Leben vollzogen hatte. Als Antwort fand er den Jahreswechsel 1985 /1986.

In der damaligen Zeit hatte Kurt die Angewohnheit, seine Mitmenschen genauer zu beobachten, sei´s im Cafe oder in der U-Bahn. Wie lebt dieser Mensch, was wird er heute machen, was beschäftigt ihn und was ist das Wichtigste für ihn in seinem Leben?

Derartige Gedanken schossen ihm täglich durch den Kopf. Seine Phantasien zu diesen Menschen hielt er in einem kleinen Notizbuch fest. Gedankenketten, die ihm nachgingen, schrieb er auf Karteikarten und heftete diese an verschiedene Stellen seiner Wohnung. Neben Küchenschränken, Spiegeln, Tischplatten musste auch der Toilettendeckel als Haftgrund herhalten. Dem Urinieren ging dadurch ein philosophischer Exkurs voraus.

In den morgendlichen dicht gedrängten Waggons fragte er sich, ob die Berufstätigkeit die Mitfahrer erfüllen würde.

Viele sehnen sich nach einer anderen Stelle. Und wie viele von den Fahrgästen, die genau diese Stelle innehaben, brennen darauf diese Stelle zu verlassen? Der eine ist scharf auf das, was der andere loswerden will – Verrückte Welt!

Nachmittags fragte er sich häufig, ob sein U-Bahn-Gegenüber sich auf den Feierabend freue. Fährt er in einen erfüllten Abend oder füllt er die innere Leere mit der monotonen Vielfalt seines Fernsehers, ehe die Müdigkeit ihn in den Schlaf schickt? Schließt ihn jemand in den Arm oder nimmt der Zynismus des Lebens ihn täglich auf denselbigen?

Philosophische Gedanken in ratternden Zügen.

In der Zeit von Weihnachten bis Silvester 1985 las Kurt seine Aufzeichnungen durch.

Täglich hatte er sich die vermeintliche Welt seiner Mitfahrer ausgemalt, ohne sie zu kennen und so fasste er an Silvester den Entschluss, seine Hypothesen im neuen Jahr auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen.

Am ersten Arbeitstag im neuen Jahr kochte Kurt einen Espresso auf dem Gasherd, schaufelte langsam sein Müsli in sich rein und stand um halb neun am U-Bahnhof Lattenkamp.

Zweifelnd hinterfragte er, ob er wirklich dieser in einer spontanen Silvester-Laune entstandenen Idee nachgehen solle. Kurt fürchtete sich zu blamieren, wenn er einen Mitfahrer anspräche. Auf der anderen Seite konnte er nichts verlieren: Zehn Minuten dauert eine Fahrt bis zur Station Stephansplatz; dann könnte er der Peinlichkeit entfliehen. Unklar war ihm, ob er eine konkrete Frage zum Alltag stellen oder ein philosophisches Thema ansprechen solle? Mit schwirrendem Schädel nahm Kurt auf einen freien Platz in der U-Bahn Platz, verfluchte seinen Vorsatz fürs neue Jahr und beobachtete den Mann, der ihm Zeitung lesend gegenüber saß.

Und dann in dem Moment, als der Mann seine Zeitung umblättert und Kurt das Horoskop sah, rutschten die Worte aus ihm heraus: „Entschuldigen Sie, dass ich Sie anspreche; aber angesichts dessen, dass heute der erste Werktag im Neuen Jahr ist und ich gerade das Horoskop in ihrer Zeitung sehe, gestatten Sie mir eine Frage: Wird dieses Jahr ein gutes oder ein schlechtes?“

Er erschrak selber über seine Courage und sein Herz hämmerte kräftig gegen den Brustkorb.

Der Mann senkte erst seine Zeitung, dann den Blick. Schließlich fixierte er über das Gestell seiner Lesebrille hinweg Kurt, schwieg einige Sekunden und sagte mit

sonorer Stimme:

„Was soll dieses Jahr anders sein als letztes? Wie in den Jahren zuvor fahre ich in der Bahn, lese wie eh und je die gleiche Tageszeitung. In dreißig Minuten sehe ich im Büro die bekannten Gesichter. Ich werde die gleichen Arbeiten wie in den Vorjahren erledigen und meine Vorgesetzten werden neue Ideen kreieren. Ihre Frage ist falsch formuliert: Es wird kein gutes oder schlechtes Jahr – nein, es wird wie immer.“

Mit diesen Worten hob er die Tageszeitung und verschwand hinter dem Horoskop.

Kurt staunte über seinen eigenen Mut und die nüchterne Analyse seines Gegenübers. Zufrieden klang diese nicht, aber auch nicht resigniert.

So begann das Jahr für Kurt mit einer kurzen, realistischen Beschreibung aus dem Leben eines Büro-Märtyrer.

Als er im Cafe „zeitlos“ ankam, fragte Charlotte, ob er gut ins Neue Jahr gekommen sei.

Silvester war okay, meinte er; lediglich das Fest der Liebe mit allen neurotischen Familienmitgliedern hatte wie jedes Jahr groteske Züge gehabt.

Charlotte erzählte, dass sich was Neues überlegt habe.

Oh ha, dachte Kurt, noch eine mit Vorsätzen fürs Neue Jahr.

Sie habe in einem Bericht gelesen, dass die New Yorker ganz scharf auf ein Gebäck namens Bagels seien. Man kann es mit Käse, Lachs, Schinken – eigentlich allem versehen. Charlotte behauptete, dass Croques und Baguettes bald überholt seien.

Oh ha, dachte Kurt zum zweiten Mal in diesem Gespräch.

Sie hatte sich bereits Rezepte besorgt und sich mir ihrem Haus- und Hofbäcker zum Probebacken verabredet.

Auch wenn ihm die neue Idee befremdlich vorkam, schätzte Kurt Charlotte als Geschäftsfrau. Sie war eine der ersten, die ein Cafe im Univiertel eröffnet hatte, das verschiedenste Kaffeevarianten anbot. Eine weitere Erfindung von ihr war die „Kulturnacht“. Das waren Abende, an der sie ihr Kaffee für Literatur- und Musikveranstaltungen öffnete. Auch Kurt und seinen Kabarettfreunden hatte Charlotte das Cafe schon für Auftritte zur Verfügung gestellt.

Letztendlich war sie eine gute Seele, die innovativ genug war, um in der schnelllebigen Studentengastronomie immer auf Höhe des Balls zu bleiben und nicht ins Abseits zu laufen.

Lediglich in der Liebe war die Abseitsfahne regelmäßig oben. Männer überrannte sie mit ihrer dynamischen Aktivität in Handeln und Reden, so dass diese sich schnell den Zweikämpfen entzogen und sich auf dem Spielfeld L´amour auswechseln ließen. Nur eine männliche Beziehung hielt lang, die zu Sir Toby - ihrem Golden Retriever.

Beflügelt durch seine morgendliche Erfahrung stellte Kurt auf dem Heimweg seinem Sitznachbarn in der U-Bahn die gleiche Frage wie auf der Hinfahrt. Doch statt einer differenzierten Antwort tönte ihm nur ein „Willst du mich verarschen? Lass mich in Ruh!“ entgegen.

Zu dieser Zeit traf sich Kurt häufig abends mit seiner Kabarettgruppe „Die Beißer“ bei Thies, um am neuen Programm weiterzuarbeiten.

In Thies kleinem Kapitänshaus am Oevelgönner Ufer, das er von seiner Großmutter geerbt hatte, lüfteten sie Bierflaschen, durchstöberten Zeitungen der letzten Wochen auf der Suche nach knackigen Schlagzeilen als Ansatzpunkt für ihr neues Programm.

Sei es, ob sich die erste rot-grüne Koalition in der BRD auf Landesebene gebildet hatte - mit einem Ministerpräsidenten in konservativen Anzug und einem Turnschuh tragenden Umweltminister auf der anderen Seite oder ob Großbritannien aus der UNESCO austrat und sich auf diesem Weg von Erziehung, Wissenschaft und Kultur verabschiedete. Der erste Privatsender ging auf Sendung und leitete den kulturellen Niedergang des Fernsehabendlandes ein. In Österreich wurde Prädikatswein mit Frostschutzmittel gesundheitsgefährdend veredelt. Musikmagazinen wurden durchstöbert. Beim Blick der Charts überkam sie eisiges Frösteln: Ein Brite mit Brillentick, ein eunuchenhaft singendes, angeblich modern talkendes Duo und einige andere Pop-Sternchen waren die Topseller. Daniel behauptete, dass Österreichischer Wein wohl die einzige Möglichkeit wäre, diese Schallplatten-Kakophonie zu ertragen.

Diese aktuellen Ereignisse boten genügend Fauxpas, politische Banalitäten und Plattitüden, um fortlaufend ihr Programm den real-existierenden politischen Verhältnissen anzupassen.

Als Kurt voll mit diesen Erinnerungen sich dem Cafe „zeitlos“ näherte, sah er schon von Weitem Helenas blondes Haar in der Sonne leuchten.

Kurt stoppte am Bürgersteig und lächelte Helena an: „Hallo, auf zur Elbe.“

Mit einem „Wunderbar“ schwang sich Helena auf den Beifahrersitz.

„Sie sehen gestresst aus.“

„Die letzten zwei Tage hatten es sich in sich. Einer meiner Chefredakteure hat medial über die Strenge geschlagen und die Schläge bekomme ich gerade ab. Aber lassen Sie uns das Thema wechseln. Wie haben Sie die Tage seit unserem letzten Treffen verbracht?“

Während Kurt den Wagen durch den Stadtverkehr in Richtung des Oevelgönner Hafen lenkte, erzählte Helena von Ausstellungen, die sie in Museen besucht hatte.

Vom Hafen gingen sie flussabwärts. Ein warmer Südwestwind trug den mit schwerölgetränkten Geschmack des Hafens zu ihnen. Am Museumshafen blieben sie einige Minuten stehen, labten sich am Anblick der alten Holzsegelschiffe und ließen den Blick über die glitzernde Wasserfläche der Elbe bis zu den Containerterminal auf der anderen Uferseite streifen.

„Was halten Sie davon, wenn wir ein wenig am Strand spazieren gehen und uns an der guten alten Strandperle in den Sand setzen?“ schlug Kurt vor.

Nickend fragte Helena ihn: „Meine Mutter erwähnte, dass Sie beide dieses früher öfters gemacht hatten. Auch erzählte sie mir, dass sowohl ihre Beziehung als auch Ihre Fernsehkarriere in der U-Bahn begonnen haben. Wie kommt man von der U-Bahn ins Fernsehen?“

Kurt erzählte ihr kurz von seinem Vorsatz, den er an Silvester 1985 gefasst hatte und dass er sich angewöhnt hatte, Mitfahrern in der Bahn Fragen zu stellen.

„Was für Fragen haben Sie den Menschen gestellt?“

„Anfangs habe ich mich erkundigt, was die Menschen von dem Neuen Jahr erwarten.“

„Und kamen immer die gleichen Antworten?“

„Keinesfalls. Einige Personen lehnten schroff eine Beantwortung ab oder schwiegen gänzlich. Aber viele antworten freizügig und angesichts des ungewöhnlichen Szenarios auch ganz nachdenklich. Manche Dinge entsprachen dem Klischee: HSV-Fans träumten von der Meisterschaft, St. Pauli-Fans vom Aufstieg in die zweite Liga. Zur damaligen Zeit war das zentrale politische Thema in Hamburg die Hausbesetzung in der Hafenstraße. Viele junge Menschen sympathisierten mit den Hausbesetzern, während viele andere meinten, man möge mit dem Gesindel endlich aufräumen. Als es im April zur Kernschmelze im Atomkraftwerk Tschernobyl kam, war die Stimmung eine Zeitlang sehr bedrückt. Die Sorge um die eigene Gesundheit stand im Mittelpunkt und diese nicht sicht- und spürbare, aber dennoch reale Bedrohung durch radioaktive Strahlen verunsicherte die Menschen sehr. Fußball und andere Alltäglichkeiten rückten für einige Wochen in den Hintergrund. Allerdings zeigte sich bald, wie schnell der Mensch Dinge verdrängt und sich wieder seinem Alltag zuwendet.“

„Was für Fragen haben Sie noch den Menschen gestellt?“

„Wenn ich provozieren wollte, stellte ich politische Fragen. Da ein befreundeter Kommilitone von mir zu den Hausbesetzern in der Hafenstraße gehörte, beschäftigte mich dieser Konflikt sehr und ich interviewte daher einige Wochen lang die Fahrgäste, welche Vorschläge sie zur Lösung des Konfliktes hätten. Diese reichten von Revolution bis zur Vergasung, was mich angesichts der deutschen Geschichte sehr erschreckte. Anderseits konnten wir diese Ideen gut in unserem Kabarettprogramm ausbreiten und somit die hanseatische Gesellschaft scharf karikieren.

Schließlich ging ich dazu über philosophische Fragen, nach Zufriedenheit, Glück und Sinn des Lebens zu stellen.“

„Auf welche Ihrer Fragestellung gab es die interessantesten Antworten?“

Kurt überlegte kurz „Wenn Sie Ihr Leben noch mal von vorne starten können, was würden Sie anders machen?“

Helena hatte ihre weißen Sandalen abgestreift, trug diese am Riemchen in der linken Hand, derweil ihre Füße den warmen Sand genossen. Während die Sonne von einem strahlend blauen Himmel auf die beiden hinablächelte und Hafenfähren das Fahrwasser durchkämmten, sinnierte Helena über Kurts Worte. Schließlich blieb sie stehen und wand sich ihm zu: „Welche Antworten erhielten Sie von den Menschen auf diese Frage?“

„Sehr unterschiedliche. Ich glaube, mit dieser Fragestellung dringt man in die Tiefen eines Menschen ein. Einige schwiegen, wirkten aber nachdenklich. Andere teilten mir mit, dass das mich gar nichts anginge. Viele erzählten, dass sie sich mehr in der Schule oder Ausbildung anstrengen würden oder einen anderen Beruf wählen würden.

Einige äußerten, dass sie ihre Kinder anders erziehen würden. Häufig wurden auch gescheiterte Beziehungen genannt. Beeindruckend fand ich, als mir jemand sagte, dass er sein Leben noch mal genauso gestalten würde.“

Beide gingen eine zeitlang schweigend durch den Strand.

„Gab es auch Situationen, die Sie besonders berührten?“ wollte Helena wissen.

„Da gab es einige sehr persönliche Momente. Bei einer meiner ersten Begegnungen schilderte mir eine Frau einige Kriegserlebnisse. Ihr Mann war Halbjude. Er wurde von der Gestapo ins Konzentrationslager deportiert und er starb zwei Wochen vor Kriegsende dort. Sie wiederholte mehrfach, warum hat Deutschland nicht am 24.April kapituliert? Dann würde mein Mann noch leben. Mich schockierte, dass weniger der Tod ihres Mannes diese Frau beschäftigte, sondern dass die Verzweiflung über die vierzehntägige Verspätung der Kapitulation im Fokus stand. Sie haderte weniger mit den Gräueltaten des Naziregimes als vielmehr mit dem unpünktlichen Sieg der Alliierten.“

Gedankenverloren stapften beide durch den Sand. Schließlich hakte Helena nach. „In Ihren Beispielen beschreiben Sie Situationen, in den Menschen in ihre Vergangenheit zurückschauen. Gab es auch Momente, in denen Personen mit aktuellen Problemen zu kämpfen hatten?“

Kurt überlegte eine Weile. „In Erinnerung geblieben sind mir die Worte eines Mannes, der angesichts einer unheilbaren Krebserkrankung äußerte: ´Was soll die Frage nach Glück oder was ich in meinem Leben ändern möchte. Ich und meine Familie müssen gerade lernen mit dem unabwendbaren Schicksal klarzukommen. Das Zepter liegt nicht mehr in meiner Hand. Ändern möchte ich viel, aber es steht nicht in meiner Macht.´

Finden Sie es nicht auch verrückt, dass man manche Sätze noch nach mehr als zwei Jahrzehnten wortwörtlich wiedergeben kann?“

Helena wirkte Gedanken verloren und zuckte kurz bei Kurts letzten Worten.

Kurt führte seine Gedanken fort: „Im Nachhinein waren mir diese Momente unangenehm. Rückblickend entwickelte ich Scham angesichts dessen, dass ich unbekannten Menschen sehr nahe getreten bin. Noch heute überrascht mich wie persönlich diese Antworten waren und, dass ich wagte, Fragen zu stellen, die tief in die Privatsphäre eingreifen.“

„Aber sie tun dieses doch immer noch – allerdings in einer progressiveren Weise. Wie Sie mir bei unserem ersten Treffen erzählten, sind Sie doch verantwortlich für Sendeformate, die genau das tun. Sie entblößen die Schicksale von Menschen vor der Fernsehnation, die sich dann an diesen Schicksalen ergötzt. Von daher forcieren Sie doch Voyeurismus.“

Also doch, dachte Kurt, die Amazone ist in den Sattel gestiegen und kämpft wieder. Dass Helena keine Begeisterung fürs Privatfernsehen entwickeln würde, realisierte Kurt bereits in ihrer ersten Begegnung. Ob dieses aber die Ursache für ihre Wortgefechte war, konnte er nicht analysieren. Vielleicht führte sie stellvertretend für Susanne eine Auseinandersetzung. In diesem Fall konnte Kurt aber nicht erkennen, welche Rechnung Susanne mit ihm noch begleichen wollte und welchen Part Helena dabei spielen sollte.

Als ob nichts gewesen sei, schlug Kurt vor, dass sie umdrehen und an der Strandperle etwas trinken könnten. Kopf nickend stimmte Helena zu und sie gingen einige Minuten stumm nebeneinander her. Um die angespannte Sprachlosigkeit zwischen ihnen zu überbrücken, zeigte Kurt auf ein Gebäude. „In dem kleinen Kapitänshaus mit den blauen Fenstern wohnte Thies. Häufig traf sich unsere Kabarettgruppe bei ihm.“

„Wohnt er nicht mehr in dem Haus?“

„Kann schon sein. Thies hatte dieses Haus von seiner Großmutter ja geerbt. Allerdings ist der Kontakt zwischen Kurt und mir vor langer Zeit abgebrochen.“

„Wie kam es dazu?“

„Ich glaube, Thies hatte Probleme damit, dass ich als einziger aus unserer Kabaretttruppe Erfolg in den Medien hatte.“

Nach einer Phase des Schweigens hakte Helena nach: „Meine Mutter erzählte mir, dass Sie zu der Zeit, als Sie Susanne kennen lernten, vom Fernsehen entdeckt wurden.“

„Ja, manchmal übernimmt der Zufall die Regie im Leben. Auf einer meiner Bahnfahrten interviewte ich einen Mann. Er trug einen modischen anthrazitfarbenen Anzug mit italienischen Schnitt und braune Schuhe. Lustlos durchblätterte er ein Kulturjournal. Folglich fragte ich ihn, ob er nicht auch der Meinung sei, dass Kultur heutzutage eine langweilige, künstlerische Berieselung sei, die die Menschheit in den Mantel der Ahnungslosigkeit einlulle. Irritiert schaute er mich an und auf seinen Wunsch hin wiederholte ich meine Aussage. Ein interessanter Gedanke, meinte er, wie ich darauf käme.

Ich äußerte, dass ich noch nie jemanden gesehen habe, der so gelangweilt ein Kulturmagazin durchstöbert habe. Wenn er eine Autozeitung oder ein Sportjournal so überflogen hätten, wäre es mir nicht aufgefallen.

Er erwiderte, dass meine These zur kulturellen Langweile, die den Bürger narkotisiert, zum Nachdenken anrege. Wenn er an einige der neu angelaufenen Kinofilme denke, in denen geballert wird, reichlich Blut fließt und der Plot keinen tiefgängigen Faden hat, könne er mir nur zustimmen.

Er ergänzte, dass das Privatfernsehen zwar mehr Vielfalt aber nicht mehr Qualität dem Publikum offerieren würde. Erschreckend fand er, dass die Menschen der seichten Unterhaltung den Vorzug vor solider Medieninformation gaben.

So war sein Fazit. Ich fragte ihn, wie eine kulturelle Revolution aussähe, wenn er die Möglichkeit hätte, diese anzuzetteln.

Er lachte und meinte, solche Fragen habe ihm noch keiner gestellt.

Feixend äußerte er, dass man die Menschen mit der Beeinflussung durch das Fernsehen konfrontieren müsste. Man könnte zwei Folgen einer billigen, amerikanischen Serien nehmen und jeden Abend dreimal wiederholen und das von Montag bis Freitag. Im Untertitel würde eine Endlosschlaufe durch das Bild laufen, mit den Worten: Achtung - Permanente Volksverdummung durch Ihre Glotze!

Der Mann redete voller Begeisterung von dieser Idee. Bevor er an der Haltestelle Jungfernstieg umstieg, dankte er mir und meinte diese Gedanken müsse er weiterverfolgen.

Zwei Wochen später nahm dieser Mann, ohne dass ich ihn bewusst wahrnahm, neben mir in der U-Bahn Platz. Erst als er mich ansprach, erkannte ich ihn.

In dieser Bahnfahrt erlebte ich zum ersten Mal selbst die Rolle des Interviewten. Der Mann erzählte mir, dass er nach unserer ersten Begegnung häufiger in der U-Bahn beobachte habe, wie ich andere Fahrgäste in Gespräche verwickelte. Ihn interessierten meine Motive. Ich erzählte ihm von meiner Ursprungsidee und dass ich auf diese Weise mein anthropologisches Interesse füttere. Vielleicht werde ich mal ein Buch über meine Bahnerlebnisse schreiben, aber die eigentliche Triebfeder liegt in meiner Faszination für das Wesen Mensch.

Dann seien wir ja Seelenverwandte, meinte er. Als er das große Fragezeichen in meinem Gesichtsausdruck sah, ergänzte er, dass ihn Menschen, die etwas Ungewöhnliches tun, denken oder unternommen haben, beruflich interessieren.

Nun stellte er sich als namentlich als Hermann Möller vor. Er sei Chefredakteur der Talkshow "Menschen im Norden". Gerne würde er mich in eine der nächsten Sendungen einladen. Irritiert fragte ich, was denn an mir so besonders sei, dass ich in eine Talkshow des öffentlichen Fernsehens eingeladen werde?

Erstens sei ich kein Prominenter; dieses sei ein Ausschlusskriterium für die Teilnahme an der Sendung. Allerdings sei auffällig, dass – so wie er es bisher wahrgenommen habe – ich der einzige Mensch sei, der unbekannten Mitfahrern ungewöhnliche Fragen stelle und dieser letzte Punkt sei es, weswegen er denke, dass ich als Gast in der Talkshow genau richtig sei. Für das Fernsehpublikum ist doch spannend zu erfahren, welche Fragen ich stelle und welche Antworten ich erhalte.

Acht Wochen später saß ich schließlich in einem Hamburger Fernsehstudio.“

„Wie verlief die Sendung?“, hakte Helena nach.

„Glücklicherweise handelte es sich um eine Aufzeichnung, ansonsten wäre ich vor Lampenfieber im Boden versunken. Das Gespräch verlief so wie meine Interviews in der U-Bahn, nur dass ich dieses Mal die Rolle des Befragten innehatte. Ich erzählte von meinen Beweggründen und einzelnen Begegnungen mit Menschen und deren Schicksal. Ehe ich mich versah, war das Gespräch beendet.“

Nach einer kurzen Redepause schob Kurt Gedanken versunken nach: „Eigentümlich, jetzt erlebe ich ein Déjà-vu: Das Gespräch, das wir beiden in den letzten 15 Minuten geführt haben, verlief im Grunde genauso wie das damalige Fernsehinterview. Sie forderten mich auf, von besonderen Begebenheiten aus der U-Bahn zu erzählen und ich schilderte einzelne Erlebnisse. Manche Dinge wiederholen sich im Leben, ohne dass man es im ersten Moment wahrnimmt.“

Während sie schweigend durch den Sand staksten, schien jeder in seiner eigenen Gedankenwelt versunken zu sein. Helena tauchte als erstes wieder auf. „Wie ging es dann weiter?“

„Es entstand ein kleiner Medienrummel um mich: Eine Tageszeitung veröffentlichte ein Interview mit dem Typen, der andere in der U-Bahn nach ihrem Leben befragt. Eine kleine Reportage wurde über mich gedreht, die in zwei anderen Bundesländern im dritten Programm gezeigt wurden. Ein Privatsender brachte einen Kurzbericht über mich in einem täglich laufenden Magazin. Kurze Zeit später rief mich der Chefredakteur Herr Möller nochmals an und teilte mir mit, dass sie ungewöhnlich viele positive Zuschriften zu der Sendung, an der ich teilgenommen hatte, erhalten hätten. Sie wollten mich daher noch einmal einladen.“

„Und dann wurden Sie zum Star, oder?!“ analysierte Helena mit einem leichten Schmunzeln. Da ihre Augen dabei freundlich lächelten, nahm Kurt die Äußerung auf die humorvolle Art.

„Genau! Na ja – nicht sofort. Allerdings legte ich unbewusst beim zweiten Besuch der Talkshow den Grundstein für meine Fernsehkarriere.“

„Auf die Geschichte bin ich jetzt wirklich gespannt.“

„Der Moderator namens Schmitt fragte mich nach meinen Erfahrungen seit der letzten Sendung. Ich schilderte meine gänzlich neuen Erlebnisse mit der Medienwelt. Ich beschrieb meine Wahrnehmungen und fragte den Moderator wie er als Insider sein Arbeitsumfeld erlebe. Rückblickend kann ich nur feststellen, dass in diesem Moment weder der Moderator noch ich bemerkten, dass das Gespräch sich um 180 Grad drehte. Nachdem ich circa zehn Minuten lang ihn interviewte hatte, wurde mir plötzlich die Paradoxie der Situation deutlich und ich beendete das Gespräch mit einem Satz, der blasses Entsetzen in das Gesicht des Moderators beförderte und das Publikum im Studio zum Kochen brachte.“

Erwartungsvoll schaute Helena Kurt an: „Jetzt spannen Sie mich nicht auf die Folter. Verraten Sie mir den Satz!“

„Vielen Dank, Herr Schmitt, das waren sehr interessante Einblicke, die Sie uns in die Fernsehwelt gewährt haben. Ich danke Ihnen für das Gespräch und schlage vor, dass ich mich jetzt zurückziehe.“

„Wahrscheinlich war Herr Schmitt angesichts Ihres arroganten Auftritts nicht begeistert.“, mutmaßte Helena, „wie ging die Geschichte weiter?“

Während er ihr den weiteren Verlauf schilderte, merkte Kurt erst verspätet, wie ihn die ihm von ihr unterstellte Arroganz verärgerte.

„Nach der Show sprach ich noch mit dem Moderator und dem Chefredakteur Möller. Während Herr Schmitt noch versuchte den Verlauf unseres Interviews zu analysieren, meinte Herr Möller, ich hätte eine bemerkenswerte Gabe, Menschen im Dialog Sicherheit zu vermitteln, so dass sie tiefe Einblicke in ihr Denken und Empfinden gewähren.“

„Lassen Sie mich raten: Daraufhin hat er Ihnen eine eigene Sendung angeboten?“

Mit zynischem Unterton erwiderte Kurt. „Wie weise Sie doch sind. Nicht sofort, aber ein paar Wochen später kam das Angebot.“

Helena merkte seinen Verdruss und lenkte daher den Blick auf seine ersten Schritte als Moderator. „Wenn Sie vorher ungezwungen Menschen in der U-Bahn befragt haben, wie kamen Sie mit der Rolle des Interviewers im Fernsehen klar? Ich stelle mir das schwer vor, da zum einen die Spontaneität nicht mehr vorhanden ist und zum anderen das Gegenüber schon eine Ahnung hat, worüber er befragt wird?“

„Das war nicht leicht. Bei der Konzeption der Sendung haben wir diese Argumente lange hin- und hergewälzt. Damit ich Sicherheit verspüre, stellten wir die Situation in der U-Bahn nach. Dazu wurde ein U-Bahnwagon nachgebaut und in der Mitte durchgeschnitten. Ich hatte jeden Monat eine Sendung und interviewte normale Bürger. Nachdem ich anfangs mit Gästen über deren Berufe, Hobbys und Essgewohnheiten plauderte, wurde ich im Laufe der Zeit mutiger. Themen waren zum Beispiel die Familienverhältnisse und andere persönliche Sachen.“

„Wiederholten sich nicht die Fragenkomplexe und wurde die Sendung auf Dauer nicht abgestumpft?“ fragte Helena mit interessierter Stimme.

„Die Gefahr bestand. Ich griff daher auf mein kabarettistisches Talent zurück und hinterfragte meine Gäste zunehmend in humoristischer und manchmal auch sarkastischer Art.“

„Ihr Erfolg wuchs folglich aus dem Gesichtsverlust anderer“, konstatierte Helena.

„Nein, ich glaube nicht, dass ich jemals mein Gegenüber unter der Gürtellinie traf!“ stellte Kurt mit schnittiger Stimme klar und verstummte.

Helena realisierte, dass sie sich verbal gerade in der Nähe des Hosenbundes bewegte. „Entschuldigen Sie. Meine Wortwahl fiel hart aus. Wie lange betrieben Sie diese Sendung?“

Bemerkenswert, dachte Kurt, die junge Dame kann ja nicht nur Grenzen frech überschreiten, sondern auch minimalistisch Abbitte leisten. „Knapp drei Jahre lang lief meine Talkshow. Nach einiger Zeit modifizierten wir das Konzept und luden norddeutsche Prominente wie Musiker, Schauspieler, Autoren und Politiker ein.“

„Veränderte sich die Gesprächsatmosphäre als Sie statt Privatpersonen nun Prominente zu Gast hatten?“

„Eindeutig. Privatpersonen waren nicht gewohnt vor einer Kamera zu sprechen. Sie scheuten das Scheinwerferlicht. Von daher musste ich eine vertrauensvolle Atmosphäre schaffen, in der die Gäste die Kameras und das ganze Studio drum herum möglichst vergessen und in das Gespräch mit mir abtauchen konnten. Ganz im Gegensatz zu den Promis. Diese sind sich immer der Öffentlichkeit hinter den Kameras bewusst und setzen sich aktiv ins Rampenlicht. Meist musste ich kräftig an der Oberfläche kratzen, um durch eine Hintertür den Blick auf die Rückseite ihrer Seelenkulisse für das Publikum zu erhaschen. Es handelte sich eher um ein Katz- und Mausspiel.“

„Klingt nicht enthusiastisch.“

„Doch, doch. Es beeindruckte mich schon, dass ich als normalsterblicher Bürger, der durch Zufall in eine eigene Talkshow gestolpert war, nun persönlich mit Prominenten sprach. Dieses Privileg schmeichelte meiner Seele und manchmal musste ich mich zuhause in meiner kleinen Butze schon kneifen, um festzustellen, dass dieser Teil meines Lebens real war.“

„Wie kam es zu ihrem Wechsel zu dem Privatsender?“

„Nachdem ich ungefähr drei Jahre im dritten Programm tätig war, bekam ich ein lukratives Angebot. Nicht nur finanziell reizte es mich, sondern ein gänzlich neues Talkshowprofil sollte entwickelt werden. Während der Talkshow wurde nicht nur mit den Gästen geredet, sondern sie wurden mit überraschenden Situationen konfrontiert. Dann galt es zu schauen, ob die Person, sich dieser Situation stellt oder der Konfrontation aus dem Weg geht. Der eine Studiogast sollte eine Vogelspinne anfassen, ein anderer eine Python. Bei einer anderen Person saß plötzlich die Ex-Freundin, die verhasste Schwiegermutter oder der seit langem vermisste Sohn im Studio. Am besten lässt es sich so zusammenfassen: Die spontane Konfrontation von alltäglichen Menschen mit kleinen nicht-alltäglichen Grenzerfahrungen.“

„Warum sind Sie nicht mehr als Moderator tätig?“

„Irgendwann wiederholte sich alles. Ich merkte, dass mir das politische Element fehlte und dass es mir mehr Spaß bereitet Sendungen zu konzipieren und vorzubereiten. Auch nervte es mich, dauernd im Rampenlicht stehen zu müssen. Die Verantwortlichen im Sender erkannten meine konzeptionellen und redaktionellen Fähigkeiten und unterbreiteten mir nach gut drei Jahren, das Angebot in eine andere

Redaktion zu wechseln. Hier entwarf ich zwei sehr erfolgreiche Sendungen und leitete beide als Chefredakteur. Da ich über mehrere Jahre hinweg die erfolgreichsten politischen Talkshows entwickelt und implementiert hatte, wurde ich vor acht Jahren dann zum Bereichsleiter befördert.“

Da sie nun den kleinen Kiosk am Strand erreicht hatten, beendete Helena mit leicht zynischen Unterton das Gesprächsthema: „Sie werden mir doch nicht übel nehmen, dass ich keine ihrer Sendungen kenne? In Griechenland wurden sie leider nicht ausgestrahlt. Aber das kann ja noch werden. Was halten Sie davon, wenn Sie sich in den Sand setzen und ich uns beiden was zu trinken hole. Was darf es sein? Etwas warmes oder kaltes?“

Ihre verbale Spitze überging Kurt erneut „Ein großes Alsterwasser bitte.“

Helena schaute ihn fragend an: „Alsterwasser – Das habe ich noch nie gehört.“

„In Bayern sagt man Radler. Scheinbar existiert in Griechenland nicht nur eine sehr kleine Auswahl an Talkshows sondern das Portfolio an Getränken scheint auch stark reduziert zu sein. Halb Bier, halb Zitronenlimonade“, stichelte Kurt.

Mit eng zusammengekniffenen Augen fixierte Helena ihn kurz, bevor sie sich abrupt umdrehte und sich in die Schlange vor dem Kiosk stellte.

Genauso wie er sich über Helena und ihre Kommentare erboste, verfluchte Kurt sein eigenes Mundwerk. Hätte er einfach den Mund gehalten, als sie ihre kleinen spöttischen Pfeile abschoss. Dieses kleine Luder von Anfang zwanzig schaffte es ihn auf eine innere Palme zu bringen. An diesem Punkt ähnelte sie eindeutig Susanne. Meist verhielt sie sich ganz offen, zugewandt, freundlich und interessiert und von einem auf den anderen Moment entfuhren ihrem kleinen süßen Schmollmund bissige und scharfe Wortsalven.

Während er Helena, die mit dem Rücken zu ihm in der Schlange stand, betrachtete, klingelte sein Handy.

Im Display sah er, dass es Achim war. Kurt teilte ihm den aktuellen Zwischenstand mit.

Inzwischen hatte sich Helena neben Kurt in den Sand gesetzt. Sie reichte ihm sein Alsterwasser und nuckelte am Strohhalm einer Colaflasche. Kurt nickte ihr kurz dankend zu und sprach weiter in sein Mobiltelefon. Auf Achims Frage, wie der abgesetzte Chefredakteur Huber reagiert habe, antwortete Kurt mit verbissener Wut, dass dieser noch nichts von seinem Glück wisse. Morgen werde er sich diesen Vollidioten zur Brust nehmen und dann schön zermalmen.

Während Kurt beim Telefonat über das Wasser schaute, beobachte Helena ihn. Bei den letzten Worten zog sie entsetzt die Augenbrauen hoch.

Achim fragte Achim noch nach Henning. Kurt erzählte, dass er wegen des Stresses im Sender lediglich über Zetteln auf dem Küchentisch und digitalen Kurznachrichten mit Henning Kontakt habe. Als Achim meinte, dass würde Manuela nicht gut heißen, entgegnete Kurt, dass er ihm bitte nicht auch noch ein schlechtes Gewissen machen möge. Henning stecke gerade in der Pubertät und stoße sich die Hörner ab. Bloß nichts dramatisieren, raunte Kurt entnervt in sein Handy und legte auf.

Dann drehte er sich zu Helena: „Entschuldigen Sie, aber bei mir auf der Arbeit geht es gerade drunter und drüber.“

„Ihre Worte klangen sehr dramatisch.“

„Einer meiner Chefredakteure hat trotzt mehrfacher Ermahnung erneut gegen Absprachen verstoßen. Leider fällt dieses auf mich als Bereichsleiter zurück. Bis heute Mittag sah ich mich schon als gekündigt an. Aber ich konnte meinen Programmdirektor ein Konzept vorlegen.“

„Und was passiert mit diesem Chefredakteur?“

„Der wird in einer anderen Redaktion Zuarbeiten verrichten. Haben Sie bloß kein Mitleid mit ihm. Wer solche Böcke vorsätzlich schießt, muss froh sein, wenn er noch weiterarbeiten darf“, ergänzte Kurt mit aggressiver Stimme.

„Wird er sich dieses gefallen lassen?“

„Hören Sie mal. Wegen dieses Idioten habe ich fast meinen Job verloren. Wenn der das Angebot nicht annimmt, dann werde ich ihn in meinem Büro erst in seine Einzelteile zerlegen und dann fliegt er raus. Da werden ihm auch keine Rechtsanwälte helfen.“

Die Wucht seiner Wut schien Helena zu überraschen. Sie nahm einen Anlauf das Gesprächsthema vorsichtig zu wechseln. „Sie haben Feierabend und ich will Sie nicht an die beruflichen Streitigkeiten weiter erinnern. Ihrem Telefonat entnahm ich, dass einer Ihrer Söhne gerade in der Pubertät steckt.“

„Eindeutig. Sorgen bereitet meiner Frau und mir, dass Henning Ecstasy konsumiert. Ob er daneben noch andere Drogen einnimmt, wissen wir nicht. Die Folgen von Alkohol- und Haschischkonsum im jugendlichen Alter kann ich aus meiner eigenen Geschichte noch einschätzen. Aber diese neumodischen Designer-Drogen sind uns nicht vertraut. Vielleicht können Sie das besser bewerten?“

„Tut mir leid. Ich trinke wenig Alkohol und habe in der Vergangenheit ein paar Mal mit meiner Mutter gekifft. Aber davon war mir nur schlecht.“

„Kifft Susanne etwa inzwischen?“

„Jetzt werden Sie bitte nicht spießig. Schließlich haben Sie auch selber Hasch geraucht.“

„Da war ich aber in einem anderen Alter.“

„Bis zu welchem Alter darf man ihrer Meinung nach denn kiffen? 18, 20 oder 25?“ fragte Helena, während ihre Augen genervt eine Runde drehten.

„Irgendwann ist man mit dem Thema durch.“

„Klingt ja so, als ob der Herr eine neue Bewusstseinsstufe erlangt hätte, seitdem er dem Haschisch abgesagt hat. Wenn man dann noch der Einnahme von alkoholischen Getränken entsagt, steigt man noch eine Stufe höher, oder?!“

Resigniert hob Kurt die Hände und ergab sich. „Ja, ich gebe Ihnen Recht. Ich sollte mein klein kariertes Denken einstellen. Zurück zum Thema. Was wissen Sie über Ecstacy?“

„Mir ist nur bekannt, dass einige, wenn sie eine lange Partynacht durchfeiern wollen, Tabletten einnehmen um länger durchzuhalten. Mit dem Zeug lässt sich die ganze Nacht durchtanzen. Lediglich in den folgenden Tagen ist der Akku leer.“

„So wirkt Henning manchmal“, sinnierte Kurt.

„Haben Sie mit ihm über diese Problematik gesprochen?“

Kurt schilderte Helena die Ereignisse der letzten Wochen.

„Haben Sie ihn denn jeden Tag gesehen, seit dem Ihre Frau nach Mallorca geflogen ist?“

„Bis vorgestern. Gestern musste ich die abendliche Verabredung wegen des Stresses in der Firma absagen und schlug vor, dass wir uns heute Morgen um 8.00 Uhr zum Frühstück treffen. Das empfand mein Sohn als zu früh. Er schlug heute Mittag vor, aber da konnte ich wiederum nicht. Vor allem nervt mich, dass ich mit meinen Sohn nur per SMS oder Mailbox kommunizieren kann.“

Helena runzelte die Stirn. „Wollen Sie nicht lieber nach Hause fahren und auf ihren Sohn warten, statt mit mir hier zu sitzen?“

Nicht noch eine, die mein schlechtes Gewissen weiter aufbohrt, stöhnte Kurt in seinem Inneren und atmete tief ein. „Wie ich bereits schilderte, bekomme ich meinen Sohn aktuell nicht zu fassen. Folglich muss ich mich bis heute Abend gedulden. Des Weiteren pflege ich meine Verabredungen einzuhalten. Da ich Ihre Telefonnummer nicht habe, konnte ich unser heutiges Treffen nicht verschieben.“

„Sie hätten mich doch einfach sitzen lassen können. Susanne würde genauso handeln, wenn es mir nicht gut gehen würde.“

Mit leichtem Trotz in der Stimme stellte Kurt klar, dass seine Söhne in einem guten Elternhaus groß geworden sind und dass solche pubertären Eskapaden zum Erwachsenwerden dazugehören.

Beide schwiegen eine Zeit lang, schauten einer Hafenbarkasse hinterher, deren Wellen mit Verzögerung auf den Oevelgönner Strand aufliefen. Schließlich beendete Helena das Schweigen.

„Es ist wirklich nicht meine Absicht und auch nicht meine Aufgabe, Ihnen altkluge Erziehungstipps zu geben. Eine englische Freundin merkt gelegentlich an, dass ich zu einer hellenistischen Arroganz neige. Bitte lassen Sie darum etwas Milde im Umgang mit mir walten.“

Voila, dachte Kurt. Die junge Dame verfügt über die Fähigkeit der Selbstreflektion. Diese Begabung hatte sie in den bisherigen Gesprächen noch nicht durchschimmern lassen. Er nickte mit einem wohlwollend Lächeln ihr zu und wechselte das Thema: „Damals entstanden Spannungen zwischen Susanne und ihren Eltern. Haben Sie Kontakt zu Ihren Großeltern?“

„Mein Großvater ist vor elf Jahren verstorben. Auf der Rückreise von Weimar habe ich meine Großmutter kurz in ihrem kleinen schwäbischen Dorf besucht. Sie fragte mich nach meinem Studium; aber letztendlich erlebte ich eine oberflächige Begegnung mit ihr. Auch wenn immer gesagt wird, dass Blut dicker als Wasser ist, so fanden wir doch keinen gemeinsamen Nenner, der unsere Seelen verbindet. Meine Großmutter hat den Sinneswandel meiner Mutter nie nachvollziehen können. Wie eine Frau, die seit Jahren glücklich mit einem Mann zusammenlebte, sich mit Ende Zwanzig von diesem trennt und darüber hinaus ihren Job als Bankkauffrau für eine Weltreise aufgibt, überstieg Großmutters Vorstellungskraft. Daher haben beide Seiten nie engeren Kontakt zueinander gesucht.

Somit eignet sich meine Großmutter keinesfalls als Zeitzeugin, die mir aus Sicht einer neutralen, dritten Person den Richtungswechsel meiner Mutter schildern kann. Von daher ruhen meine Hoffnungen auf Ihnen, der in dieser Zeit Susanne am Nächsten stand.“

Kurt musste lachen: „Ich und neutraler Beobachter. Ich war über beide Ohren in Susanne verliebt.“

„Dann streiche ich die Vokabel neutral und formuliere es so: Ich suche jemanden, der mir schildert, wie er die Susanne der Endachtziger Jahre erlebt hat.“

Kurt schaute auf seine Uhr. „Gerne erzähle ich Ihnen, wie ich Susanne kennen gelernt und wahrgenommen habe. Auch würde es mich freuen, wenn Sie mir etwas von Susannes weiterem Lebensweg erzählen. Doch würde ich jetzt gerne wegen meines Sohnes nach Hause fahren. Schaffen wir es, uns noch einmal zu sehen? Freitag habe ich morgens eine mörderische Redaktionssitzung. Gegen 16.00 Uhr könnte ich.“

„Das passt. Am Samstag fahre ich eine Freundin in Kopenhagen besuchen.“

„Wenn das Wetter weiterhin so bleibt, könnten wir an der Alster spazieren gehen. Als Treffpunkt schlage ich die Krugkoppelbrücke vor.“

„Einverstanden. Da ich heute nichts weiter vorhabe, würde ich gerne noch eine Weile hier am Elbstrand bleiben.“

„Dann Ihnen noch einen schönen Abend“ wünschte Kurt, erhob sich und ging in Richtung des Museumshafen davon.

Helena schaute ihm nach. Sie ahnte, was ihre Mutter damals an Kurt fasziniert haben könnte. Allerdings konnte sie nicht verstehen, was den Studenten Kurt dazu gebracht hatte, den Wandel vom Paulus zum Saulus zu durchwandern.

Die zweite Postkarte

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