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Kapitel 10

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28. Juli 2011

Mühsam quälte sich Kurts Wagen durch den morgendlichen Berufsverkehr. Als Kurt sein Büro erreichte, begrüßte ihn Frau Leitmaier und teilte mit, dass Dr. Gründgens ihn um 9.30 sehen will. Kurt schaute auf seine Armbanduhr und sah, dass er noch 20 Minuten Zeit hatte, bevor er erfuhr, ob sein Vorschlag von der Geschäftsführung angenommen würde. Er checkte seine Emails. Besondere Nachrichten lagen nicht vor und schließlich fuhr er zu Dr. Gründgens ins Büro.

„Guten Morgen Herr Assens. Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen.“

Innerlich brodelte Kurt, da ihm nicht nach seichtem Geplänkel zumute war.

„Doch, doch. Gleichwohl ich zu geben muss, dass ich gespannt auf die Entscheidung der Geschäftsführung bin. Ich hoffe, Sie haben die Damen und Herren überzeugen können.“

Dr. Gründgens schürzte seine Lippen seitlich. „Statt solcher Auseinandersetzung hätte ich mir ruhigere Sommertage gewünscht. Begeistert war die Geschäftsführung nicht“, stellte Dr. Gründgens dar „doch ich konnte ihr die Vorteile aufzeigen. Selbst die Idee der progressiven Bewerbung der neuen Sendungen und die Verschiebung der Sendeplätze wurden schließlich akzeptiert. Eines ist allerdings klar, Herr Assens. Der ganze Plan hängt vom erfolgreichen Start Ihrer Sendung ´face and blog` ab. Also sorgen Sie dafür, dass sie erfolgreich einschlägt und eine bessere Quote vorweisen wird als BASTA!!!. Selbstverständlich gehe ich davon aus, dass Sie das Personalproblem mit Huber elegant regeln und dafür Sorgen, dass die Redaktionsmitarbeiter von BASTA!!! effektiv und leise innerhalb des Senders untergebracht werden.“

Mit diesen Worten verabschiedete er seinen Untergebenen.

Nun galt es einen Fahrplan aufzustellen. In seinem Büro plante er auf einigen Flipchartpapieren die erforderlichen Schritte. Bevor er mit Huber ein Personalgespräch führen kann, muss er mit der Rechts- und Personalabteilung den Rahmen der Möglichkeiten abstecken. Für die Redakteure und einige weitere Mitarbeiter galt es neue Aufgaben festzulegen. Schnell muss eine Redaktionssitzung von ´face and blog` stattfinden, um die vorgezogene Ausstrahlung zu planen. Kurt rauchte der Kopf. Die menschliche Unfähigkeit zur Zweiteilung stand ihm nun im Weg, um alle von ihm angedachten Schritte zeitgleich zu realisieren. In seinem Büro gab er Frau Leitmaier den Auftrag, Andresen mitzuteilen, dass er zu 9.00 Uhr am Folgetag seine gesamte Redaktion zu einer Sitzung einladen soll und dass er eine Auflistung der benötigten Ressourcen und einen Zeitplan bis 12.00 Uhr vorlegen solle. Kurt selber eilte aus seinem Büro in die Personalabteilung.

Dort erfuhr er vom Sekretariat, dass sich die Leiterin Frau Dabrowski in einer Besprechung befände. Kurt betonte, dass er sie dringend sprechen müsse. Als Antwort wurde ihm mitgeteilt, dass Frau Dabrowski den ganzen Tag geblockt sei und im kleinen Besprechungsraum mit Rechtsanwälten tage.

Entschlossen drehte Kurt auf der Hacke um und begab sich zum Besprechungsraum. Mit einem kräftigen Klopfen öffnete er die Tür. Vier Augenpaare schauten ihn überrascht an. „Entschuldigen Sie die Störung, aber ich müsste dringend mit Ihnen, Frau Dabrowski sprechen.“

Drei gestriegelte Herren in ihren geklonten Anzügen mit langweilig einfarbigen Krawatten starrten ihn im Gleichklang an. Frau Dabrowski in ihrem Sonnenblumengelb knallendem Kostümchen und ihren Satin glänzenden gleichfarbigen Pumps herrschte ihn resolut an: „Wie Sie sehen, sind wir gerade im Gespräch.“

„Das habe ich erwartet. Allerdings muss ich dringend eine Personalie mit Ihnen klären.“

„Herr Assens, das kann bis morgen warten.“, betonte Frau Dabrowski deutlich.

„Ich fürchte nicht.“

„Bitte schließen Sie die Tür, Herr Assens, von Außen!“, blaffte ihn die Personalleiterin an, drehte sich im Sitzungsstuhl um und zeigte Kurt den Rücken.

Kurt trat an den Sitzungstisch heran, legte seine linke Hand auf die Rückenlehne von Frau Dabrowskis Stuhl und drehte diesen abrupt zu sich, so dass er der Personalleiterin direkt in die Augen schauen konnte. „Fünfzehn Minuten brauche ich Sie. Ihr Besuch kann bestimmt eine kurze Pause vertragen und bevor zwischen uns beiden eine Disharmonie auftritt, möchte ich kurz erwähnen, dass die Geschäftsführung mich beauftragt hat, mit Ihnen ein Problem zu lösen.“

Die Augen von Frau Dabrowski weiteten sich kurz. „Okay meine Herren“, sprach Frau Dabrowski zu ihren drei Besuchern, „dann sei Ihnen also eine Viertelstunde Pause gegönnt.“

Sobald sie beide alleine im Raum waren, schildert Kurt die Situation.

„Bieten Sie ihm einen Auflösungsvertrag an. Wie lange ist Huber im Konzern? Ich schätze 9 Jahre, also offerieren Sie ihm eine Abfindung von 9 Monatsgehältern. Sollte er im Konzern bleiben wollen, dann stellen Sie ihm die Stelle in der Redaktion von Scharzhofer in Aussicht. Gleichwohl ich glaube, diese Versetzung mit Machtverlust wird er ablehnen. Also bleibt die Abfindung. Sollte ihm dieses nicht passen, müssen wir beide mit ihm ein Gespräch führen.“

Mit diesen Worten stand Frau Dabrowski auf, ging zur Tür, öffnete diese und verabschiedete Kurt: „Ihre viertelstündige Audienz ist beendet, Herr Assens.“

Kurt nickte kurz und verließ den Besprechungsraum. Als Frau Dabrowski die Tür hinter ihm schloss, dachte Kurt, was für eine arrogante Schnepfe sich der Sender als oberste Personalleiterin ausgewählt hatte. Seine ornithologische Bestimmung korrigierte er nach kurzer Überlegung. Ihr knallgelbes Kostüm erinnerte ihn zunächst an einen Kanarienvogel. Abschließend dachte er jedoch eher an Bibu aus der Sesamstraße.

Als er in sein Büro zurückkehrte, beauftragte er Frau Leitmaier Huber unmittelbar zu sich zu bestellen.

Zwei Minuten später schaute Frau Leitmaier durch die Tür. „Herr Assens, Herr Huber ist in einer Redaktionssitzung. Ich habe seiner Sekretärin die Dringlichkeit aufgezeigt, doch sie konnte ihm nicht bewegen, sich aus seiner Sitzung loszueisen.“

Kurts innerer Kamm schwoll an. Nach all den Fauxpas widersetzt sich Herr Huber auch noch seinen Anweisungen. Kurt griff sein Jacket und stürmte wortlos an Frau Leitmaier vorbei und lief in das benachbarte Gebäude, in dem sich die BASTA!!!-Redaktion befand.

Mit hochrotem Kopf sprintete Kurt in das dritte Stockwerk und riss wutentbrannt die Sitzungsraumtür auf. Schlagartig verstummten die Stimmen und zweiundzwanzig stark geweitete Pupillen glotzen Kurts zornig glühendes Haupt an. Völlig außer Atem holte Kurt kurz Luft, bevor seine Stimmlippen scharf zischend das weitere Vorgehen festlegten: „Meine sehr geehrte Damen und Herren, bitte verlassen Sie jetzt den Raum und gehen an Îhre Arbeitsplätze. Sie, Herr Huber, bleiben hier!“

Huber schaute Kurt erschrocken an, während seine Redaktionsmitglieder entsetzt erstarrten. Kurts Blick schweifte mit hochgezogenen Augenbrauen durch die Runde. „Habe ich mich unklar ausgedrückt?“

Schlagartig erwachten alle aus ihrem mentalen Koma. Hektisch wurden Notebooks zusammengeklappt und Papiere eingesammelt. Dicht zusammengedrängt wie eine Herde Pinguine in der Antarktis verließen alle den Raum. Kurt schloss die Tür, ging um den langen Tisch herum und setzte sich an die andere Stirnseite Visavis zu Huber.

„Guten Tag, Herr Assens. Selbstverständlich steht es Ihnen zu an Redaktionssitzungen teilzunehmen. Allerdings überrascht mich, dass sie mich als Chefredakteur nicht wie bisher im Vorwege informiert haben. Und zugegebenermaßen erstaunt mich die Art Ihres Auftritts.“

Die Arroganz seines Gegenübers verärgerte Kurt: „Erstaunen ist ein guter Hinweis. Mich erstaunte, dass sie trotz meiner mahnenden Worte in Ihrer letzten Sendung erneut über die Strenge geschlagen haben, Herr Huber. Können Sie mir Ihre Beweggründe dafür erläutern?“

„Sie meinen doch nicht den Beitrag über diesen Ministerpräsidenten? Fühlt sich etwas dieser Herr auf den Schlips getreten? Der soll sich nicht so anstellen. Ein erneuter Fall von politischem Gebell“, schob Huber süffisant nach.

Kurt stützte seine Ellenbögen auf und formte mit seinen Fingern ein Dreieck, auf dem sein Kopf ruhte. „Ich würde sagen, die Zeiten des Bellens sind vorbei, die Hundemeute hat zugebissen, Herr Huber“, hielt Kurt entgegen und ließ einige Sekunden verstreichen, bevor er fortfuhr: „Auf die Mahnungen haben Sie ja mehrfach nicht gehört, Herr Huber, nun müssen Sie die Konsequenzen tragen. Die Geschäftsführung hat Ihre Sendung mit sofortiger Wirkung abgesetzt!“

Huber erblasste. „Das ist nicht wahr!“

„Keine Sorge, ich lüge Sie nicht an“, stellte Kurt klar.

Nun sprudelte es unkontrolliert aus Huber heraus: „Wegen einer Sendung machen die Herren sich da oben in die Hose. Provozieren und pointieren gehört zu unserem Erfolgsrezept. Was bilden sich diese Hosenscheißer ein. Das lass ich mir nicht bieten!“

Die naive Blauäugigkeit von Huber brachte Kurt auf die Palme: „Was bilden Sie sich ein? Selbst mich als Ihren Vorgesetzten haben Sie nicht ernst genommen. Zweimal habe ich Ihnen deutlich gesagt, dass Sie Ihre Schärfe zurückfahren sollen. Aber nein, Sie machen in Ihrer Selbstherrlichkeit nicht nur weiter, sondern geben noch Vollgas und springen ins nächste Fettnäpfchen und reißen Sie Ihre gesamte Redaktion mit hinein!“

Die geweiteten Augen signalisierten Kurt, dass Huber so eben begann, das Sterben seiner Redaktion zu realisieren. „Sie wollen doch nicht sagen, dass meine Sendung beerdigt wird. Was passiert mit meiner Redaktion?“

Nach einer pädagogischen Pause von zehn Sekunden bestätigte Kurt: „Genauso ist es: Basta mit Ihrer Sendung BASTA!!! Folglich wird Ihre Redaktion aufgelöst. Die Kollegen werden anderen Sendungen zugeteilt werden.“

Kurt konnte Hubers nächsten Gedanken in seinem Gesicht lesen und ergriff vor diesem das Wort. „Allerdings haben wir keine Chefredakteurposten frei und durch Ihr Verhalten in den letzen Monaten haben Sie auch Ihre persönliche Eignung dafür mehr als in Frage gestellt. Ich habe zwei Angebote für Sie: In Scharzhofers Redaktion wird noch ein Mitarbeiter benötigt. Alternativ könnten wir einen Auflösungsvertrag unterschreiben.“

Nun explodierte Huber: „Das ist der Dank für mein langjähriges Engagement. Da reißt man sich den Arsch auf und soll dann billig abgeschoben werden. Das lass ich mir nicht gefallen. Ich bestehe darauf, weiter als Chefredakteur tätig zu sein. Schließlich habe ich einen Arbeitvertrag!“

Kurt musste laut auflachen. „Mensch Huber, wo leben Sie? Sie bauen mehrfach Scheiße und wollen dann noch bejubelt werden.“

„Von Ihnen, Herr Assens, lass ich mich nicht so einfach abspeisen“, stellte Huber mit rot glühendem Gesicht klar.

„Ich schlage vor, dass Sie jetzt nach Hause fahren und sich bis morgen Mittag überlegen, welches Angebot Sie annehmen wollen.“

„Wie hoch soll denn die Abfindung sein?“

„Ein volles Monatsgehalt pro Beschäftigungsjahr!“

„Was so billig wollen Sie mich loswerden. Das mache ich nicht mit!“

„Das sind die Alternativen, basta! Morgen um 12.00 Uhr geben Sie mir Bescheid.“

Wutentbrannt sprang Hubert auf und verließ den Raum.

Kurt atmete durch; gleichzeitig war ihm bewusst, dass soeben die Probleme mit Huber die nächste Stufe erreicht hatten.

Da es inzwischen Mittag war, schaute Kurt bei Andresen vorbei, um sich nach dessen zusätzlichen Ressourcenbedarf zu erkundigen. Dieser teilte ihm mit, dass er immer noch große Bedenken hinsichtlich der Realisierung der Zeitschiene habe.

„Als Mindestes benötigen wir vier Redakteure, wovon zwei über exzellente Kenntnisse im Bereich worldwideweb, blogs, twitter und virtuelle, soziale Netzwerke verfügen müssten. Für den zusätzlichen organisatorischen Aufwand wären für die nächste Zeit zwei bis drei zusätzliche Assistentinnen erforderlich.“

„Besten Dank Herr Andresen für die schnelle Zuarbeit. Ich schaue, was sich machen lässt.“

Frau Leitmaier erhielt von Kurt den Auftrag, alle Mitarbeiter von BASTA!!! mit Ausnahme von Huber zu einer Redaktionssitzung um 13.30 einzuladen. Auf dem Weg zur Kantine lief ihm zufällig Ellwanger über den Weg.

„Sie kommen mir gerade Recht Herr Ellwanger. Kommen Sie, ich lade sie zum Essen ein.“

Mit skeptischem Blick schritt Ellwanger neben Kurt her. Als sie sich mit ihren Salattellern an einen Tisch gesetzt hatten, legte Kurt los.

„Gute Nachrichten für Sie, Herr Ellwanger.“

„Da bin ich gespannt. Trotz Sommerloch ist ja heute einiges im Haus los.“

Nun wollte Kurt von ihm wissen, was denn so auf dem Herd der Gerüchteküche am Köcheln sei.

„Mit Huber haben Sie wohl vorhin ein Hühnchen gerupft.“

Kurt hatte schon geahnt, dass diese Nachricht durchs Haus stöbert. In der Regel liefen solche Nachrichten erst auf den unteren Redaktionsebenen durch den Sender und die Chefredakteure erfuhren es erst, wenn es für das andere Personal schon alte Kamelle waren. Unter diesen Voraussetzungen entschied Kurt sich gegenüber Ellwanger mit offenen Karten zu spielen. „Die Nachricht eilt ja überraschend schnell durch den Sender. Im Vertrauen, Herr Ellwanger, bevor Sie es aus zweiter Hand erfahren: Das Hühnchen, das ich angeblich mit Huber zu rupfen hatte, hat eher die Dimension eines ausgewachsenen Truthahns.

Wegen der letzten BASTA!!!-Sendung äußerte die Geschäftsführung ihre Missbilligung. Da es zum wiederholten Male deswegen Ärger gab, wurde entschieden, dass die Sendung abgesetzt wird. Stattdessen erhalten Sie nun den Sendeplatz von ´BASTA!!!` am Dienstag um 21.45. Gute Nachricht oder?“

Ellwanger schaute sprachlos durch die Kantine. Seit Jahren kämpfte er darum, dass er zur gleichen Uhrzeit wie Scharzhofer senden darf und nun fiel ihm dieser Wunsch wie ein abgeschossener Fasan in den Schoß.

„Grandios“, entfuhr ihm als erstes Wort. Dann erwachte er langsam aus seiner Gedankenwelt.

„Herr Assens, ich hätte mit Ihnen sowieso noch ein Thema innerhalb der nächsten Tage angesprochen. Eine meiner Redaktionsassistentinnen hat mir gestern mitgeteilt, dass sie mit ihrem Freund bald nach Stuttgart umzieht, da er dort eine neue Stelle antreten wird. Auch wenn generell im Sender Stellen nicht sofort nachbesetzt werden, würde ich möglichst schnell die Nachfolge regeln.“

„Kein Problem, ich denke innerhalb der nächsten zwei Wochen ist dieses möglich“, sagte Kurt spontan und stand auf. Nun schoss die Sprachlosigkeit erneut in Ellwangers Zunge. Während Huber zerpflückt wurde, jagte bei ihm selber ein Weihnachtsgeschenk das andere. Ungläubig schaute er Kurt Assens hinterher.

Um 13.30 machte sich Kurt auf den Weg in den Konferenzraum der BASTA!!!-Redaktion. Mit seinem Eintreten in den Raum erstickte das leise Murmeln. Kurt nahm bewusst auf Hubers Stuhl an der Stirnseite des Konferenztisches Platz. Dann ließ er seinen Blick einmal im Uhrzeigersinn über alle Gesichter fahren und schaute freundlich, aber bewusst jedem in die Augen.

„Ich gehe davon aus, dass mein Auftritt heute Vormittag etwas überraschend für sie kam und er wird sicherlich einige Fragen bei Ihnen aufgeworfen haben. Die letzte BASTA!!!-Sendung hat einiges an externer Kritik ausgelöst, die dazu führte, dass die Geschäftsleitung sich einschaltete. Mit Ihrem Chefredakteur Huber wurden in der Vergangenheit wiederholt Gespräche hinsichtlich der journalistischen Gestaltung geführt und es wurden Ziele vereinbart. Herrn Huber ist es nicht gelungen, sich in dem vereinbarten Rahmen zu bewegen. Aus diesem Grund hat der Sender beschlossen, Herrn Huber abzusetzen.“

Ein leichtes allgemeines Raunen ging durch die Reihen.

„Und wer ist nun als Nachfolger erkoren“, fragte Werner Brockstein vom hinteren Ende des Tisches mit seiner nasal-krächzenden Stimme. Es verwunderte Kurt nicht, dass Brockstein als erster den Mund öffnete. Brockstein verfügte über langjährige Erfahrung. Seit der Geburtsstunde von BASTA!!! gehörte er der Redaktionsfamilie an. Seine blonde Popperfrisur wirkte wie ein Relikt der Achtziger Jahre und passte nicht zu seiner links-progressiven politischen Position. Gleiches galt für das gelbe Poloshirt, in dem der schlanke Körper eines Kettenrauchers steckte. Wenn jemand zu Vorurteilen neigte, so würde er an dem Widerspruch zwischen Brocksteins äußerer Erscheinung und seiner inneren politischen Haltung verzweifeln.

Mit der kurzen Aussage, dass es keinen Nachfolger geben würde, zündete Kurt die Lunte, bevor er nach einer kurzen Pause die Bombe platzen ließ: „Auch wird keine weitere BASTA!!!-Sendung mehr ausgestrahlt werden!“

Noch ehe Kurt das weitere Vorgehen erläutern konnte, gab es ein Konzert von lauten Zwischenrufen der Fassungslosigkeit und des Protestes. Brockstein verschaffte sich als erster Gehör: „Unglaublich, da tritt man den Politikern auf die Füße, zeigt dem Fernsehvolk ihre Fehlleistungen auf und die hohen Herrn des Senders kriegen kalte Füße und knicken ein. Wir werden doch von einer Ansammlung von Warmduschern geleitet. Brav der Politik und den großen Persönlichkeiten der Gesellschaft sabbernd hinterher rennen und artig sein. Solches Verhalten nenne ich Schleimertum und hat mit solidem Journalismus nichts zu tun.“

Mit ihrem kräftigen Klopfen mit den Fäuste auf den Tisch unterstrichen alle Redaktionsmitglieder Brocksteins Ausführungen.

„Ich kann ihre Entrüstung verstehen, aber journalistisches Handeln muss auch Spielregeln einhalten und sollte nicht dem Zynismus verfallen. Schon mehrere Gespräche wurden mit ihrem bisherigen Chefredakteur geführt. Allerdings hat Herr Huber die getroffenen Vereinbarungen ignoriert und damit die Sendung an den Abgrund geführt.“

Nun meldete sich Andreas Mellburger, der die Sendung moderierte und als einziger dem Fernsehpublikum bekannt war. Mit seinen großen braunen Augen, der gebräunten Haut und dem akkuraten Seitenscheitelhaarschnitt galt er als der Schönling im Sender. Seine italienischen Maßanzüge in Anthrazit gepaart mit der warmen, Vertrauen erweckenden Stimme eines Mittdreißigers machten ihm zum Lieblingskandidaten aller Schwiegermütter.

„Bis vor kurzem wurden wir noch für unsere Progressivität gelobt. Die Polarisierung in den Berichten verschaffte dem Fernsehsender große Aufmerksamkeit. Und für das werden wir jetzt bestraft werden. Skandalös.“

Wieder zustimmendes Gebrummel.

„Nichts spricht gegen eine progressive Berichterstattung. Allerdings darf der Bogen nicht überspannt werden und dieses ist aus Sicht der Geschäftsleitung zum wiederholten Male geschehen“ hielt Kurt dagegen.

Brockstein fixierte Kurt: „Wie stehen Sie, Herr Assens denn zu der Entscheidung, dass eine Sendung aus Ihrem Ressort abgesägt wird? Ich hoffe, Sie haben unsere Sendung gegenüber der Geschäftsführung verteidigt.“

Kurt musste schlucken. „Sie könne sich alle sicher sein, dass ich über diese Entwicklung nicht begeistert war und die Gespräche waren nicht angenehm. Details dazu will ich Ihnen ersparen. Letztendlich war und ist mir wichtig, dass sie alle weiterhin im Sender beschäftigt bleiben. Zu diesem Thema bin ich bereits mit der Personalabteilung im Gespräch und wir können alle zuversichtlich in die Zukunft blicken. Veränderung gehören zu unserem Alltag und diese haben wir bisher immer gut gemeistert.“

„Hören Sie auf Ihre einlullenden Beruhigungspillen zu verteilen“, schimpfte es aus dem Hintergrund.

„Was sollen wir jetzt den ganzen Tag tun?“, fragte ein weiteres Mitglied der Redaktion.

Richtig, dachte Kurt, das ist eine sehr gute Frage. Es galt zehn Menschen, deren Sendung so eben beerdigt wurde, sinnvoll zu beschäftigen und sie dabei noch bei Laune zu halten. Kurt musste darauf achten, dass die Wogen nicht zu hoch schlugen und die Stimmung gegen ihn kippte. „Ich kann Ihnen leider diese Fragen nicht jetzt beantworten. Ich lege Wert auf möglichst viel Transparenz, daher war es mir wichtig, Sie alle schnell über die Entscheidung des Senders zu informieren, auch wenn das weitere Vorgehen noch nicht bis ins Detail durchgeplant ist. Gleichzeitig kann ich Ihnen aber zusagen, dass die Personalabteilung und ich im Sender nach neuen adäquaten Tätigkeiten für sie suchen. Wir prüfen aktuell den Stellenplan und zukünftige Bedarfe. Sobald näheres sich heraus kristallisiert, werden wir sie informieren. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.“

Kurt stand auf, und bat den stellvertretenden Chefredakteur Hans-Peter Kowalke ihm zu folgen, um das weitere Vorgehen zu besprechen. Sie suchten sich ein leeres Besprechungszimmer. Es hatte Kurt nicht überrascht, dass Hans-Peter Kowalke das Wort nicht in der Redaktionssitzung ergriffen hatte. Verabredet war vor ein paar Monaten, dass Kowalke in einem Jahr in Altersteilzeit ging. Von daher hatte Kowalke nichts zu verlieren und konnte entspannt sein. Kurt kannte ihn seit Jahren. Als Huber damals den Chefredakteurposten bekam, war es Kurt wichtig einen ruhigen Gegenpol zu Huber zu haben. Kurt war sich von Anfang an bewusst, dass es ein Wagnis war, Huber die Redaktion anzuvertrauen. Huber eilte ein dynamischer und impulsiver Ruf voraus. Da die Zuschauer zahlen seinerzeit rückläufig waren, galt es eine progressive Sendung auf den Markt zu bringen, die laut genug auftritt, um von den Zuschauern wahrgenommen zu werden. Dieses war ihnen gelungen. In dieser Woche verabschiedet sich dieses Journal mit lautem Knall im Sender. Kurt bat Kowalke, den Kollegen Zuversicht und Geduld zu vermitteln. In seiner ausgeglichenen Art sagte Kowalke dieses zu, da er schon reichlich Unwetter in diesem Fernsehsender erlebt und überstanden hatte.

In seinem Büro lehnte Kurt sich in seinem Schreibtischstuhl zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Langsam hatte er das Gefühl, dass sich die Puzzleteile zusammenfügten. Für den heutigen Tag galt es nun noch eine dienstliche Aktivität zu unternehmen. Scharzhofer befand sich zwar im Urlaub in Florida, doch er war ein Kontrollmensch und hielt auch in den Ferien Kontakt zu seiner Redaktion. Er behauptete zwar immer, dass seine große Sorge sei, dass irgendein Knallfrosch aus seiner Redaktion eine Fehlentscheidung fälle, doch Kurt vermutete, dass Scharzhofer verhindern wollte, dass irgendeiner seiner talentierten Redakteure ihn in seiner Abwesenheit als Platzhirschen verdrängen könne. Kurt hielt diese Gefahr für nicht existent. Doch der seit Jahren mal subtil mal offene Konkurrenzkampf zwischen Ellwanger und Scharzhofer zeigte auf, welche Empfindlichkeiten bei beiden Chefredakteuren existierten. Diese Fehde wurde federführend von Scharzhofer immer wieder neu forciert. Wenn dieser nun die ganzen Veränderungen innerhalb des Ressorts bei einem seiner Kontrollanrufe erfahren würde, befürchtet Kurt, dass dieses dessen Phantasien in beängstigender Weise beschleunigen würde. Daher entschied sich Kurt noch heute Scharzhofer einzuweihen.

Kurt schaute auf die Uhr und rechnete. In Florida müsste es kurz vor zehn am Morgen sein. Er wählte die Mobiltelefonnummer von Scharzhofer und am anderen Ende meldete sich dieser.

„Hallo Herr Scharzhofer, hier ist Kurt Assens. Ich hoffe, ich störe sie nicht gerade.“ „Nein, nicht direkt, ich sitze nur gerade im Hotel am Frühstücksbuffet. Was gibt es denn, Herr Assens?“

Ein verstecktes Vibrato in Scharzhofer Stimme verriet Kurt dessen Anspannung.

„Keine Sorge, Scharzhofer. In Ihrer Redaktion läuft alles wie am Schnürchen. Ich wollte Ihnen nur mitteilen, dass wir wahrscheinlich eine Elternzeitvertretung für ihre Kollegin gefunden haben.“

„Das klingt gut und deswegen machen Sie sich die Mühe, mich von der anderen Seite des Teiches anzurufen. Kenne ich die Vertretung?“

„Es ist noch nicht zu hundert Prozent sicher. Aber Huber wird es wohl werden.“

„Ein Redakteur namens Huber. Das sagt mir jetzt gar nichts.“

Als Kurt den Namen BASTA-Huber nannte, drückte sich ein gepresster Aufschrei durch das transatlantische Kabel in seinen Gehörgang.

Kurt schilderte die Entwicklungen der letzten Tage in kurzen Zügen.

„Keinesfalls kann Huber in unserer Redaktion arbeiten. Er war bisher Chefredakteur und ich gehe davon aus, dass er nicht bereit ist, unter einem anderen Chefredakteur zu arbeiten“, hielt Scharzhofer ihm entgegen.

„Huber hat Zeit, sich dieses Angebot bis morgen zu überlegen. Die Alternative ist ein Auflösungsvertrag. Vielleicht verlässt er unseren Privatsender. Aber falls nicht kommt er zu Ihnen ins Team.“

„Herr Assens, ich fürchte Huber wird in unserer Redaktion für Missstimmung sorgen und aus Protest diverse Dinge torpedieren. Ich lasse mir meine Redaktion nicht zerschießen!“

Der anheischende Tonfall in Scharzhofers Stimme missfiel Kurt. Am Ende dieses Arbeitstages war er zu erschöpft, um ruhig zu reagieren. „Meinen Sie, dass ich über die ganzen Probleme der letzten paar Tage gejubelt habe? Huber kommt zu Ihnen und damit basta. Ich kann leider kein Wunschkonzert veranstalten. Auch nicht für sie!“

Die Einschätzungen von Scharzhofer hielt Kurt generell für realistisch, nur durfte er dieses nicht zugeben. Kurt merkte, dass das Gespräch an einem kritischen Punkt stand. Jetzt sollte er nicht noch mehr Benzin ins Feuer kippen, sondern versuchen, sein Gegenüber zu beruhigen.

„Ich kann nachvollziehen, dass Sie im ersten Moment nicht begeistert sind. Gleichwohl kann ich Huber nicht in eine neue oder zerstrittene Redaktion setzen. Nur eine erfahrene Redaktion, die sehr gut geführt wird, kann dieses bewältigen.

Da sind Sie mir als erster eingefallen, Herr Scharzhofer. Vielleicht haben Sie ja eine noch bessere Idee. Wem würden Sie, wenn Sie an meiner Stelle wäre, Huber an die Hand geben?“

Mit dieser Frage hatte Kurt seinen eitlen Chefredakteur in die Falle gelockt und ausgeknockt. Wenn Scharzhofer nun einen anderen Namen nennt, würde er ja signalisieren, dass es jemanden gäbe, der noch besser ist als er. Diese Blöße würde er sich nicht geben.

„Mir fällt zwar jetzt auch nichts Besseres ein, aber ich bin nicht angetan von dieser Lösung.“

„Warten wir erst mal ab, wie Huber sich entscheidet. Jetzt denken Sie aber nicht weiter an die Arbeit. Ich hoffe, Sie erholen sich und Florida gefällt Ihnen?“

Scharzhofer berichtete kurz von ein paar Orten, die er mit seiner Familie besucht hatte, bevor das Gespräch beendet wurde.

Die zweite Postkarte

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