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Kapitel 5

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25. Juli 2011

Früh wachte Kurt auf; Regen klopfte sanft gegen die Fensterscheibe des Schlafzimmers. Die Nacht hatte er sich im Bett hin und her gewälzt.

Wie ein Teenager in dessen Bauch Schmetterlinge vorm ersten Rendezvous nervös emporflogen, bewegte Kurt sich durch den Vormittag. Mechanisch erledigte er die Korrespondenz. Es fiel ihm schwer die Inhalte seiner Telefonate, kurz nach dem Auflegen zusammenzuhalten.

Aus dem sechsten Stock betrachtete er wie dunkle Wolken ihre feuchten Ladungen über den Dächer und Straßenschluchten abluden. Er entschied, das Wetter nicht als eine Vorwarnung für die Begegnung, die ihm gleich bevorstand, zu deuten.

Kurt ersehnte das Wiedersehen mit Susanne und spürte zugleich eine Unruhe. Da sie keine Adresse oder Telefonnummer im Brief angegeben hatte, konnte er weder zu- noch absagen. Susanne verließ sich darauf, dass er käme. Nun hatte er das Wiedersehen in der Hand. Wenn er nicht hinginge, würde sie dann plötzlich im Büro erscheinen, abends vom Regen durchnässt an der Haustür klingeln oder lautlos davonziehen - wie damals?

Die Furcht vor einem unangemeldeten Auftreten von Susanne in seinem familiären Umfeld und die Neugier ob ihres Beweggrundes trieb ihn am frühen Nachmittag aus seinem Büro.

Während die Scheibenwischer ihm den Blick auf den vom Regen benetzten Asphalt der Stadt ermöglichten, lenkte Kurt voller unbewusster Erwartungen sein Fahrzeug durch die Stadt.

Nachdem er mit Mühe einen Parkplatz gefunden hatte, stampfte er durch einige nassgraue Straßen des Universitätsviertels, durchstöberte in der letzten Viertelstunde vor dem Treffen die Jazzsammlung in einem Plattenladen ohne auch nur einen Titel bewusst wahrzunehmen. Um eine Minute nach Drei ging er durch die vertraute Tür des „Cafe zeitlos“ in die unvertraute Situation. Als Student hatte er lange Jahr als Tresenkraft in dem Cafe gejobbt, das immer noch von Charlotte betrieben wurde. Das Cafe lag in einer vom studentischen Volk belebten Straße auf der Ecke zu einer kleinen Nebenstraße. Dadurch drang Tageslicht von zwei Seiten in den Gastraum ein und erzeugte eine warme sonnendurchflutete Atmosphäre. Während vor zwei Jahrzehnten massive Kiefernmöbel, ein uriger Tresen mit Barhockern und ein alter Dielenboden im Cafe eine Stimmung erzeugten, die dem Gast das Gefühl vermittelte, er sei in einer großen WG-Küche zu Besuch, betonten nun ein Stabparkettboden aus Bambus, dunkel gebeizte, kubische Walnusstische und -hocker mit cremefarbenen Lederauflagen vor Bordeauxroten Wänden eine edleres Ambiente. Beide Seitenwände wurden durch eine durchgehende Bank mit hoher Rückenlehne aus Leder dominiert, davor quadratische Tische. Hinter dem Tresen, der ebenfalls in dunklem Holz gehalten war, verhinderte eine raue Ziegelwand in ihrer Derbheit, dass das Cafe zu elitär wirkte und durch eine vorgespielte Hochnäsigkeit das gemeine Hochschulvolk abschreckte. Eine Mischung aus kubistischen Leuchten, die über den Tischen hingen, und ein warmes Licht von zielgerichteten Strahlern, die großflächige Bilddrucke von Paul Klee an den Wänden elegant in Szene setzen, verströmte ein faszinierendes Wechselspiel von Behaglichkeit und kühlen Understatement. In der Widersprüchlichkeit der einzelnen Elemente hatte Charlotte ein harmonisches Ganzes geschaffen. Kurt bewunderte sie erneut für ihre Fähigkeit, dem gastronomischen und modischen Zeitgeist immer einen halben Schritt voraus zu sprinten.

Kurt ging davon aus, dass Susanne an ihrem alten Stammplatz rechts vom Tresen neben der Espressomaschine sitzen würde. Doch dort saß eine junge Frau. An einem weiteren Tisch turtelte ein studentisches Pärchen, drei Studentinnen schlürften lachend an ihren Latte Macchiato, während ihre Studienunterlagen vor ihnen ausgebreitet lagen. Einige Geschäftleute mit Aktenkoffer und vereinzelt mit Laptop saßen an den Tischen. An der linken Raumseite fand Kurt nahe am Fenster einen freien Tisch. Es setzte sich auf die lange Bank, so dass er das Cafegeschehen beobachten konnte. Charlotte war nicht im Laden. Zuletzt hatte Kurt vor einem Jahr das Cafe besucht und mit ihr nett geplaudert.

Kurt bestellte einen Cappuccino, beobachtete die Besucher, das Straßengeschehen sowie die ein- und ausgehenden Gäste und klopfte mit den Finger ein nervöses Staccato auf die Tischplatte. An der gegenüberliegenden Wand saßen zwei Frauen, die ungefähr in Kurts Alter waren und sich intensiv unterhielten. Zwei Tische von diesen beiden entfernt, saß eine elegant gekleidete Dame im gleichen Alter und rührte lang anhaltend in einem großen Becher. Sie hatte dunkle Haare, die wohl gefärbt waren, und hatte sich in einem Buch vertieft. Kurt betrachtete sie näher. Bis zu diesem Moment hatte er sich keine Gedanken gemacht, wie Susannes Äußeres sich nach über zwanzig Jahren verändert haben könnte. Doch je länger Kurt die drei Damen beobachte, um so sicher wurde er, dass keine von ihnen Susanne sein könnte.

Ist Susanne wohlmöglich etwas dazwischen gekommen oder wollte sie ihn provozieren oder sitzt nun woanders und beobachtet ihn? Die Zeit des ungewissen Wartens erhöhte seine Unruhe und vermehrte die widersprüchlichen Erklärungsversuche, die durch seine cerebralen Windungen irrten.

Die junge Frau am Tresen stand abrupt auf und kam direkt auf ihn zu. Intuitiv hielt Kurt den Atem an.

„Kurt Assens“ waren die beiden Worte, die ein bestimmendes Fragezeichen begleiteten. Kurt erstarrte und nickte kurz. Sie nahm selbstsicher einen Hocker.

„Sie gestatten?“ sagte sie scheinbar gelassen, doch Kurt nahm ein verstecktes Zittern in ihrer Stimme wahr. Selbst brachte er nur ein durch die Halsmuskulatur verursachtes Auf und Ab seines Kopfes zustande. Eine attraktive junge Frau saß ihm gegenüber; um die 1,75 groß, schlank, blonde, glatte Schulterlange Haare, und braune Augen. Sie trug eine blaue Jeans, die auf ihren schmalen Hüften saß. Über einem weißen T-Shirt mit Blumen in unterschiedlichen Rottönen, das Kurt an die Flower-Power-Bewegung erinnerte, trug sie eine dunkelrote Strickjacke. Ihre bunte Umhängetasche ließ sie lässig mit ihrer lindgrünen Regenjacke, auf den Boden gleiten. Ihr Mund mit hübschen Schmolllippen öffnete sich und eine leicht-rauhe Stimme warf ihm eine Frage entgegen.

„Sie wirken enttäuscht. Sicher erwarten Sie Susanne?“

„Wer sind Sie?

„Mein Name ist Helena; meine Mutter heißt Susanne Meyer.“

Kurt wurde heiß und eine Frage quoll hektisch aus ihm heraus: „Wann sind Sie geboren?“

„Ich wurde am 23.August 1991 in Griechenland geboren. Meine Mutter verließ Hamburg wie Sie wissen zwischen Weihnachten und Silvester 1989, reiste nach Indien, Thailand und Australien. 1990 ließ sie sich in Griechenland in einem kleinen Fischerdorf auf dem Peloponnes nieder und lernte Jorgos kennen.“

Kurts Anspannung ließ nach und seine Neugier stieg an. Einen kurzen Moment hatte er befürchtet, dass Helena seine Tochter sein könnte, doch Helenas Antwort schloss dieses aus. „Warum suchen Sie mich auf und nicht Susanne selbst?“

Helenas antwortete darauf verhaltend, für Kurts Empfinden ausweichend: „Ich wollte den Mann kennen lernen, der meine Mutter inspiriert hat, ihren vorgezeichneten Weg zu verlassen und sich auf eine ungewisse Welterkundung einzulassen.“

Auch wenn er es spannend fand ihrer Tochter zu begegnen, hätte Kurt lieber Susanne selbst getroffen. „Wo lebt Susanne und wie geht es ihr?“

„Seit meiner Geburt lebt meine Mutter in einem kleinen Dorf auf dem Peloponnes, gemeinsam mit Jorges und mir. Sie betreibt ein kleines Cafe am Hafen und genießt das einfache Leben. Gefällt Ihnen Ihr Leben?“

Die Direktheit der Frage überrumpelte Kurt, er zuckte kurz innerlich und atmete tief ein. „Mit welcher Absicht kommen Sie hier her?“

„Das sagte ich bereits. Mein Interesse ist es Sie näher kennen zu lernen.“

Ihre Penetranz und ihr dominant forsches Auftreten irritierte Kurt, daher betrat er einen Nebenschauplatz: „Sie können mir viel erzählen; warum sollte ich glauben, dass sie wirklich Susanne Tochter sind?“

„Weil sie unter dem rechten Schulterblatt einen kleinen Leberfleck haben, früher in Tageszeitungen die Schlagzeilen für ihre Kabarettprogramme durchstöberten und meiner Mutter am liebsten Milchkaffee in Schalen servierten. Und falls Sie immer noch Zweifel haben, nannten Sie nicht Susanne in intimen Momenten „meine revolutionäre Bankräuberin?!“

Kurt errötete; es gab wohl keine Intimität, die Susanne ihrer Tochter verheimlicht hatte. Um das Thema nicht weiter zu vertiefen, fragte Kurt, ob Susanne wisse, dass Helena ihn besuche?

„Ich habe ihr gesagt, dass ich Deutschland und auch Hamburg besuchen wolle und falls es sich ergäbe, würde ich schauen, wer Sie sind und wie Sie leben.“

„Warum ist Susanne nicht mit Ihnen gereist?“

„Sie ist glücklich dort wo sie lebt. Warum soll sie einen unnötigen Blick in die Vergangenheit werfen?“

„Was hat Ihnen Susanne von mir erzählt und über uns?“

„Nicht viel und doch nicht wenig - wie Sie meinen geschilderten Detailkenntnissen entnehmen können. Über Susannes Erlebnisse mit dem anderen Geschlecht bin ich bestens informiert, genauso wie auch sie über meine.“

Ihr forsches Auftreten mit einer Brise Frechheit lösten keine Sympathiewelle in Kurt aus.

„Erzählen Sie mir von Ihnen, wo leben Sie und wie sieht ihr Alltag aus?“

„Ich studiere Anglizistik und Germanistik. Da Shakespeares Dramen mich am meisten beeindrucken, absolviere ich momentan ein Auslandssemester in London. Sie erinnern mich an die griechische Mythologie. Beeindruckend mit welchem Schaffensdrang jemand um 1600 so analytisch das menschliche Dilemma mit seiner Zerrissenheit und Widersprüchlichkeit theatralisch inszenierte. Daneben fasziniert mich mit Goethe und Schiller. Bevor ich nach Hamburg kam, besuchte ich Weimar. Beeindruckend wie epochale Literatur an einem so kleinen Ort ihren Ursprung fand.“

Trotz ihres altklugen Dozierens konnte Kurt ihren Enthusiasmus für die deutschen Klassiker zu gut nachvollziehen. „Ihre Begeisterung teile ich. Während meines siebenjährigen Germanistik-Studiums unternahmen wir 1986 eine Studienfahrt nach Weimar. Wie Sie sagen ´so klein` und doch gingen von hier so viele Strömungen und Gedanken aus: die Literatur von Wieland, Herder, Goethe und Schiller. Die Weimarer Republik 1919 und der Bauhausstil. Wir reisten mit unserem Professor für fünf Tage im Herbst dorthin. Trafen uns mit wohl ausgesuchten, belesenen und politisch aus Sicht der DDR-Regierung gut geschulten Germanistik Studenten aus Jena. Langweilig, weil keine offene Diskussion möglich war. An Goethes und Schillers Schreibtischen zu stehen, den Orten wo ihre genialen Gedanken einst wehten und schließlich auf Papier fest verankert wurden, das war für mich mystisch.“

Im Geiste sann er diesen Momenten nach. Helena beobachtete ihn schweigend. Ein kurzes Zucken durchzog Kurt, als sein Bewusstsein ins Cafe zurück rutschte. „´tschuldigung, ich schweife ab.“

Helena hob minimal ihre Schultern an und ließ sie genauso laisse faire sinken.

Schnell schob Kurt hinterher: „Wie gefiel Ihnen Weimar?“

„Sehr sauber und zu touristisch. Goethes Wohnhaus erschien mir wie eine Disney-Attraktion. Keine Chance in diesem Massenandrang auch nur die Spur seines Geistes wahrzunehmen. So beeindruckend das Bauhaus ist, mir war alles zu steril, museal.“

Das Gespräch verstummte, schweigend schauten beide auf die Straße. Mit Blick nach außen fragte Helena:

„Was machen Sie beruflich?“

„Ich leite den Programmbereich für Talkshow und politische Magazine bei einem privaten Fernsehsender.“

„Was für Talkshow sind dieses?“

„Kennen Sie ´Talk um 5 vor 12` oder `Ich sehe das anders!?`“

„Nein, ich muss passen, ich schaue sehr wenig Fernsehen und deutsches schon gar nicht.“

„Es sind zum einen Sendungen zu politischen Themen und zum anderen zu menschlichen Problematiken wie z. B. Schulden, Umgang mit Arbeitslosigkeit aber auch zwischenmenschlichen Themen.“

„Was versteckt sich hinter letzteren Themen?“

„Vieles: Bewältigung von Krisen, Schicksalsschlägen, Krankheit, Trennung, Untreue, Sexualität, Partnerschaft.“

„Klingt nach Boulevard-Journalismus: Wir baden uns voyeuristisch im Schicksal von anderen.“

Ihre Arroganz missfiel Kurt; wortlos rührte er in seinem Latte Macchiato. Helena schien seine mentale Verschnupfung zu bemerken. Mit etwas weicherer Stimme fragte sie ihn, ob ihm die Arbeit Spaß mache.

„Ja, ich habe zwar viel Stress, lerne dafür interessante Menschen kennen und kann Dinge gestalten. Jede Woche entscheide ich mit, welche Themen im TV-Programm behandelt werden.“

„Sie scheinen eine hohe Position mit umfangreichen Einwirkungsmöglichkeiten inne zu haben. Wird Ihnen die Größe dieses Machtraumes nicht auch unheimlich?“

„Keineswegs. Ich genieße diesen Gestaltungsspielraum. Die Themenvorschläge sammeln wir in der Redaktionssitzung. Meist bilden sich zwei oder drei Ideen heraus. Wenn wir uns nicht einigen können, gehört es zu meinen Kompetenzen die Entscheidung zu fällen. Es fasziniert mich, Einfluss bei der öffentlichen Meinungsbildung zu besitzen.“

„Sie haben also die Macht Menschen zu manipulieren“, stichelte Helena mit angeschärftem Ton.

„So dürfen Sie das nicht interpretieren. Schauen Sie, ich würde es folgendermaßen beschreiben: Wir stellen einen Stuhlkreis mit einem Moderator zur Verfügung. Stellen eine Frage in den Raum; und Menschen, die meinen zu diesem Thema etwas sagen zu haben, ermöglichen wir dieses dann. Unsere Zutat ist dann nur noch, dass wir ein paar Kameras auf diese Runde richten und den Fernsehnutzern bieten wir an, sich dieses anschauen. Es ist ihre Wahl, ob sie ihren Fernseher einschalten und welche Tastenkombination sie auf ihrer Fernbedienung drücken. Wenn sie unseren Sender auswählen, freut uns das. Von daher beschreibt Manipulation nicht unser Angebot.“

Nach einer kurzen Stille schoss Helena eine Batterie von Fragen nach Lebenssituation, Familie und Freizeitgestaltung ab.

Beruhigt nahm Kurt zur Kenntnis, dass sie die gewetzten Messer abgelegt hatte. Im Schnelldurchlauf erzählte er von seiner Familie und seinen beiden Hobbys.

„Wie haben Sie ihre Frau kennengelernt?“

„Als ich beim Fernsehen im dritten Programm tätig war, lernte ich sie als eine der Assistentin im Redaktionsbüro kennen. Ich schätzte ihre verlässliche und loyale Arbeit.“

„Scheinbar nicht nur die“, rutschte es Helena heraus.

„Diplomatie gehört offensichtlich nicht zu Ihren Stärken.“

Helena schoss das Blut in die Wangen.

„Entschuldigung. Wahrscheinlich liegt es an meiner Nervosität. Es ist nicht gewöhnlich, dass man einen fremden Mann trifft, der vor über zwanzig Jahren eine Zeitlang der wichtigste Mensch im Leben der eigenen Mutter war. Hätte Susanne Sie nicht getroffen, wäre sie wohl weiter als Bankkauffrau tätig gewesen, hätte ihren damaligen Freund geheiratet, wahrscheinlich zwei bis drei Kinder bekommen und würde jetzt in einer Einfamilienhaussiedlung leben und ihren Garten pflegen. Mir ist es ein Bedürfnis, Sie kennen zu lernen und auch zu erfahren, wie Sie den Sinneswandel meiner Mutter wahrgenommen haben.“

Gibt es Dissonanzen zwischen Susanne und ihrer Tochter? In Kurt keimte der Eindruck, dass Helena Einblick in ein Kapitel von Susannes Lebensweg erhaschen wollte, der ihr bisher vorenthalten wurde. Auch wenn Helena anfangs betont hatte wie eng Mutter und Tochter sich standen, fragte Kurt sich, ob dieses in allen Dingen so war. Welche Antworten suchte Helena?

„Um auf ihre Frage zurückzukommen: In unserer Branche gibt es keine nine-to-five-jobs; politisch unruhige Zeiten und Projekte fordern, dass man abends und auch mal am Wochenende arbeiten muss. Berufsbedingt arbeiteten Manuela und ich in solchen Ausnahmezeiten häufiger zusammen. Ihre Souveränität und die Ruhe, die sie selbst, wenn es hektisch wurde, ausstrahlte, faszinierten mich. Für mich war sie in unruhigen Fahrwassern ein Fels in der Brandung. Nicht verwunderlich, dass das Segeln unser gemeinsames Hobby wurde. In stürmischen Zeiten die Ruhe bewahren und sich auf einander verlassen können, das zeichnet unsere Beziehung aus.“

„Arbeiten Sie beide immer noch zusammen?“

„Nein, zusammenarbeiten und zusammenleben geht meiner Meinung auf Dauer nicht gut!“

Interessantes Lebenskonzept und verkehrte Welt dachte Helena: Der Typ, der mit seinem liberalen unverbindlichen Lebensstil meine Mutter aus dem konservativ bürgerlichem Modell befreit hatte, lebte diese nun – und dazu noch überzeugt – selbst.

So macht jeder sich was vor.

„Meine Mutter hat mir erzählt, dass ihr Vater ein erfolgreicher Rechtsanwalt ist. Wie sind sie aufgewachsen?“

„Inzwischen ist mein Vater längst im Ruhestand. Meine Eltern leben beide in einer Seniorenresidenz. Mein Bruder ist in unser Elternhaus eingezogen und betreibt die Kanzlei weiter.“

Kurt gab ihr einen Überblick über seine Kindheit und Schulzeit. Er erzählte von seiner Liebe zum Theater und zur Musik, von seinem Freund Heinz, mit dem er zusammen Rainer Maria Fassbinder verehrte und von den Jugendclubs, in denen über die Sinnhaftigkeit des Seins philosophiert wurde.

„Klingt spannend. Was für Musik haben sie gehört?“

Kurt lachte kurz auf. „Oh je. Für intellektuelle Weltmenschen, für die wir uns hielten, gehörte es sich, The Who, The Doors, Pink Floyd und andere Vertreter des Psychedelic Rock sich rein zu ziehen und nicht nur das inhalierten wir“ sagte Kurt mit einem süffisanten Grinsen auf den Lippen.

„Aha, da sitzt also ein Kiffer vor mir.“

„Na ja, ein ehemaliger. Wollte man dazugehören, kiffte man.“

„Wie reagierten ihre Eltern auf den kiffenden Sohn?“

Kurt lachte, „Sie haben es nicht mitbekommen oder falls doch haben sie es ignoriert. Seit meiner Kindheit war unser Familienalltag davon geprägt, dass mein Bruder Dieter mich drangsalierte. Im Chor mit unserem Vater kritisierte er meine fehlende Zielgerichtetheit und linke Verträumtheit. Als ich kurz vor dem Abitur den Kriegsdienst verweigerte, wurde ich von beiden als Vaterlandsverräter und RAF-Unterstützer beschimpft. Zum endgültigen Eklat kam es, als am Nikolausabend 1976 es an der Tür klingelte. Nur statt des alten Herrn im roten Mantel und mit Sack standen dort vier Herren in grünen Jacken; sie ließen meinen beleibten Vater links liegen. Zwei stürmten die Treppe hinauf und die beiden anderen ins Wohnzimmer, wo die gesamte Familie in trauter Eintracht beim Abendbrot saß.

Zwei Minuten später eskortierte mein Vaters starrer Blick mit drehender Kopfbewegung den Auszug der Gladiatoren, die seinen Sohn wegen des Verdachts Mitglied einer terroristischen Gruppierung zu sein mit Polizeigriff in einem Peterwagen quetschten.“

„Wieso wurden sie verhaftet?“, fragte Helena gespannt.

„Die RAF hatte ihre Hochzeit und schnell wurde man als Sympathisant verdächtigt. Gelegentlich ging ich auf Demonstrationen. Es gehörte zu den selbstverständlichen Spielregeln des linken Lebens, auf der Straße zu rebellieren.

Auf einer dieser Demos ging ich zufällig neben zwei Männern, die in den Untergrund abgetaucht waren. Schließlich konnte ich die Ermittler überzeugen, dass von mir keine terroristische Gefahr ausging.“

„Was haben ihre Eltern gesagt, als sie zurückkamen?“

„Zunächst begegnete ich eisigem Schweigen, als ob Ignoranz mich bestrafen sollte. Am ersten Weihnachtstag implodierte die kollektive Grabesstille. Aufgrund des Besuches unserer Großmutter und der eigenen festlichen Erwartungen unternahm unsere Mutter den Versuch, die frostige Familienstimmung vorsichtig aufzutauen. Diplomatisch umschrieb sie meine Verhaftung als aufregende Adventszeit und äußerte die Hoffnung, dass alle eine friedvolle, besinnliche Zeit miteinander verbringen würden. Dieser Wunsch überforderte unseren Vater. Wie könne er besinnliche Tage verbringen, wenn der jüngste Sohn so von Sinnen sei, dass sein Telefon – wohlgemerkt der Anschluss eines Rechtsanwalts – vom Verfassungsschutz abgehört werde.

Ich hielt dem entgegen, dass mein Vater den gleichen blinden Staatsgehorsam an den Tag lege wie sein Vater. Um nicht Verfolgte der Nazidiktatur zu verteidigen, wechselte unser Großvater, der hoch angesehene Rechtsanwalt Prof. Dr. Theodor Assens während des Dritten Reichs aus dem Strafrecht schnell ins Wirtschafts- und Vertragsrecht. Als ich meinem Vater deshalb vorschlug, er könne Organisationen, die Opfer der Nazidiktatur unterstützen, Geld spenden, explodierte er und entzog mir das Wohnrecht in seinem Haus.“

„Sind sie sofort ausgezogen?“

„In die entstandene Stille sagte meine Oma, die bis zu diesem Zeitpunkt geschwiegen hatte, ´Kurt, ich vergaß, ich habe übrigens noch ein kleines Geschenk für dich`. Am Tisch schauten sich alle verdattert an, wie konnte Großmutter angesichts dieses heftigen Streits nur an ein Geschenk denken? Mit ruhiger Stimme schob sie hinterher: ´Das Problem ist, es lässt sich so schlecht verpacken - dein Wohnrecht in meiner Wohnung.`

Stille Nacht – keiner rührte sich, bis unser Vater sich entschloss wie der Stern von Bethlehem am Horizont zu verschwinden. Noch am zweiten Weihnachtstag packte ich meinen Koffer, schnappte meine Stereoanlage nebst Schallplattensammlung und bezog Quartier bei meiner Großmutter.“

„Sie schienen zu Ihrer Oma ein besonderes Verhältnis gehabt zu haben?“

„Sie war meine Fürsprecherin in der Familie. Unser Vater ließ keine Widerrede zu und bügelte alles platt. Der Gerichtssaal war der einzige Ort, an dem er Gegenargumente zuließ, bevor er sie juristisch versiert in Fetzen zerriss. Oma Hertha unternahm viel mit mir und baute mich immer auf. Trost, bedingungslose Annahme und Zärtlichkeit bekam ich von ihr. Ihr vertraute ich meine schulischen Probleme und die Gemeinheiten meines Bruders an. Selbst während des Studiums war sie die einzige aus der Familie, die ich zweimal monatlich besuchte.“

„Wohnten Sie lange bei ihrer Großmutter?“

„Während meines Zivildienstes in einem Krankenhaus und meines Jobs als Helfer in einem Maschinenbauunternehmen wohnte ich bei meiner Oma; insgesamt knapp drei schöne Jahre.

Erst als ich studierte, mietete ich eine kleine Wohnung an.

„Wie sahen ihre weiteren politischen Aktionen aus?“

„Vereinzelt ging ich noch auf Demonstrationen. Allerdings schreckten mich große Menschenansammlungen ab. Ich teilte damals die links-marxistisches Kritik. Allerdings konnte ich die Sympathie für die RAF nicht nachvollziehen. Ihre verzweifelte Ohnmacht konnte ich nachvollziehen, aber den gewalttätigen Weg nicht. Das Schwarz-Weiß-Denken beider Seiten ging mir gegen den Strich. Alle waren so verbissen und ernst.

Mit meinem Freund Thies, den ich während meines Jobs in der Maschinenbaufirma kennenlernte, habe ich viel über linke Gruppierung gelästert. Thies selber war zwar in einer aktiv, aus Überzeugung Metallbauer und eingefleischter Gewerkschafter, aber er besaß die große Gabe der Selbstironie. Wir besuchten mehrfach Kabarettprogramme.

Diese Form der Staatskritik gefiel uns: Nicht mehr auf Demos mit Steinen Staatsbeamte bewerfen, sondern die Politik des spießbürgerliche Etablissement mit Worten bombardieren, die sowohl deren Widersprüchlichkeit als auch deren unkritisches und staatsloyales Denken zu Tage förderten. So entstand die Idee eine eigene Kabarettgruppe zu gründen.

„Meine Mutter erwähnte, dass sie sehr lange studiert haben.“

„Nicht nur das: Mit meinen Fachrichtungen Theaterwissenschaften, Philosophie und Germanistik würde ich heutzutage in der Rubrik perspektivloser Exot landen.

„Wieso wechselten Sie zweimal das Studienfach?“

„Aufgrund meiner Schulkarriere lag die Theaterwissenschaft nahe. Doch nach vier Semestern ging mir die geballte Ansammlung von potentiellen Hollywood-Regisseuren und gefühlten Intendanten auf den Wecker. Auf der anderen Seite der Skala bewegten sich einige wenige analytisch-denkende Studenten, die jedes Theaterstück zerpflückten und zermahlten. Heutzutage sezierten sie als Redakteure von Tageszeitungen die Inszenierungen ihrer ehemaligen Kommilitonen mit chirurgischer Gründlichkeit.

Kurz schnupperte ich in die philosophische Fakultät, bevor ich mich der Germanistik zuwandte. Statt über dramaturgische Interpretationsversuche von Theaterstücken oder philosophischen Ergüssen im Studentenkreis zu schwadronieren, wollte ich mich lieber mit den literarischen Originalen auseinandersetzen.“

Kurt schaute auf seine Armbanduhr und erschrak. „Oh, ich bin in einer halben Stunde mit meinem Sohn Henning zum Abendessen verabredet. Das ist mir jetzt unangenehm. Wollen wir uns noch ein weiteres Mal treffen?“

„Ich bin noch ein paar Tage in Hamburg. Eine spannende Zeit von der sie gerade erzählten. Hätten Sie Lust mir den Ort an der Elbe zu zeigen, den meine Mutter liebte?“

„Ach ja, der Elbsand bei der guten alten Strandperle. Ja, diesen Kiosk gibt es immer noch. Morgen ist mein Terminkalender voll, aber wie sieht es Übermorgen bei Ihnen aus, so ab 16.30? Wir könnten uns hier vorm Cafe treffen und fahren dann an die Elbe.“

„Einverstanden.“

Kurt stand auf, bezahlte für beide und verschwand im Regen.

Helena bestellte sich noch einen Latte Macchiato und rührte Gedanken versunken darin. Wie konnte aus einem linken Studenten so ein arroganter Medienschnösel werden?

Die zweite Postkarte

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