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Kapitel 9

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27. Juli 2011

Da Werbebroschüren ihm aus dem Briefkasten entgegenstarrten, ging er davon aus, dass Henning nicht daheim war. Der unbeantwortete Widerhall seiner Stimme bestätigte ihm diese Mutmaßung. Kurt ging in die Küche, entnahm dem Kühlschrank ein Bier und genoss dieses auf der Terrasse, während er eine Wochenzeitung las. Als Henning gegen 23.00 Uhr immer noch nicht erschien, versuchte Kurt ihn auf seinem Mobiltelefon zu erreichen. Erneut schallte ihm lediglich der Technosound des Anrufbeantworters entgegen. Erschöpft von diesem Tag räumte Kurt zunächst ein wenig in der Küche auf. Nach dem Routinebesuch im Badezimmer legte er sich aufs Bett. Vor seinen inneren Augen ließ er die Gespräche mit Dr. Gründgens, Andresen und Helena Revue passieren und schlief schließlich ein.

Aufgeschreckt durch einen Knall fuhr Kurt mitten in der Nacht hoch. Das Adrenalin in seinen Adern weckte ihn schlagartig. Kurt lauschte in die Dunkelheit hinein. Kein Ton war zu hören. Wahrscheinlich hatte er doch nur geträumt. Gerade als er seinen Kopf wieder auf dem Kissen ablegte, hörte er kurz eine menschliche Stimme. Der Wecker zeigte 0.45, als Kurt sich vorsichtig erhob und zur Tür schlich. Nun vernahm er zwei Stimmen, die ihm Erdgeschoss flüsterten. Vorsichtig öffnete er die Tür einen Spaltweit. An der giggelnde Stimme erkannte er seinen Sohn. Im Schlafanzug empfing er Henning und dessen Freundin am oberen Ende der Treppe. Ina erschrak und Henning krümmte sich vor Lachen, als er seinen Vater sah.

„Was besseres als Lachen fällt dir nicht ein, wenn du mich in tiefer Nacht weckst?“ donnerte Kurt ihm entgegen. Mit großen Augen starrte Henning seinen Vater an, bevor er sich erneut in einer Lachattacke ergab. Feixend und Grimassen ziehend versuchte Henning sich an Kurt vorbeizuschieben.

„Du bist ja völlig stoned. Hast du wieder Pillen geworfen?“

„Nein, nein, wir sind in einer Kneipe mit ein paar Freunden versackt. Ich glaube, Henning sollte jetzt lieber ins Bett. Alles Weitere können wir doch morgen besprechen“, schob Ina schnell ein und leitete Henning in Richtung des Badezimmers. Henning pendelte zweimal aufgekratzt zwischen seinem Zimmer und dem Bad hin und her, während Ina ihm mütterlich klingende Anweisungen hinsichtlich der Körperpflege und des Umziehens gab. Verstimmt beobachtete Kurt das Geschehen. Angesichts des gestressten Blicks von Ina sah er von einer weiteren elterlichen Intervention gegenüber seinen Jüngsten ab. Besorgt dachte er an das Gespräch am nächsten Morgen und legte sich wieder ins Bett.

28. Juli 2011

Die graue Wolkendecke spiegelte seine innere Verfassung wider. Träge bewegte er sich ins Badezimmer. Der Wasserstrahl der Dusche regte ein paar seiner Lebensgeister an. In der Küche brühte er sich einen Cafe Latte, löffelte das Müsli in sich hinein, während er die Tageszeitung durchblätterte. Eine kurze Zeit später trat Ina in die Küche. Mit einem kurzen Morgengruß ging sie zum Kühlschrank, schenkte sich ein Glas Milch ein und schlürfte mit diesem in der Hand zum Flur. Als sie die Türschwelle erreicht hatte, stoppte Kurt sie. „Ina, bitte setz dich doch mal kurz zu mir.“

Sie drehte sich um und sah Kurt mit verunsichertem Blick an. Nach einem kurzen Zögern setzte sie sich an den Küchentisch.

„Würdest du mir bitte sagen, was gestern Abend geschehen ist.“

„Wir waren mit Lothar unterwegs und die Jungs haben ein paar Bier getrunken.“

„Nur Bier?“

„Ich glaube, es waren auch noch ein oder zwei Wodka mit Mangosaft dabei.“

„Trinkst du nichts?“

„So gut wie nichts. Mir wird schlecht, wenn ich mehr als zwei Gläser trinke.“

„Dann sei froh. Ist bestimmt nervig, wenn man den ganzen Abend Jungs beim Trinken zu sieht.“

Als Antwort erhielt Kurt ein Schulterzucken.

„Ihr seid in einem Alter, in dem man neue Erfahrungen sucht und Dinge ausprobiert. Meine Frau und ich machen uns große Sorgen um Henning. Wir zweifeln gerade daran, dass er seinen Alkohol- und Ecstasy-Konsum im Griff hat. Findest du Hennings Verhalten normal oder machst du dir nicht auch gelegentlich Sorgen um Henning?“

Ina nippte an ihrem Glas Milch, bevor sie ihre Meinung kundtat. „Ach, Herr Assens. Ich glaube, es existiert ein Unterschied in der evolutionären Entwicklung von Jungs und Mädels. Mädels sind brav und vorsichtig, während die Jungs sich ausprobieren. Henning ähnelt in diesem Punkt den meisten Jungs in unserer Schule.“

Eins konnte Kurt nicht leugnen: Sein Sohn hat Geschmack und sich eine pfiffige Freundin ausgesucht, die eine elegante Argumentationstechnik beherrscht.

„Charles Darwin wird wohl kaum an Ecstasy als Medium zum Erreichen der nächsten Entwicklungsstufe gedacht haben“, ergänzte Kurt.

„Herr Assens, Sie haben mir doch selbst vor ein paar Tagen von ihren Drogenerfahrungen als junger Mensch erzählt. Statt Haschisch probieren die Jungs heutzutage Spaßpillen. Das ist eine Phase, die geht wieder vorbei.“

„Ich wünsche, du hättest mit deinen Worten Recht, Ina. Kannst du garantieren, dass Henning seinen Ecstasy-Konsum im Griff behält und nicht auf die schiefe Bahn gerät?“

Ina holte tief Luft und starrte für kurze Zeit auf die Tischplatte. Schließlich blickte sie auf. „Garantie ist ein schweres Wort. Ich glaube, momentan rebelliert er gegen Sie als Eltern, weil Sie ihm misstrauen und kontrollieren. Geben Sie ihm einen Vertrauensvorschuss.“

„Es gibt zwischen Henning, seiner Mutter und mir die Absprache, dass er sich täglich einmal mit mir trifft. Das hat in den letzten Tagen nicht reibungslos funktioniert.“

Mit behutsamer Stimme betonte Ina, dass dieses nicht nur an Henning gelegen habe, sondern auch Kurt Termine nicht eingehalten habe.

Treffer, versenkt, dachte Kurt. Die junge Dame verfügt über feine Argumentationswaffen, die sie wohl dosiert platziert.

„Ich habe meiner Frau zugesagt, dass ich Henning während ihres Aufenthalts auf Mallorca unter meine Fittiche nehme. Wenn ich diese Zusage nicht gemacht hätte, würde meine Frau Henning wohl 24 Stunden am Tag persönlich observieren. Meine Frau kommt am Sonntag wieder. Nun Frage ich dich, Ina: Wie gestalten wir die noch verbleibenden Tage bis zur Rückkehr von Manuela, ohne dass Henning gegen die Spielregeln verstößt?“

Inas Blick taste die Küchenzeile ab. „Ich zweifle, dass eine Moralpredigt von Ihnen Erfolg haben wird. Nehmen Sie es nicht persönlich, aber von Ihnen und Ihrer Frau lässt sich Henning aktuell nichts sagen. An diesem Punkt ist er auf Krawall gebürstet. Ich schlage daher vor, dass ich mit ihm rede. Was anderes fällt mir jetzt auch nicht ein.“

Diese junge Dame hat gut reden, dachte Kurt. Natürlich nehmen er und insbesondere Manuela das Verhalten von Henning sehr persönlich. Andererseits gefiel Kurt die Idee, dass Ina sich bereit erklärte, sich in die Pflicht nehmen zu lassen. „Okay, dann gehe ich davon aus, dass du mit ihm viel Zeit verbringst und auch abends ein Auge auf ihn hast.“

Ina nickte genau in dem Moment als Schritte auf der Treppe zu vernehmen waren. „Dann haben wir ja alles geklärt“, sagte Kurt und stand auf. Im Flur traf er Henning, der in weißer Boxershot und grünem T-Shirt ihn skeptisch ansah.

„Moin, ich muss jetzt ins Büro. Du hattest ja ordentlich einen im Kahn, mein Lieber. Wollen wir heute Abend zusammen grillen, so gegen halb acht? Hättest du auch Lust dazu, Ina?“

„Gerne“, antwortete Ina eine Nuance zu euphorisch und schob schnell nach „Wir können ja den Einkauf übernehmen.“ Dann fasste sie mit dem linken Daumen und Zeigefinger ihre Unterlippe. „Ähm, wir haben allerdings kein Geld zum Einkaufen“, erwähnte sie kleinlaut.

„Daran soll es nicht scheitern“, sprach Kurt und entnahm einen Hundert-Euro-Schein seinem Portemonnaie. Anschließend nahm er seine Jacke von der Garderobe und verließ das Haus.

Sprachlos schaute Henning seinem Vater hinterher. Mental hatte er sich auf eine väterliche Standpauke zum Frühstück eingestellt. Diese lockere und entspannte Begegnung brachte ihn aus dem Konzept.

„Solch eine Begrüßung von Papa habe ich nicht erwartet Worüber habt ihr beiden gesprochen?“

„Dein Vater hat mir seine Sorgen geschildert. Er kann deinen Konsum nicht einschätzen.“

„Das geht ihn auch gar nichts an. Ich bin alt genug. Wahrscheinlich hast du ihm auch alles bis ins kleinste Detail geschildert.“

Ina schaute Henning mit zornigem Blick an. „Logo, ich habe ihm jede Pille genannt, die du geschmissen hast, und die Wirkung genauestens beschrieben.“

Nach einer zwei Sekunden langen Pause fuhr sie Henning an. „Nein, du Blödmann. Unterstelle mir so etwas nicht noch einmal. Natürlich habe ich deinen Drogenverbrauch nicht offen gelegt, sondern versucht deinen Vater zu beruhigen, was mir wohl bedeutend besser gelingt als dir. Aber wenn du mich so anpampst, wäre es bestimmt passender gewesen, ich hätte dich als Ecstasy-abhängigen Jugendlichen geoutet.“ Dann begutachtete sie Henning von oben bis untern. „Manchmal denke ich, du bist es bereits“, legte sie mit ruhigem, analytischem Tonfall nach und ging ins Badezimmer.

Die zweite Postkarte

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