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Kapitel 6

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25. Juli 2011

Mit zehnminütiger Verspätung parkte Kurt auf dem Stellplatz. Er sprintete durch den Regen ins Haus und hörte schon beim Aufschließen der Eingangstür wie das eintönige, inzwischen vertraute Wummern des Techno-Breis aus dem oberen Stockwerk über die Treppenstufen ihm entgegen quoll. Das einzig beruhigende an diesem metallisch-hippeligen Dröhnen war die Gewissheit, dass der Sohn zuhause war.

Mit lautem Pochen an Hennings Zimmertür verkündete Kurt seine Ankunft. Sie einigten sich auf die kulinarische Rarität Rumpsteak und Tomatennudeln. Während sie gemeinsam in der Küche am Gemüseschneiden und Brutzeln waren, versuchte Kurt mehr über die Drogenerfahrung seines jüngsten Sohnes zu erkunden.

Mit einer Betonung, die eine dezente Genervtheit verriet, meinte Henning: „Papa, können wir nicht einmal einen Abend ohne dieses Thema verbringen?“

Kurt ließ ihre letzten Gespräche vor seinem inneren Auge Revue passieren und konnte Hennings Argumentation nachvollziehen. Da davon auszugehen war, dass Manuela nach ihrem Urlaub verstärkt Henning beobachten und kontrollieren würde, wäre es sinnvoll, wenn Kurt diesem Trend nicht folgen würde. Am besten dachte sich Kurt, ich gestalte den Kontakt mit Henning so wie immer. Dieses würde die Gefahr verringern, dass er sich gänzlich vor den Eltern verschließt.

„Okay, was hältst du von einem netten Fernsehabend angesichts des Wetters?“

„Das klingt gut. Es gibt einen witzigen amerikanischen roadmovie. Wollen wir den sehen?“ Kurt nickte und der alte Germanist in ihm ärgerte sich über den Anglizismus. Gleichzeitig dachte er, dass „Straßenfilm“ auch nicht gerade attraktiv und zeitgemäß klang.

Nachdem sie mit Chips und Smalltalk einen entspannten Fernsehabend verbracht hatten, ging Henning in sein Zimmer.

Während Kurt seinem Gaumen anschließend noch ein Glas von einem guten Bordeaux aus dem Pauillac gönnte, lief das Gespräch mit Helena wie eine Wiederholungssendung vor seiner inneren Mattscheibe ab. Seine Gefühle waren ambivalent. Zum einen gefiel ihm ihr interessiertes Zuhören und Nachfragen. Zum anderen störte ihr forsches und anmaßendes Auftreten, das vereinzelt ins Unverschämte kippte.

Ihn selbst überraschte, wie viel er von sich einer fremden Person offenbarte.

Letztendlich musste sich Kurt eingestehen, dass der Gesprächsverlauf betörende Wirkung auf ihn hatte. Wie bei einem Tauchgang in die eigene Vergangenheit erlebte er den Tiefenrausch der eigenen Lebensgeschichte. Erinnerungen, die lange auf dem Grund seines Bewusstseins gelegen hatten, stiegen langsam an die Oberfläche und schnappten nach belebendem Sauerstoff.

Mit einem nostalgischen Lächeln auf den Lippen dachte er an die Anfangszeit in der Universität und im Cafe zurück. Im April 79 hatte er mit seinem Studium der Theaterwissenschaften begonnen; drei Monate später zog er in seine kleine Einzimmerwohnung am Lattenkamp. Um seine Miete und seinen Alltag zu finanzieren, hatte er zunächst einige kleine Gelegenheitsjobs, ehe er im Herbst 1980 den Job im Cafe „zeitlos“ fand. Er war mehrmals – oft in Pausen zwischen Vorlesungen – Gast in dem Cafe gewesen und hatte dort seinen Milchkaffee geschlürft, während er in Theatertexten, philosophischen Extrakten oder Gedichtbänden wühlte. An einem regnerischen Vormittag trat er als erster Kunde in das Lokal ein. Die Besitzerin Charlotte war gerade damit beschäftigt eine Lebensmittellieferung in Kühlschränken und Regalen zu verstauen und wirkte sehr gestresst. Kurt schlug er ihr vor, dass er sich seinen Milchkaffee selber machen könne. Ob er sich denn zutraue, den Milchschaum mit der Espressomaschine herzustellen, fragte sie. Kurt ließ keine Zweifel aufkommen, dass er in dieser Disziplin scheitern könne und als Beweis servierte er nicht nur sich sondern Charlotte gleich einen Milchkaffee dazu. Während sie diese tranken, gewährte Kurt kleine Einblicke in sein studentisches Leben und Charlotte legte ihre unternehmerischen Aktivitäten dar.

Angesichts dessen, dass sie noch eine Tresenkraft suche und er soeben zwei Kaffees serviert habe, deren Milchschaumhauben annähernd Referenzniveau erreichten, käme er für den Job in Frage. Besser als seine anderen unsicheren Gelegenheitsjobs dachte Kurt und vor allem mit einer Chefin, die netter zu sein scheint als all die anderen Stinkstiefel, die meinen ihn herumkommandieren zu dürfen. Damals ahnte er nicht, wie lange er noch studieren würde und dass er annähernd neun Jahre bei Charlotte im Cafe mit einer halben Stelle arbeiten würde. Keine Minute hatte er bedauert, im Cafe „zeitlos“ zu arbeiten.

Aus der Armada von Frauen, die ihm bisher im Leben begegnet waren, ragte Charlotte durch eine Besonderheit heraus, die Kurt nur mit einer einzigen anderen Frau erlebt hatte. Nie gab es einen Streit mit Charlotte; genauso wie er es auch mit seiner Großmutter erlebt hatte.

Die zweite Postkarte

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