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Kapitel 7

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26. Juli 2011

Mit schweißnassem Pyjamahemd stand Kurt im ersten Morgengrauen auf. Fetzen eines Traumes bewegten sich wie Gardinen, die durch eine Morgenbrise in feine Schwingungen versetzt werden, in seinem Kopf. Die Nachklänge eines virtuellen Streits zwischen ihm und Susanne streiften durch das Schlafzimmer.

Während Kurt sich seinen morgendlichen Badezimmeraktivitäten hingab, verspürte er die Enttäuschung, dass Susanne nicht selbst erschienen war. Eine Begegnung mit ihr hätte ihn sicher emotional stärker aufgewühlt. Nun konnte Kurt lediglich aus der Distanz durch die Augen der Tochter kleine Einblicke in den Lebensweg von Susanne erheischen. Während sein Rasierapparat den Konturen der unteren Gesichtshälfte folgte, beschäftigte Kurt die Fragestellung, ob er nach über zwanzig Jahren noch Wut wegen Susannes überraschenden Verschwindens empfinde. Lediglich eine Postkarte mit einer moralischen Frage hatte ihm zum Abschied gewunken.

Er stocherte immer noch im Nebel über die Gründe für die Trennung. Allerdings bezweifelte er, dass Helena eine Antwort im Gepäck mit sich trage.

Um elf Uhr hatte die Geschäftsführung zur monatlichen Konferenz aller Leiter der Programmbereiche geladen. Als offizielles Hauptthema stand auf der Tagesordnung wie immer die Zuschauerquote der verschiedenen Ressorts. Neben diversen betriebswirtschaftlichen Kennzahlen sollte noch über einen weiteren Punkt „Feedback“ gesprochen werden. Was sich dahinter verbarg, wusste keiner der Bereichsleiter. Kurt und seine Kollegen lästerten bei Erhalt der Einladung, dass die Geschäftsführung wohl auf Empfehlung einer Unternehmensberatung das Feedback als neues Instrument aus dem Bereich der „Softskills“ einführen wollte. Bereits in der Vergangenheit waren diverse methodische Säue durch das kleine Sender-Dorf getrieben worden. Seither hatte sich der Begriff „Softskills“ zum running gag in der rauen Redaktionswelt entwickelt: „Soft kills - Nur die harten Hunde kriegen keine Journalisten-Wunde.“

In Gedanken schon im bevorstehenden Feierabend waren alle irritiert, als die Geschäftsführung, ein Feedback zu einer Sendung geben wollte. Sofort klingelten in allen Ohren die Alarmglocken. Bisher hatte sich die Führung nur für betriebswirtschaftliche Kennziffern, Zuschauerquote, Werbeeinnahmen und Programmprofile interessiert. Aus dem redaktionellen Kerngeschäft hielt sie sich generell raus, geschweige, dass sie sich zu einer bestimmten Sendung äußerte. Eine düstere Vorahnung mischte in Kurts Magen eine Zementbrei an, der zu einem Betonklotz erstarrte, als der Vorsitzende der Geschäftsführung das Wort „BASTA“ aussprach. Das politische Magazin „BASTA!!!“ fiel in Kurts Zuständigkeitsbereich. Das Magazin war sehr progressiv und stellte neben Politikern häufig auch Bürger bloß. Dessen Chefredakteur Thomas Huber spitzte Themen zu, was Kurt generell befürwortete. Bereits zwei Mal hatte es inhaltliche Kritik vom Programmdirektor Dr. Gründgens gehagelt. Einmal ist kein Mal, so lautete die inoffizielle Regel in den Redaktionen. Als der Programmdirektor vor der Sommerpause erneut den moralischen Zeigefinger gehoben hatte, führte Kurt ein Vier-Augen-Gespräch mit Thomas Huber und verdeutlichte ihm, dass er einen Gang zurückschalten möge. Unglücklicherweise war Huber in der vorgestrigen Sendung vom Brems- auf das Gaspedal gerutscht, indem er auf schlüpfrige Art einen Ministerpräsidenten vorgeführt hatte. Nicht nur die Zahl der Protest-Emails in der Redaktion schwoll an. Den diplomatischen Umschreibungen des Geschäftsführers entnahm Kurt, dass sich der Aufsichtsratsvorsitzende, der das gleiche Parteibuch wie der durch den Kakao gezogene Ministerpräsident besaß, zu Wort gemeldet habe. Deutliche, sichtbare Konsequenzen wurden gefordert. Instinktiv spielte Kurt die vier Varianten durch: Absetzung der Sendung, Rausschmiss des Chefredakteurs, Entbindung des Bereichsleiters oder des Programmdirektors von ihren Aufgaben. Die Teilnehmer bei diesem russischen Roulette waren gesetzt: Huber, Gründgens oder mich – einen wird es treffen, schoss es durch Kurts Kopf. Er warf einen versteckten Blick zu seinem unmittelbaren Vorgesetzten. Dr. Gründgens wirkte gefasst. Gleichzeitig spürte er wie die anderen Bereichsleiter abwechselnd ihn und den Programmdirektor anstarrten. Kurts Gehirn rotierte wie die Trommel in einem Revolver beim russischen Roulette. Mund aufmachen oder Schweigen; beides konnte jetzt fatale Auswirkungen haben. Noch eher er die Rotation seiner Gedanken stoppen konnte, sagte Dr. Gründgens mit ruhiger Stimme, dass Programmdirektion und Geschäftsführung vereinbart hätten, dass bis um 12.00 Uhr am Folgetag eine Lösung gefunden sein werde. High noon – Kurt fühlte sich wie in einem schlechten Western. Der Schuss von Gary Cooper alias Dr. Gründgens hatte getroffen und Kurt spürte wie ihm die Knie weich wurden und das Blut zu Kopf stieg.

Als einer der letzten verließ Kurt den Sitzungssaal. Hermann Möller und Ahmed Yavuz, die für die Ressorts Sport bzw. Kultur zuständig waren, klopften ihm aufmunternd auf die Schulter und gingen mit ihm zum Essen in die Kantine. Trotz ihrer Mut machenden Worte fühlte sich Kurt wie ein angeschlagener Boxer, der nur noch wenige Runde durch den Ring taumeln wird, eher er durch technisches K.O. zu Boden geht.

Als er in sein Büro kam, teilte ihm seine Büroleiterin Frau Leitmaier mit, dass Dr. Gründgens Kurt um 14.00 Uhr sprechen will. Kurt blieb noch eine knappe halbe Stunde Zeit, sich eine Strategie zu überlegen. Wütend schlug er mit der Hand gegen die Wand in seinem Büro. Warum hatte Huber seine zweite Mahnung ignoriert? Ist der so begriffsstutzig oder will er nicht lernen? Verdammt, ich hätte ihn als Chefredakteur absetzen müssen, als der Programmdirektor zum zweiten Mal Kritik an „BASTA!!!“ übte, dachte Kurt. Er gestand sich sofort ein, dass das eine Nummer zu hart gewesen wäre. Die Klärung der Schuldfrage würde ihm nun auch nicht helfen. Mit diesem Gedanken ging Kurt zum Fahrstuhl, fuhr zwei Stockwerke höher und fragte sich insgeheim, ob er nach dem Gespräch mit Dr. Gründgens wieder in die 6. Etage oder direkt ins Erdgeschoss fahren dürfe.

In dem Moment als Kurt in das Büro des Programmdirektors trat, verschwand die Sonne hinter einer Wolke. Das Arbeitszimmer war Kurt von den monatlichen Jour-Fixe-Gesprächen vertraut.

Dr. Gründgens saß hinter seinem Schreibtisch und machte keine Anstalten aufzustehen, stattdessen wies er auf einen der beiden Besucherstühle vor seinem Schreibtisch.

Das letzte Mal brütete Kurt vor acht Jahren in diesem Stuhl. Damals wurde er in diesem Stuhl zum Bereichsleiter befördert. Scheinbar mutierte der Stuhl in der Zwischenzeit zum Schleudersitz, im besten Fall zur Büßerbank.

Nach einleitenden Worten verschaffte Dr. Gründgens seiner Verärgerung Raum. „Vor den Sommerferien habe ich Ihnen deutlich gesagt, dass ich keine derartigen Verfehlungen in der Sendung „BASTA!!!“ mehr dulde. Einmal ist keinmal lautet doch das heimliche Credo in den Redaktionen. Ich begreife nicht, wie nach meinem zweiten Schuss vor Ihren Bug eine weitere und darüber hinaus noch weitaus peinlichere Verfehlung durch Ihre Redaktion produziert wurde. Hatte ich mich Ihnen gegenüber zu undeutlich ausgedrückt?“ Dr. Gründgens schaute Kurt herausfordernd an.

„Nein, nein, Ihre Worte waren eindeutig! Ich hatte danach ein Vier-Augen-Gespräch mit unserem Chefredakteur Huber geführt und ihn deutlich in seine Schranken verwiesen.“

„Nachhaltige Wirkung schien dieses Gespräch ja nicht gehabt zu haben. Wie sicher sind Sie, dass Sie Ihre eigene Abteilung im Griff haben?“

Kurt spürte wie das Eis unter ihm abnehmend dünner wurde und entschied sich für einen diplomatischen Spagat zwischen den auseinander driftenden Eisschollen: „In den letzten acht Jahren wurde das Ressort „Talkshow und politische Magazine“ unter meiner Ägide erfolgreich ausgebaut. Die Zuschauerquoten sind seit dem kontinuierlich gestiegen. Im Bereich der Privatsender bescheinigen uns die führenden Meinungsforschungsinstitute, dass wir über die beiden besten Talkshows verfügen. Nichtsdestotrotz dürfen wir uns auf unseren Lorbeeren nicht ausruhen. Gleichzeitig bin ich genauso wie Sie über die Entwicklung in der Redaktion „BASTA!!!“ schockiert und verärgert, dass die mahnenden Worte trotz aller Deutlichkeit nicht gehört wurden.“

Ein Fisch reagiert selten auf eine hektisch geführte Rute. Daher verhielt sich Kurt nun still wie ein Angler, um zu schauen, ob sein ausgeworfener Köder geschluckt wurde. Bedauerlicherweise schwamm Dr. Gründgens am Angelhaken vorbei.

„Herr Assens. Mich hat die Geschäftsführung eine Stunde vor unserer Bereichsleitersitzung über die politischen Reaktionen auf die BASTA!!!-Sendung informiert. Von daher blieb mir kaum Zeit verschiedene Möglichkeiten durchzuspielen, um eine Lösung für das Problem in Ihrem Ressort zu finden. Bis morgen um 12.00 Uhr bleibt mir Zeit der Geschäftsführung eine Offerte vorzulegen, die auch die externen Kräfte zufrieden stellt. Sie können sicher sein, dass ich alles unternehmen werde, meinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Gleichwohl sehe ich Ihre bisherigen Verdienste. Ungern möchte ich einen Nachfolger für Sie suchen und mühsam einarbeiten. Ergo: Wir beide treffen uns morgen um 9.30 Uhr in meinem Büro und Sie legen mir dann eine überzeugende Strategie vor. Sollte diese mich nicht überzeugen, haben Sie sicher eine Ahnung wer das Bauernopfer in meinen Schlachtplan sein wird.“ Mit diesen Worten stand Dr. Gründgens auf und verabschiedete Kurt ohne Handschlag. Das Bild des Anglers erschien erneut vor Kurts Gesicht. Nicht der Programmdirektor sondern er selber war der Fisch, der bereits an der Angel zappelte und heftig versuchte sich loszureißen, um nicht in den tödlichen Kescher gezogen zu werden.

Zwei Etagen tiefer schaute Frau Leitmaier Kurt gespannt an. „Der Kopf ist ja noch dran.“, versuchte sie ihn aufzuheitern.

„Die Schlinge aber nah“, erwiderte Kurt und ging in sein Büro. Obwohl er verschiedene Strategien durchspielte, war er nach einer Stunde noch keinen Schritt weiter.

Ausgerechnet seit gestern war sein Stellvertreter Martin Zenker für sechs Wochen in Urlaub. Er war sein engster Vertraute im Sender. Kurt schätzte dessen Loyalität, seine Fachkenntnisse und vor allem konnte er mit ihm sehr gut Strategien entwickeln. Genau das würde er gern mit ihm unternehmen. Unglücklicherweise saß dieser gerade auf einer Harley Davidson und fuhr die Route 66 von der Ost- zur Westküste der USA. Ein Jugendtraum, den er sich mit 45 Jahren nun erfüllt hatte. Eine andere Vertrauensperson, die ihm nun helfen könnte, hatte er nicht in der Firma. Daher rief er seinen Freund Achim Schellmeyer an, um sich mit ihm zu treffen. Dieser sagte, dass er am Abend mit seiner Frau eine Tanztheateraufführung anschauen werde. Noch nie hatte Kurt Achim um einen großen Gefallen gebeten. Doch dieses Mal flehte er ihn um seinen freundschaftlichen Beistand an. Achim spürte, dass die Not seines Freundes bedeutend größer war als die zu erwartende Enttäuschung seiner Frau, wenn sie alleine das Tanztheater besuchen müsste. Sie verabredeten sich in einem portugiesischen Restaurant am Hafen.

Nun musste Kurt allerdings widerwillig die Verabredung mit Henning stornieren. Dummerweise erreichte er ihn nicht. Verdammt, warum hat der Junge auch immer dann, wenn man ihn braucht sein Handy ausgeschaltet. Obwohl ihm SMS verhasst waren, verfasste er eine Kurznachricht an seinen Sohn, in der er mitteilte, dass er aus höchst wichtigen dienstlichen Gründen einen Termin habe und schlug vor, dass sie sich am nächsten Tag um 8.00 Uhr zum Frühstück sehen.

Zuhause genoss Kurt die abkühlende Dusche. Von Henning war nichts zu sehen. Um kurz nach sechs klingelte sein Handy. Dem Display entnahm er, dass Manuela aus Spanien anrief. Auf die Standardfrage, wie es ihm gehe, antwortete Kurt mit einem ehrlichen „Beschissen“.

„Ist was mit Henning?“, hörte er die besorgte Mutterstimme.

Kurt schilderte die Vorgänge des Tages. Auf seine Schilderung folgte eine kurze Zeit der Stille. Kurt spürte wie die Nachricht bei Manuela langsam auf den Boden des Bewusstseins sank.

„Was gedenkst du zu tun?“

„Noch bin ich unentschlossen; aber ich habe verschiedene Ideen, die ich heute Abend mit Achim durchsprechen will.“

„Aber du bist doch mit Henning zum Abendessen verabredet.“

„Lieber würde ich mit Henning den Abend verbringen als mir wegen meiner beruflichen Zukunft den Kopf zu zermalmen.“

„Das gefällt mir gar nicht, dass du Henning versetzt. Wie hat er reagiert?“

„Ich habe ihn nicht erreicht. Er wollte heute mit Ina und ein paar Freunden tagsüber an die Ostsee fahren. Per SMS habe ich ihn informiert.“

„Kurt, unser Sohn ist in einer kritischen Lebensphase und du kümmerst dich nicht um ihn!“ herrschte Manuela ihn durch die Leitung an.

„Was bringt dem Sohn ein Abendessen mit seinem Vater, wenn der am Folgetag wohlmöglich seinen Job verliert“, setzte Kurt gestresst entgegen.

„Gestern habe ich mit meiner Mutter telefoniert. Sie fragte, wie es den Jungs geht und ich habe ihr von Henning erzählt. Mutter machte mir Vorwürfe, dass wir dem Jungen zu viele Freiräume ließen. Ohne eine starke führende Hand verlaufen die jungen Leute heutzutage sich, meinte sie. Auch wenn ich ihre Erziehungsansichten immer schon etwas überzogen fand, glaube ich, dass sie dieses Mal Recht hat.“

Das fehlte Kurt noch: die Bauernweisheiten seiner Schwiegereltern.

„Ich glaube kaum, dass die Meinung deiner Mutter in dieser Situation weiterhilft. Außerdem bist du doch in Urlaub geflogen, obwohl unser Sohn uns Probleme macht.“

Bei diesen Worten explodierte Manuela: „Du hast doch vorgeschlagen, dass ich beruhigt fahren kann, da du dich um Henning kümmerst.“

„Ich konnte doch nicht ahnen, dass es zu einer derartigen Krise im Sender kommt.“

„Das entbindet dich dennoch nicht von deinen väterlichen Pflichten, mein Lieber“, fauchte Manuela ihn zornig an und legte auf.

Als er spätabends nach Hause kam, fand er auf dem Küchentisch einen Zettel von Henning. Dieser fand es schade, dass sie nicht gemeinsam Essen gegangen sind. Er übernachte bei Ina und der Vorschlag um 8.00 Uhr zu frühstücken, sei ihm ehrlich gesagt in den Ferien reichlich unpassend.

Genau, dachte Kurt, mach du mir neben deiner Mutter auch noch ein schlechtes Gewissen. Mit Achim hatte er alle Aspekte hin und her gewogen und hoffte, dass seine Taktik aufging.

27. Juli 2011

Die verknäulte Bettdecke bezeugte am frühen Morgen, wie die rotierenden Gedanken Kurt in der Nacht durch dass Bett gewälzt hatten. Als er aufwachte, wünschte er sich, er hätte den Tag schon hinter sich. Das Treffen mit Dr. Gründgens und die damit einhergehenden Folgen drückten schwer auf dem Magen. Des Weiteren musste er versuchen, mit Henning ein Treffen zu vereinbaren, allein um nur den Hauch einer Chance zu haben, Manuela in der mallorquinischen Ferne zu besänftigen. Als er beim Frühstück den Tag scheibchenweise vor sich aufblätterte, fiel ihm mit einem Schlag seine Verabredung mit Helena ein. Die sollte er verschieben; aber wie sollte er sie erreichen? Schnell sprintete er in sein Arbeitszimmer und entnahm seinem Schreibtisch den Briefumschlag mit der Karte. Keine Telefonnummer oder Adresse in Hamburg hatte sie hinterlegt. Kurt steckte die Karte in sein Sakko. Sollte der Tag völlig schief laufen, würde er am Cafe vorbeifahren und das Treffen mit ihr verschieben.

Pünktlich um 9.29 schritt Kurt in das Vorzimmer von Dr. Gründgens. Die Sekretärin des Programmdirektors kündigte ihn mit den kurzen Worten „Herr Assens ist da.“ an. Genau diese Worte wählte auch die Schulsekretärin als Kurt in der Oberstufe wegen eines provokanten Plakates, das er und seine Theatergruppe im Gymnasium aufgehängt hatten, zum Rektor bestellt wurde. Mit dieser Erinnerung trat Kurt in das Büro. Dr. Gründgens saß hinter seinem Schreibtisch, stand kurz auf und begrüßte Kurt mit Handschlag.

„Ich hoffe, Herr Assens, Sie haben die Nacht gut geschlafen und haben einen Vorschlag.“

Kurt ging auf seine unruhige Nacht nicht ein. „Wir könnten mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen. Aktuell haben wir drei wöchentliche politische Sendungen ´Ellwanger talkt`, ´Scharzhofers Recherche` und ´BASTA!!!`. Bei den letzten beiden handelt es sich jeweils um zwei investigative Magazine, die sich vom konzeptionellen Aufbau ähneln. Zweifelsohne ist ´BASTA!!!` die aggressivere Version. Angesichts dessen, dass sich aktuell das neue Promimagazin ´face and blog` in der konzeptionellen Endphase befindet und wir noch einen passenden Sendeplatz suchen, könnte dieses ´BASTA!!!` ersetzen.“ Kurt legte eine kurze Pause ein.

Dr. Gründgens schaute skeptisch: „Die neue Sendung soll ´BASTA!!!` einfach ersetzen. Wie wollen Sie das ohne Gesichtsverlust dem Fernsehvolk verkaufen?“

„Durch progressive Werbung. Facebook, Twitter und Blogs sind die aktuellen Medien mit Zukunft. Eine Idee wäre sich mit einem kleinen Augenzwingern selbstironisch von ´BASTA!!!` zu verabschieden.“

Kurt nahm ein Hochziehen der linken Augenbraue bei seinem Gegenüber wahr. Soll er dieses als Anerkennung werten, schoss es ihm durch den Schädel.

„Keiner unserer Mitbewerber sprang bisher auf diesen Zug“, legte Kurt nach, „Nun komme ich zu unserer zweiten Baustelle: Scharzhofer und Ellwanger. Scharzhofer bestreitet das meist gesehene politische Magazin in der deutschen Fernsehlandschaft, während Ellwanger zu den Top-Fünf der Talkshows zählt. Beide gehören zu unseren Aushängeschildern. Gleichzeitig herrscht zwischen beiden seit Jahr und Tag eine Rivalität. Immer wieder muss ich mir von Ellwanger anhören, dass seine Talkshow erst um 22.30 Uhr beginnt, während Scharzhofer schon um 21.45 loslegen darf. Salomonisch wäre es beiden die gleiche Sendezeit zur Verfügung zu stellen. Ellwanger könnte den Sendeplatz von ´BASTA!!!` am Dienstag um 21.45 erhalten, während wir die neue Sendung ´face and blog`im Anschluss starten lassen. Dieses bietet zum einen die Chance, dass ´Ellwanger talkt` in der Zuschauergunst steigt und perspektivisch die Werbeeinnahmen erhöht. Zum anderen richtet sich ´face and blog` an ein jüngeres Publikum, das in der Regel bei unserer Konkurrenz die Talkshow ´young alive` schaut. Diese Talkshow läuft bis 22.30. Durch gezielte Werbekampagnen könnten wir dann, dass jugendliche Publikum zum Programmwechsel animieren.“

Dr. Gründgens drehte seine Bürostuhl nach rechts und schaute schweigend aus dem Fenster. „Herr Assens, ich mag noch kein Urteil fällen. Allerdings muss ich zugeben, dass ihr Konzept seine Reize hat. Gleichwohl hängt alles vom Erfolg von ´face and blog` ab, oder sehe ich das falsch?“

Mit einer Mischung aus Erleichterung und Vorsicht äußerte Kurt: „ Sicherlich, aber der Versuch mit dem neuen Sendekonzept bringt unabhängig von ´BASTA!!!` Chancen und Risiko mit sich. Dieser Grundsatz prägt unser business.“

„Kann die Sendung ´face and blog` bis Anfang September realisiert werden?“

Hier lag die Crux. Trotz innerer Zweifel äußerte Kurt: „Unbestritten, es handelt sich um eine zeitliche Herausforderung. Die Elemente der Sendung sind entworfen und für die ersten drei Sendungen stehen bereits redaktionelle Rohentwürfe.“

„Kann die Sendung Anfang September gesendet werden? Ja oder nein, Herr Assens?“. Kurt spürte den Druck eines imaginären Pistolenlaufs auf der Brust. Bei einer negativen Bescheidung der Frage würde sich der Zeigefinger am Abdrücker langsam krümmen. Sein Überlebensinstinkt verbalisierte ein „Ja“, das kräftiger klang, als er es meinte.

Bevor er sich seines Dilemmas weiter bewusst werden konnte, legte sein Vorgesetzter nach: „Angenommen ihr Konzept überzeugt mich und auch die Geschäftführung. Was wird aus Ihrem Chefredakteur Huber?“

Gründgens, du raffinierter Fuchs, dachte Kurt, während du mir zwar Zustimmung in Aussicht stellst, distanzierst du dich gleichzeitig. „Zum einen wird seine Sendung abgesetzt. Somit existiert der Chefredakteurstuhl nicht mehr, auf dem er bisher saß. Zum anderen hat er trotz zweimaliger Ermahnung den Bogen weiter überzogen. Mein Vorschlag wäre, dass Huber in der Redaktion von Scharzhofer wechselt und dort für Recherchearbeiten zuständig ist. Die Redakteurin, die diesen Bereich momentan innehat, geht Ende September in Mutterschutz.“

Kurt war sich bewusst, dass er seinen eigenen Kopf nur dadurch retten konnte, wenn er Huber den Vorstandslöwen zum Fraß vorwarf. Sollten diese den Happen seitlich liegen lassen, würden sich ihre Zähne ihm widmen mit der unangenehmen Konsequenz, dass dieses für einen 54-jährigen ausgelutschten Medienmann den unbezahlten vorgezogenen Vorruhestand zur Folge hat.

„Herr Assens, ich werde über Ihr Konzept nachdenken. Nach gründlicher Überlegung werde ich der Geschäftsführung meine Vorstellungen präsentieren. Bis morgen wird eine Entscheidung fallen.“

Dr. Gründgens erhob sich und begleitete Kurt zur Tür. Geistesabwesend stand Kurt vorm Fahrstuhl. Kognitiv wusste er, dass sein Auftritt überzeugend war. Doch Situationen, in denen ein Kopf rollen soll, drängen die Logik in den Hintergrund und die Limbischen Systeme übernehmen die Hauptrollen. Wie im Circus maximus galt es nun auf Caesars Daumen zu warten. Ave, Imperator, morituri te salutant! Wahrlich fühlte Kurt sich wie ein neo-germanischer Gladiator, der im norddeutschen Sender-Kolosseum seinen Vorgesetzten ein letztes „Moin, Cäsar! Die Todgeweihten grüßen dich!“ entgegenhauchte.

Zurück in seinem Büro starrte Kurt konzentriert aus dem Fenster. Sollte sein Kopf im Laufe dieser Woche nicht abgeschlagen werden, galt es, die nächste Hürde zu nehmen, um dem Henker zu entfliehen: Ende September muss die Sendung ´face and blog` ausgestrahlt werden. Während er auf seinem macbook den Projektplan aufrief, teilte ihm Henning per SMS mit, dass Ina und er ins Freibad gehen wollten und abends sich mit seinem Freund Lothar treffen wollen. Daher habe er abends keine Zeit und schlug stattdessen vor sich zum Mittagessen zu treffen. Er bot an, dass er in Kurts Büro komme und sie in der Kantine essen könnten. Angesichts der anstehenden Aufgaben passte dieser Vorschlag Kurt nicht. Als er versuchte, Henning auf dem Mobiltelefon zu erreichen, erklang die Stimme seines Sohnes lediglich auf der Mailbox. Von Technomusik untermalt wurde der Anrufer aufgefordert, eine Nachricht nach dem Signalton zu hinterlassen. Kurt stornierte das vorgeschlagene Mittagessen in der Kantine und forderte Henning auf, dass dieser nach seinem Besuch bei Henning bis 22.00 Uhr zuhause erscheine.

Der Projektplan für ´face and blog` sah ursprünglich vor, dass die Sendung Anfang Oktober startet. Nun den Sendestart vier Wochen bei nicht einmal mehr eineinhalb verbleibenden Monaten vorzuziehen, entsprach einer Herkulesaufgabe. Kurt ging in sein Vorzimmer und forderte Frau Leitmaier auf, dafür zu sorgen, dass Hendrik Andresen, der Chefredakteur, mit dem er zusammen die Sendeidee ´face and blog` entworfen hatte, sofort in seinem Büro erscheine. Irritiert weitete sie die Augen und hob dann das Telefon. Die Schärfe in Kurts Blick signalisiert ihr eindeutig, dass Widerworte zwecklos seien.

Vier Minuten später tauchte die spitzbärtige Silhouette von Hendrik Andresen im Türrahmen auf. Zu seinem schwarzen Anzug trug er ein knallrotes Hemd und als Krönung entsprechend gefärbte Schuhe. Das schwarze Haar leicht mit Gel nach hinten gekämmt, erinnerte er an einen Mafioso. Ihn qualifizierte, dass er über journalistische Erfahrungen im Bereich Neue Medien verfügte. Nach der Begrüßung fragte er vorsichtig nach dem Grund des Gesprächs.

„Herr Andresen, Veränderung gehören zu unserem Business. Aus aktuellem Anlass hat sich der Programmdirektor entschieden, ein paar Veränderungen im Profil vorzunehmen. Ich habe Ihnen eine gute Nachricht mitgebracht. Unsere Sendezeit wird wahrscheinlich um eine dreiviertel Stunde vorgeschoben.“

Erstaunen und Freude strahlten aus Andresens Augen. Doch dann runzelte er die Stirn. „Woher kommt diese Änderung?“

„Auf den Sendeplatz von BASTA!!! kommt nun ´Ellwanger talkt`. Im Anschluss dürfen Sie dann um 22.30 loslegen. Wie gefällt Ihnen die Idee?“

„Das dürfte uns wohl erhöhte Einschaltquoten sichern. Auf welchen Sendeplatz rückt dann ´BASTA!!!`? hakte Andresen nach.

Ertappt schaute Kurt auf und nach einem Zögern, das einen Augenblick zu lang sich hinzog, erwiderte er: „An diesem Punkt werden noch verschiedene Optionen geprüft.“ Um nicht die Gerüchteküche im Sender anzuheißen, schob Kurt nach: „Herr Andresen, Sie sind der erste, der von dieser Planung erfährt. Andere Redaktionen sind noch nicht eingeweiht. Von daher erwarte ich von Ihnen höchste Vertraulichkeit. Können Sie mir diese zusagen?“

Wie ein Schüler, der vom Rektor beim Lügen erwischt wurde, liefen Andresens Ohren rot an. „Selbstverständlich.“

„Herr Andresen, ich meine dieses sehr ernst. Wir bewegen uns auf dünnem Eis. Ich muss mich auf Ihre Diskretion hundert Prozent verlassen können!“

Mit einem erneuten ´Selbstverständlich` ergab sich Andresen.

„Dann haben wir diesen Punkt geklärt“, äußerte Kurt, bevor er eine Gesprächspause einschob, die Andresen weiter verunsicherte. Unruhig, aber dennoch nur in Zeitlupentempo wanderte dessen Blick zwischen Kurt, dem Schreibtisch und dem Fenster hin und her.

Nun galt es den Sack zuzumachen: „Allerdings hat alles seinen Preis.“

Ruckartig richtet Andresen seinen erblassten Blick auf Kurt. „Ihre erste Sendung wird nicht Anfang Oktober starten, sondern vier Wochen vorher!“

Nun entschwand auch die letzte Farbe aus Andresen Gesicht. Entrüstet entfuhr ihm: „Das geht nicht! Der Zeitplan ist bereits jetzt schon schwer einzuhalten. Wir haben feste Termine mit den Prominenten der ersten drei Sendungen vereinbart.“

Kurt spürte wie eine ohnmächtige Wut in ihm anschwoll und mit scharfen Ton wies er sein Gegenüber zurecht: „Das will ich nicht hören, Herr Andresen. Für mich gibt es keine Probleme, sondern nur Lösungen. Sie erhalten eine lukrative Sendezeit und folglich liegt es an Ihnen, ob Ihre Sendung pünktlich an den Start geht. Überreden Sie die Promis, dass sie schon vier Wochen früher an den Start müssen.“

„Die haben feste Verträge. Es war schon ein Gewaltakt, diese für den Oktober zu gewinnen. So einfach, wie Sie sich das vorstellen, ist dieses nicht.“

Der Widerstand von Andresen überraschte Kurt. Bisher war Andresen, konstruktiv und loyal. Zum ersten Mal sah Kurt dessen Zähne, was ihn in anderen Situationen beeindruckt hätte. Da aber sein eigener Kopf in der Schlinge hing, störten ihn die Widerworte. Um sich nicht festzubeißen, wechselte Kurt die Taktik: „Herr Andresen. Ich schätze ihre Arbeit und traue Ihnen zu, dass sie dieses Problem lösen. Nutzen Sie die Chance, dass Sie eine frühere Sendezeit erhalten. Mir ist klar, dass Sie diese Modifikationen unseres Programmdirektors genauso überraschen wie mich. Angesichts dessen, dass das Sendungskonzept fertig sei und die ersten drei Sendungen inhaltlich vorstrukturiert seien, müsste doch der Plan zu realisieren sein. Unsere einzige Chance ist, dass ´face and blog` Anfang September bereits an den Start geht. Folgenden Vorschlag kann ich Ihnen machen: Sie überlegen sich, was Sie an zusätzlichen Ressourcen benötigen, um den Sendestart vier Wochen vorzuziehen und teilen mir das bis morgen Mittag mit.“ Mit diesen Worten erhob sich Kurt, reichte Andresen die Hand und blickte ihm mit strengem Blick ins Gesicht. Ergeben und dezent nickend nahm Andresen die Hand, bevor er mit leicht hängendem Kopf das Büro verließ.

Die zweite Postkarte

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