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Kapitel 2

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13. Juli 2011

Als Kurt Susanne begegnete, studierte er im elften Semester Germanistik, zwar mit literarischer Leidenschaft doch ohne berufliche Ambitionen und vor allem ohne Eile. Begeistert hatten ihn Hesse und Nietzsche. Der Schiller- und Lessing-Kult war ihm suspekt; Goethe zollte er Respekt. Ihn faszinierte Hesses Narziß, in dessen Ebenbild Kurt sich ein wenig gespiegelt sah. In Kleinigkeiten verlor er sich gern; genoss das Sein im Jetzt und Hier. Keimten philosophische Fragen und Gedanken in ihm auf – was nicht selten passierte – hielt er sie auf Zetteln fest, die er in seiner Zwei-Zimmer-Wohnung an Möbel und Türen klebte. Ihn einen Tagträumer zu nennen, hätte ihn falsch beschrieben; genießender Alltagsbewältiger entspräche eher dem Hammer auf dem Nagelkopf.

Kurt war lange das Sorgenkind der Familie. Als Frühchen kam er zur Welt. Sein Körperwachstum schritt nur sehr langsam voran. Dazu war Kurt still und introvertiert. Im Vorzeigestadtteil Harvestehude führte sein Vater Dr. Assens eine gut laufende Kanzlei, in die Kurts sieben Jahre älterer Bruder Dieter später mit promoviertem Schritt eintrat. Seine Mutter hatte eine kaufmännische Ausbildung absolviert, allerdings nie in dem Beruf gearbeitet und beschäftigte sich leidenschaftlich mit der Aufzucht ihrer Kinder.

Sein Vater, der sehr viel Wert auf gesellschaftlichen Status legte, hatte bisher mit den schulischen Leistungen seines ältesten Sohnes Dieter und der musischen Begabung seiner Tochter Gerlinde in seinen Juristenkreisen geprallt. Ein kleinwüchsiges, stilles Kind passte gar nicht in dieses Selbst- und Weltbild. Zu anderen Kindern in der Nachbarschaft hatte Kurt wenig und wenn eher zufälligen Kontakt. Auch forcierten seine Eltern dieses nicht. So wuchs Kurt sehr umhütet und isoliert auf, sprach wenig und durchlebte eine introvertierte Kindheit. Um seine körperliche Entwicklung zu forcieren, wurden Kurt ab dem vierten Lebensjahr regelmäßig Wachstumshormone gespritzt. Zur Freude der Eltern nahm seine Körpergröße in den nächsten Jahren zu. Bei seiner Einschulung überragten alle Erstklässer ihn, jedoch wirkte Kurt nicht mehr kleinwüchsig. Dieter wurde lange Zeit von Klassenkameraden und Nachbarkinder wegen seines Zwergenbruders verhöhnt. Seine Frustration und Verärgerungen gab er zuhause an seinen Gnom von Bruder weiter. Wenn ihre Mutter dieses mitbekam, stellte sie Dieter zur Rede und bat ihn um bemitleidende Rücksichtnahme. Andererseits nahm Dr. Assens Dieter in Schutz und wies seine Frau daraufhin, dass es nicht angehen könne, dass der älteste Sohn unter den körperlichen Unzulänglichkeiten des jüngsten Familienmitglieds leiden müsse. Diese Auseinandersetzung wurde von Seiten Dr. Assens gelegentlich laut und stets resolut geführt. Sie endeten im Schweigen der Mutter. Dieter fühlte sich bestätigt und piesackte seinen Bruder weiter. Jener zog sich in sein inneres Schneckenhaus zurück. Gerlinde, die fünf Jahre älter als Kurt war, wurde wie eine Prinzessin von den Eltern hofiert. Sie hatte lange, blond-goldene Haare, eine musische Begabung und war ein Beispiel par Excellenze für mädchenhafte Tugendhaftigkeit. Gelegentlich gewährte sie ihrem jüngeren Bruders ein wenig Aufmerksamkeit.

Die wesentliche emotionale Stütze fand Kurt in Oma Hertha, seine Großmutter mütterlicherseits. Sie las ihm vor, unternahm Ausflüge mit ihm und ergriff Partei für ihn gegenüber seinen Eltern.

In der Grundschule suchte Kurt zu seinen Mitschülern kaum Kontakt. Seine Frühstücksstullen begleiteten ihn verlässlich in den Pausen. In der zweiten Klasse fand er in seinem Klassenkamerad Heinz einen Seelenverwandten. Auch Heinz hielt sich von sportlichen Aktivitäten fern. Beide sammelten Tierbilder und Quartettkarten. Sie wohnten zwei Straßenzüge von einander entfernt und trafen sich gelegentlich nach der Schule. Kurts Schulleistungen erreichten nie das Niveau seiner Geschwister, dennoch beruhigten die Fortschritte ihres jüngsten Kindes die Eltern ein wenig. Dieters Wahrnehmung unterschied sich von der seiner Eltern; Arroganz prägte sein Auftreten gegenüber Kurt.

Obwohl Kurt selbstständig im Leben voranschritt, brachte seine Mutter regelmäßig ihre Sorge zum Ausdruck. Noch während seines Studiums nervte sie ihn mit ihrer ewigen Fragerei, wann er sein Examen machen wolle und wie er zukünftig eine Familie ernähren will? Verlässlichkeit zeichnete Kurts Mutter aus: Annähernd jeder zweiter Satz begann mit einem „W“ und endete mit einem Fragezeichen. Folglich besuchte Kurt seine Eltern in verträglichen, homöopathischen Dosen: Weihnachten, die Geburtstage der Eltern. Die antibiotische Dröhnung war allerdings der jährliche Besuch seiner Eltern in Kurts Studentenbüdchen an seinem eigenen Ehrentag. Neben Kriminalromanen, die er nie las und schließlich im Antiquariat gegen Jazz-Scheiben tauschte, schenkte seine Mutter ihm und dem Zustand seines Etablissements besorgte Blicke.

Seine Schwester Gerlinde hatte sich einst an der Universität in Frankfurt der Angliszistik zugewandt. Seit Jahren richtete sich ihr blauäugiger Blick auf ihre beiden Kinder und ihren Mann, der als Bankfilialleiter in Frankfurt tätig war. Ihre Familie musste sich ihre Zuwendung lediglich mit einem Klavier und einem Pferd teilen. Kurt erntete lange Zeit von beiden weiblichen Familienmitgliedern bemitleidende Blicke: Endlose Semester des Studiums und immer noch kein Abschluss, noch nicht mal der Ansatz eines Einbiegens auf die Zielgerade der Alma-Mater-Zeit. Erst mit Beginn seiner überraschenden Fernsehkarriere verwandelte sich die Sorge in eine blühende Landschaft voll Stolz. Der männliche Flügel der Sippe betrachtete Kurt lange Jahre nur als Versager. Später entwickelten die beiden Doktoren Assens neben Häme wütenden Groll wegen Kurts politischer Aktivitäten. Dass Kurt quasi als Spätstarter der Familie noch eine so erfolgreiche Karriere hinlegte und bedeutend mehr Ruhm als sein älterer Bruder und sein Vater erlangte, verstärkte deren Missbehagen. In Gegenwart der Männer vermieden Gerlinde und seine Mutter über Kurt zu sprechen, um nicht Testosteron geleitete, seismographische Erschütterungen auszulösen.

Mit der Postkarte in der Hand ging Kurt in sein Arbeitszimmer im ersten Stock. Er las die Karte erneut durch, ging zum Fenster und starrte in den Garten. Zu genau konnte er sich an die letzte Nachricht von Susanne erinnern. An Silvester 1989, zwei Wochen nachdem sich Susanne von ihm getrennt hatte, fand er den Briefumschlag mit der Postkarte im B riefkasten.Als Motiv hatte sie sich Wim Wenders Engel aus dem Film „Der Himmel über Berlin“ ausgesucht, der auf der Siegessäule sitzt und über die Stadt blickt. Auf der Rückseite stand damals nur diese eine Frage, die ihm nun auch aus der Pariser Karte ins Auge stach: „Wo sind deine Träume geblieben?“ Das war die letzte Nachricht, die er von Susanne erhalten hatte. Warum meldet sie sich jetzt und stellt nach über zwanzig Jahren erneut die Frage? Gedanken rasten wie ratternde Güterzüge durch Kurts Kopf und fanden keine Ruhe. Geistesabwesend starrte er in den Garten. Kurt schreckte hoch, als die Haustür geschlossen wurde und Manuelas Stimme ein „Hallo - Wo steckt denn der Herr Produzent?“ durch das Haus hallen ließ. Ruckartig drehte er sich um, öffnete die linke obere Schublade seines Schreibtisches und ließ die Karte darin verschwinden. Nach kurzem Zögern ging er die Treppe hinunter. Manuela stand mit einer Einkaufstüte im Flur. Kurt gab ihr einen flüchtigen Begrüßungskuss.

Manuela äugte ihn mit leicht geneigten Kopf an: „Ist was, Kurt? Du siehst irgendwie mitgenommen aus.“

„Nein, nein, alles in Ordnung. Lediglich die Hitze macht mir zu schaffen und die Redaktionssitzungen heute taten ihr Übriges.“

„Na, dann ist es am Besten, wenn wir es uns bei einem Fläschchen Wein und einem Essen im Garten gemütlich machen. Was hältst du von Blattsalat mit Scampi-Spießen?“

„Klingt verlockend.“

Während er den Tisch deckte, überlegte Kurt, warum er Manuela nicht von der postalischen Mitteilung erzählt hatte. Seine eigene emotionale Reaktion befremdete ihn. Was machte ihn so unruhig? Erst musste er eine Antwort finden, bevor er Manuela einweihen konnte.

14. Juli 2011

Schweiß gebadet wachte Kurt am Morgen auf. Den letzten Fetzen eines nächtlichen Traumes bekam sein Bewusstsein noch zu fassen.

Er stand alleine vor der Tafel in seinem alten Gymnasium und sollte eine mathematische Gleichung lösen. Ein Stück Kreide in der Hand haltend und das langsame, rhythmisch bedrohliche Fingertrommeln seines verhassten Lehrers Kramer im Rücken vernehmend, betrachtete er die Aufgabe. Seine Gedanken waren blockiert und er spürte das hämische Grinsen einiger Mitschüler in seinem Rücken. Kramers Trommeln schwoll zu einem Brausen an und das Gelächter der Mitschüler klang wie das Grummeln einer nahenden Gewitterfront. Aus dieser Kakophonie quoll Kramers mit scharfer Stimme verkündetes Urteil hervor: „Assens, Sie jämmerlicher Versager.“ Die Tafel schwankte vor Kurts Augen und bevor sie ihn erschlug, rettete er sich ins morgendliche Erwachen.

Frisch geduscht frühstückte Kurt gemeinsam mit Manuela in sommerlicher Luft auf der Terrasse. Es gelang ihm nicht, die Tageszeitung wie sonst konzentriert und zügig nach den wichtigen Themen zu durchforsten.

Auf der Fahrt zur Arbeit konnte auch keine beschwingte Jazz-Musik die bedrohliche Stimmung des Traumes vertreiben.

Die Teilnahme an der Redaktionssitzung der Sendung „Talk um 5 vor 12“ lenkte ihn ab; die Redakteure stritten darüber, wie der aktuelle Justizskandal präsentiert werden soll.

Die dunklen emotionalen Wolken hatten sich zurückgezogen, als Kurt nachmittags zum Tennisplatz fuhr, um mit seinem Freund Achim, der seit Jahren bei einen öffentlich-rechtlichen Sender im Kulturressort arbeitete, die Filzkugel über das Netz zu treiben.

Als er gegen halb Acht nach Hause kam telefonierte Manuela gerade mit Karsten. Kurt entnahm dem Kühlschrank einen Flasche Sauvignon blanc, füllte zwei Gläser und setzte sich auf die Terrasse. Manuela hatte dort bereits den Tisch mit Salat, Antipasti und Ciabatta bestückt. Kurze Zeit später trat sie zu ihm, küsste ihn auf die Stirn. Er reichte ihr das zweite Glas.

„Schöne Grüße von Karsten.“

„Danke. Wie läuft es im Trainingslager?“

„Er klang sehr zufrieden. Sie haben sonniges Wetter und es weht ein guter Wind. Momentan vertiefen sie ihre Kenntnisse im Spinnakersegeln. Fürs Wochenende ist eine Regatta mit den italienischen Gastgebern geplant.“

Als begeisterter Segler freute sich Kurt darüber, dass sein Ältester diesen Sport auch liebte. Im Gegensatz zu Kurt, der dieses Hobby erst mit Ende Dreißig für sich entdeckte und nun seine eigene Fahrten-Yacht steuerte, begann Karsten früh mit dem Jollensegeln und dieses zunehmend erfolgreich. In seiner Altersklasse war er dieses Jahr sehr zu Freude seines Vaters Hamburger Vizemeister geworden.

Karsten war ein ruhiger und ehrgeiziger junger Mann. Er hatte die blauen Augen seines Vaters und die blonden Haare seiner Mutter. Neben dem Segeln interessierte er sich für Computer. Beim Betreten seines Zimmers bekam jeder Besucher den Eindruck, er stehe in einem Server-Raum. Lediglich das Bett und der Kleiderschrank deuteten daraufhin, dass dieser Raum auch noch anderweitig genutzt wird.

Ganz anders Henning. Nicht nur äußerlich unterschied er sich mit seinen braunen Haaren und seinen ungewöhnlich grünen Augen von seinem Bruder.

Seine Schulnoten befanden sich seit ein paar Monaten im Sinkflug. Im Gegensatz zu Karsten besaß Henning einen großen Freundeskreis und war als Stimmungskanone sehr beliebt. Seit einem Jahr war er mit seiner Schulkameradin Ina Sanchez-Olten befreundet. Sie war eine flippige, dabei aber gewissenhafte junge Frau. Sie fiel schnell mit ihrem braunen Wuschelkopf und ihrer schrill-bunten Kleidung im Stil der Flower-Power-Bewegung ins Auge. Ihre Eltern betrieben eine erfolgreiche Werbeagentur und besaßen ein Anwesen auf Ibiza, auf dem Ina und Henning mit einigen Freunden bis Sonntagabend ihren Urlaub verbrachten.

Manuelas große Sorge war, dass ihr jüngster Spross sich in der Welt der Drogen verirren würde. Vor sieben Wochen schleppten zwei seiner Freunde ihn Sonntagmorgens um halb vier nach Hause. Als er mittags aufstand, stellten Manuela und Kurt ihn zur Rede.

Auf Manuelas Frage, ob er auch andere Drogen konsumiert habe, antwortete Henning mit einem kurzen „Wie kommst du denn darauf? Es wurden auf der Party verschiedene alkoholische Getränke gemischt. Die Cocktails sind mir nicht so gut bekommen.“ Damit war der Dialog beendet.

Seit diesem Tag beobachtete Manuela ihren Sohn mit Argusaugen. Lange hatte sie mit Kurt darüber debattiert, ob sie Henning alleine mit seiner Clique nach Ibiza fahren lassen dürfen. Schließlich hatte Kurt sich mit dem Argument durchgesetzt, dass sie gemeinsam diese Reise im Frühling erlaubt hätten und Henning sich sehr darauf gefreut habe.

Nachdem Manuela ihnen beiden Salat auf die Teller geschaufelt hatte, drehte sie sinnierend ihr Weinglas in der Hand: „Im Gegensatz zu Karsten meldet sich Henning nicht. Ich mache mir Sorgen!“

„Schick ihm doch eine SMS.“

„Das finde ich unpersönlich. Ich muss seine Stimme hören, um zu wissen wie es ihm geht.“

„Dann ruf ihn an.“

„Nee, dann denkt er, ich bin die Gluckenmama.“

„Bist du das denn nicht?“, sagte Kurt mit einem kleinen Grinsen.

„Mach dich nicht noch lustig über mich? Ich erlebe ihn seit Wochen distanzierter und verschlossener.“

„Waren wir das nicht als Jugendliche gegenüber unseren Eltern auch?“

„Karsten ist nicht so.“

„Vielleicht sollten wir uns eher Sorgen um ihn machen, weil er sich so ungewöhnlich verhält. No sex, no drugs, no Rock´n Roll.“

Manuela verdrehte genervt die Augen: „Immerhin muss er nicht Sonntagmorgens von Freunden nach Hause geschleppt werden und rennt dann wie ein Tiger im Käfig im elterlichen Wohnzimmer hin und her.“

„Oder wie der Panther in dem Gedicht von Rainer Maria Rilke.“

„Hör bitte auf! Ich glaube, dass Henning uns belogen hat, als wir ihn fragten, ob er noch was anderes als Alkohol zu sich genommen habe.“

Kurt vernahm den ernsten Unterton in Manuelas Stimme.

„Ich teile dein Misstrauen. Wie schon letztens gesagt, kenne ich dieses alberne Kichern aus meiner Schulzeit. Typisches Kiff-Phänomen. Hast du alles deinen Eltern erzählt?“

Manuela schüttelte den Kopf „aber ich habe auch nicht gekifft!“

„Dafür hast du einige Liebesabenteuer deinen Eltern unterschlagen.“

„Illegaler Drogenkonsum ist nicht gleichzusetzen mit jugendlichen Liebeleien.“

„Manuela, für mich war Kiffen damals ein Kick. Es stand für Verbotenes und Cool-sein. Viele haben gekifft und keiner von uns ist in die Drogenszene abgeglitscht.“

Manuela stach entnervt ein Salatblatt auf, das sie zügig in ihrem Mund verschwinden ließ. Kurt verstand das Signal. Keine weitere Diskussion. Um Manuela zu besänftigen, schlug er vor: „Wenn wir Morgenabend auf unserem Boot in Sonderborg sind, rufe ich Henning an. Ich frage ihn dann, ob es bei der Ankunftszeit des Fliegers am Sonntagabend bleibt.“

Er hielt ihr sein Glas zur Güte hin. Sie nahm ihres und stieß als Zustimmung an.

Die zweite Postkarte

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