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2. Haftung für Unterlassen

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Neben der Haftung für aktives Tun kommt eine Haftung für Unterlassen in Betracht, die in Vertikalverhältnissen zu einem dominierenden Haftungsmodell geworden ist. Nicht ganz zu Unrecht wird die Rechtsprechung zur „Unternehmenshandlung“ darauf zurückgeführt, dass Tun und Unterlassen im Bereich der Unternehmenskriminalität in gewissem Maße austauschbar sind, da gleichermaßen Aktiv- und Unterlassungselemente identifiziert werden können: Das Unternehmenswirken ergebe sich erst aus einem Zusammenspiel von Aktivtaten der im Regelfall auf untergeordneten Hierarchieebenen angesiedelten Mitarbeitern und Unterlassungstaten der im Regelfall auf übergeordneten Hierarchieebenen angesiedelten Leitungspersonen.[38] Hinzu treten aus Sicht der Strafverfolgungsbehörden praktische Gründe, weil der Nachweis der aktiven Erbringung eines mit Tatherrschaft geleisteten Tatbeitrages durch eine Leitungsperson regelmäßig Schwierigkeiten bereitet. Der Rückgriff auf ein in die Verhaltensmodalität des Unterlassens gekleidetes Organisationsverschulden ist dann verlockend, zumal Pflichtverstoß und Tatherrschaft im Zweifel relativ schnell zugeschrieben sind. An diesem Punkt ist indes auf die Ambivalenzen eines solchen Haftungsansatzes hinzuweisen, da an die Stelle der eigentlich rechtsgutsverletzenden und mit Tatherrschaft verübten Aktivtat ein bloßes Organisationsverschulden in Form eines Unterlassens tritt.

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Umso wichtiger ist es aus Verteidigungssicht, die allgemeinen strafbarkeitsbegründenden Voraussetzungen der Unterlassungshaftung im Auge zu behalten und die Verteidigung im Falle unechter Unterlassungsdelikte nicht allein auf den zweifellos bedeutsamen Gesichtspunkt der Garantenstellung zu fokussieren. Insbesondere ist an die relativ hohen Anforderungen im Hinblick auf den Kausalnachweis im Unterlassungsbereich zu erinnern, der nur erbracht ist, wenn die an sich gebotene Handlung nicht hinzugedacht werden kann, ohne dass der Erfolg mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeblieben wäre (siehe Rn. 46 ff.). Das abgeforderte Wahrscheinlichkeitsurteil müsste an sich vielfach einer Verurteilung entgegenstehen, da nicht nur eine gewisse Wahrscheinlichkeit, sondern eine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit zu verlangen ist. Unterhalb dieser Schwelle basiert jede Verurteilung auf einer bloßen Fiktion und stellt eine Verdachtsstrafe dar. Je größer und komplexer Unternehmensstrukturen sind, desto schwieriger gestaltet sich der Nachweis dieser Quasi-Kausalität,[39] weshalb es aus Verteidigungssicht angezeigt sein kann, Größe und Komplexität der Unternehmensstrukturen hervorzuheben, um auf diese Weise das Gericht von vorschnellen Kausalattributionen abzuhalten. Allerdings hat der BGH die hohen Anforderungen an die Quasi-Kausalität in den letzten Jahren relativiert und in seiner Entscheidung zum Einsturz der Eissporthalle Bad Reichenhall argumentiert, bei einer genaueren „handnäheren“ Untersuchung durch den als Gutachter tätigen angeklagten Statiker sei nicht auszuschließen gewesen, dass der Betrieb der Halle wenigstens zum Teil eingestellt worden wäre; denn dann hätten konkrete Gefahrenmomente identifiziert werden können, die hinreichender Anlass für eine Schließung der Halle gewesen wären.[40] Indes ist es ein gravierender Unterschied, ob der Erfolgseintritt bei Vornahme der gebotenen Handlung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeblieben wäre oder ob dies nur nicht auszuschließen war. Eine solche Argumentation läuft daher auf ein deutliches Absenken der Kausalitätsanforderungen hinaus, was umso bedenklicher ist, als das Urteil über den Ursachenzusammenhang im Unterlassungsbereich ohnehin auf hypothetischer Grundlage erfolgt. Dann aber mutet es befremdlich an, sich mit einer in dieser Weise vagen Kausalannahme zu begnügen und unausgesprochen mit Risikoverringerungserwägungen zu argumentieren. Aus Verteidigungssicht kommt es daher auch hier darauf an, über die Darlegung denkbarer Alternativszenarien einer allzu leichthändigen und auf mehr oder weniger fundierte probabilistische Annahmen gestützten Zuschreibung von Kausalität entgegenzutreten.

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Ebenso dürften allgemeine Zurechnungsgrundsätze Ansatzpunkte für die Verteidigung bieten, wobei neben dem Grundsatz der Eigenverantwortlichkeit der Pflichtwidrigkeitszusammenhang und der Schutzzweck der Norm eine Rolle spielen können. Sie sind jeweils auf die Garantenstellung bezogen, so dass zu klären ist, ob bei Erfüllung der Garantenpflicht überhaupt der Erfolg ausgeblieben wäre (Pflichtwidrigkeitszusammenhang)[41] bzw. die sich aus der Garantenstellung ergebende Pflicht ihrem Zweck nach auf die Unterbindung eines solchen Erfolges gerichtet ist (Schutzzweck der Norm).[42]

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Jenseits dieser Fragen kommt es darauf an festzulegen, ob und inwieweit die Leitungsperson eine Garantenstellung innehat, die im Vertikalverhältnis spezifische Ausprägungen finden kann. Zwar steht der Grundsatz der Generalverantwortung und Allzuständigkeit einer top down erfolgenden Aufgabendelegation nicht entgegen, da Leitungspersonen die ihnen obliegenden Pflichten nicht zwingend in eigener Person erfüllen müssen, was regelmäßig sogar unmöglich ist. Indes sind in einem solchen Fall geeignete organisatorische Maßnahmen zu treffen, womit sich die unmittelbare Handlungspflicht in eine Organisations- und vor allem Überwachungs- und Kontrollpflicht wandelt.[43] Die Delegation von Handlungspflichten auf untergeordnete Mitarbeiter lässt demnach nicht die grundsätzliche Verantwortlichkeit der Leitungsperson entfallen. Der konkrete Inhalt der Organisations- bzw. Überwachungs- und Kontrollpflicht kann nur anhand des Einzelfalles bestimmt werden, wobei der hierarchischen Einordnung des jeweiligen Mitarbeiters und der Schadensträchtigkeit der Aufgabe besondere Bedeutung zukommt.[44] In der Praxis resultieren Probleme daraus, dass oftmals keine gezielte Delegation von Pflichten vorgenommen wird, sondern sich die Übernahme von Aufgaben gewissermaßen stillschweigend herausbildet.[45] In derartigen Konstellationen erweist sich die Feststellung einer Aufgabenübernahme als schwierig, während mit Blick auf die Leitungsperson problematisch ist, ab wann die originäre Handlungs- in eine Organisations- bzw. Überwachungs- und Kontrollpflicht umschlägt.

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Je nachdem, ob die jeweilige Rechtsgutsverletzung auf der Realisierung eines menschlichen oder sachlichen Gefahrenpotentials basiert, kann zwischen Personen- und Sachgefahren differenziert werden.

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