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DIE INTELLIGENZ EINES INDIVIDUUMS IST KEINE FIXE GRÖSSE

ALFRED BINET (1857–1911)

IM KONTEXT

ANSATZ

Intelligenztheorie

FRÜHER

1859 Der englische Naturforscher Charles Darwin schreibt in Über die Entstehung der Arten, Intelligenz vererbe sich.

1890 Der US-Psychologe James McKeen Cattell entwickelt Tests, mit denen sich individuelle Unterschiede im Hinblick auf geistige Fähigkeiten messen lassen.

SPÄTER

1920er-Jahre Der englische pädagogische Psychologe Cyril Burt behauptet, Intelligenz sei hauptsächlich eine Frage der Gene.

1940er-Jahre Der englische Psychologe Raymond Cattell definiert zwei Arten von Intelligenz: die fluide (angeborene) und die kristalline (durch Erfahrung erworbene).

Mit der Veröffentlichung von Charles Darwins Werk On the Origin of Species (1859, Über die Entstehung der Arten) begann die Diskussion darüber, ob Intelligenz genetisch festgelegt sei oder sich durch äußere Einwirkungen verändern lasse. Darwins Cousin Francis Galton untersuchte Anfang der 1880er- Jahre etwa 9000 Londoner auf ihre kognitiven Fähigkeiten. Er kam zu dem Schluss, dass wir Menschen mit einer Basisintelligenz geboren werden, die eine fixe Größe darstellt. Etwa zur selben Zeit entwickelte Wilhelm Wundt das Konzept eines »Intelligenzquotienten« (IQ) und versuchte, diesen zu messen. Wundts Arbeit bildete die Grundlage für Alfred Binets Forschungen über die menschliche Intelligenz.


Fasziniert vom Lernen

Binet studierte Jura, Medizin und Biologie, ehe er sich für Psychologie zu interessieren begann. Vieles eignete er sich im Selbststudium an. Auf jeden Fall wusste er nach der mehr als sieben Jahre währenden Arbeit mit Jean-Martin Charcot an der Pariser Salpêtrière, dass Versuche präzise durchgeführt und sorgfältig geplant werden müssen. Der Wunsch, die menschliche Intelligenz zu erforschen, entstand aus der Beobachtung seiner beiden Töchter. Er stellte fest, dass sie neue Informationen mal schneller und mal langsamer aufnahmen, je nachdem wie aufmerksam sie waren. Die Umgebung und die aktuelle geistige Verfassung der Kinder schienen das Lernen entscheidend zu beeinflussen.

Nachdem er von Francis Galtons Versuchen gehört hatte, beschloss Binet, eine eigene, breit angelegte Studie durchzuführen. Er wollte mehr über die unterschiedlichen individuellen Fähigkeiten etwa von Mathematikern, Schachspielern, Schriftstellern und Künstlern erfahren. Gleichzeitig setzte er seine Forschungen zur funktionalen Intelligenz von Kindern fort. Dabei stellte er fest, dass Kinder in einem gewissen Alter jeweils bestimmte Fähigkeiten erwerben. Sehr kleine Kinder z. B. können noch nicht abstrakt denken. Die Fähigkeit zum abstrakten Denken schien also auf ein höheres, altersspezifisches Intelligenzlevel hinzudeuten.

1899 erhielt Binet die Einladung, der neu gegründeten Societé libre pour l’étude psychologique de l’enfant – einer Gesellschaft für Kinderpsychologie – beizutreten. Schon bald übernahm er dort eine Führungsrolle und begann, pädagogische Artikel zu publizieren. 1882 war in Frankreich die Schulpflicht für Sechsbis Zwölfjährige eingeführt worden. 1904 wurde Binet in eine Regierungskommission berufen und damit beauftragt, eine Methode zu entwickeln, um das Lernpotenzial von Kindern zu beurteilen.

Der Binet-Simon-Test

Binet machte sich gemeinsam mit Théodore Simon ans Werk. Simon arbeitete am Laboratorium für experimentelle Psychologie an der Pariser Sorbonne, das Binet seit 1894 leitete. Dies war der Beginn einer langen und produktiven Zusammenarbeit.


Intelligenztests werden inzwischen fast standardmäßig eingesetzt, um den schulischen Erfolg von Kindern vorherzusagen. Sie basieren noch heute weitgehend auf dem Binet-Simon-Test.

1905 publizieren Binet und Simon unter dem Titel Methodes nouvelles pour le diagnostique du niveau intellectuel des anormaux in einer psychologischen Fachzeitschrift erste Ergebnisse. Bald danach präsentierten sie eine verbesserte Testversion für Kinder im Alter von drei bis 13, die einfach »Binet-Simon-Test« genannt wurde. Dieser Test wurde 1908 und 1911 noch einmal überarbeitet.

Die beiden Wissenschaftler hatten 30 Aufgaben mit zunehmendem Schwierigkeitsgrad zusammengestellt, die den durchschnittlichen Fähigkeiten von Kindern bestimmter Altersgruppen entsprachen. Basis dafür waren ihre langjährigen Beobachtungen. Zu den einfachsten Aufgaben gehörte es, mit den Augen einem Lichtstrahl zu folgen oder eine einfache Unterhaltung mit der Person zu führen, die den Test durchführte. Auf bestimmte Körperteile zu deuten, einfache Sätze zu wiederholen oder Wörter wie »Haus« oder »Gabel« zu definieren war schon schwieriger. Noch kniffliger war es, den Unterschied zwischen zwei ähnlichen Objekten zu beschreiben, Dinge aus dem Gedächtnis nachzuzeichnen und aus drei vorgegebenen Wörtern Sätze zu bilden. Als sehr schwierig galt es, sieben zufällig ausgewählte Ziffern zu wiederholen, drei Wörter zu finden, die sich auf »obéissance« reimten, und Fragen wie »Mein Nachbar bekommt seit Kurzem seltsamen Besuch von einem Arzt, einem Anwalt und einem Priester. Was geschieht da?« zu beantworten.

Binet und Simon führten den Test mit 50 Kindern durch, die sich gleichmäßig auf fünf Altersgruppen verteilten. Die Kinder waren von ihren Lehrern ausgewählt worden und galten als durchschnittlich entwickelt, ihre Ergebnisse konnten also als Referenzgröße dienen. Die 30 Aufgaben waren unter streng kontrollierten Bedingungen zu lösen. Binet hatte beim Beobachten seiner Töchter erkannt, dass Kinder sich leicht ablenken lassen und ihr Aufmerksamkeitslevel mit über ihre Leistung entscheidet. Intelligenz setzte sich für ihn aus vielerlei geistigen Fähigkeiten zusammen, die im realen Leben unter wechselnden Bedingungen zum Tragen kommen und durch praktisches Urteilen kontrolliert werden.

»In der Intelligenz gibt es … eine grundlegende Funktion, deren Fehlen oder Veränderung von größter Bedeutung für das praktische Leben ist: das Urteil.«

Alfred Binet

Intelligenz ist keine feste Größe

Binet machte nie einen Hehl aus der begrenzten Aussagekraft des von ihm und Simon entwickelten Tests. Er wies immer wieder darauf hin, dass sich mit ihm nur die intellektuellen Leistungen von Kindern gleichen Alters vergleichen ließen. Bei den überarbeiteten Testversionen von 1908 und 1911 ging es hingegen vornehmlich um die Bewertung unterschiedlicher Altersgruppen, daraus entstand schließlich das Konzept des »Intelligenzalters«.

Binet vertrat die Meinung, dass die geistige Entwicklung ungleichmäßig schnell voranschreite und durch Umweltfaktoren beeinflusst werden könne. Testergebnisse betrachtete er als Momentaufnahmen, ihm zufolge kann das geistige Level eines Individuums sich verändern, wenn die Umstände sich ändern. Binet widersprach damit dem englischen Psychologen Charles Spearman, der behauptete, Intelligenz basiere allein auf biologischen Gegebenheiten.

Binet hielt die Intelligenz nicht für eine fixe Größe, seiner Ansicht nach entwickelte sie sich mit dem Heranwachsen. Auch mit der von ihm erdachten Methode konnte seines Erachtens die Intelligenz eines Menschen nicht absolut gemessen werden. Um ein vollständiges Bild von einer Person zu erhalten, müsse eine begleitende Fallstudie durchgeführt werden. Letztlich erschien es ihm unmöglich, Intelligenz wie eine physikalische Größe zu messen. Seiner Ansicht nach gab es nur die Möglichkeit, sie zu klassifizieren.

Anwendung und Missbrauch

1908 reiste der US-Psychologe Henry H. Goddard nach Europa, dort stieß er auf den Binet-Simon-Test. Er übersetzte die Aufgaben und verteilte rund 22 000 Kopien in den USA, sodass der Test auch dort in Schulen durchgeführt werden konnte. Anders als Binet war Goddard der Auffassung, dass die Intelligenz genetisch bestimmt sei. Er sah im Binet-Simon-Test eine Möglichkeit, »geistesschwache Menschen« zu identifizieren, um sie der Zwangssterilisation zu unterwerfen.

1916 entwickelte der amerikanische Psychologe Lewis Terman Binets Test weiter und benannte ihn in Stanford-Binet-Test um. Nun ging es nicht mehr nur darum, Kindern mit besonderem Förderbedarf zu identifizieren, sondern auch darum, diejenigen herauszufiltern, die sich eher für eine berufsorientierte Ausbildung zu eignen schienen. Faktisch wurden diese Kinder so zu einer Berufslaufbahn verurteilt, die nur untergeordnete Tätigkeiten vorsah. Terman glaubte wie Goddard, dass Intelligenz ererbt sei und sich durch Bildungsmaßnahmen nicht beeinflussen lasse.


Mit dem Binet-Simon-Test ermittelt man einen Intelligenzquotienten (IQ), der ein allgemeines Leistungsniveau repräsentiert. Mit einer solchen Grafik lässt sich zeigen, welcher Anteil einer Bevölkerung über welchen IQ verfügt.

Binet schien zumindest eine Zeit lang nicht mitzubekommen, wie mit seinem Werk umgegangen wurde. Er war ein Einzelgänger, der sich nur selten mit den fachspezifischen Entwicklungen außerhalb seines unmittelbaren Umfelds beschäftigte. In Frankreich, das er nicht ein einziges Mal verließ, wurde der Binet-Simon-Test zu seinen Lebzeiten nicht eingesetzt. Vielleicht ahnte er deshalb nicht, dass seine Forschungsergebnisse erweitert und umgedeutet wurden. Als ihm schließlich zu Ohren kam, wozu sein Test benutzt wurde, verurteilte er den »brutalen Pessimismus« und die »beklagenswerten Urteile« derjenigen, die einem statischen, eindimensionalen Intelligenzbegriff das Wort redeten.

Binets Intelligenztest dient noch heute zur Messung des IQ. In der Folge sind zahllose Forschungsarbeiten entstanden, die unsere Kenntnisse über die menschliche Intelligenz erweitert haben.

»Ich habe nicht versucht, eine Messmethode zu entwerfen …, sondern nur eine Methode zur Klassifizierung von Individuen.«

Alfred Binet

Alfred Binet


Alfred Binet wurde in Nizza geboren, zog nach der Trennung seiner Eltern aber mit seiner Mutter nach Paris. 1878 machte er seinen Abschluss in Jura und studierte dann Medizin. Bald wandte er sich aber der Psychologie zu. Obwohl er mehr oder weniger Autodidakt war, bot ihm Jean-Martin Charcot im Jahr 1883 eine Stelle am Pariser Hôpital de la Salpêtrière an. Nach der Geburt seiner zwei Töchter begann Binet sich für Fragen der Intelligenz und das Thema Lernen zu interessieren. 1891 wurde er zum stellvertretenden Leiter des Laboratoriums für experimentelle Psychologie an der Sorbonne ernannt, 1894 wurde er Direktor.

Binet starb 1911, Anerkennung für seine Verdienste erhielt er auch danach noch. 1917 wurde die Société libre pour l’étude psychologique de l’enfant in Société Alfred Binet umbenannt.

Hauptwerke

1903 L’étude expérimentale de l’intelligence

1905 L’âme et le corps

1911 La mesure du développement de l’intelligence chez les jeunes enfants

Big Ideas. Das Psychologie-Buch

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