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DAS SELBST SEIN ZU WOLLEN, DAS MAN IN WAHRHEIT IST

SØREN KIERKEGAARD (1813–1855)

IM KONTEXT

ANSATZ

Existenzphilosophie

FRÜHER

5. Jh. v. Chr. Sokrates sieht die Entdeckung des »wahren Selbst« als Schlüssel zum Glück.

SPÄTER

1879 Wilhelm Wundt setzt die Selbstanalyse als Mittel psychologischer Forschung ein.

1913 John B. Watson kritisiert die Anwendung der Selbstanalyse in der Psychologie.

1951 Carl Rogers publiziert Die klientenzentrierte Gesprächspsychotherapie; 1961 erscheint Entwicklung der Persönlichkeit.

1960 Ronald D. Laing definiert in Das geteilte Selbst den Begriff »Wahnsinn« neu und propagiert die Daseinsanalyse als Therapiemethode.

1996 Rollo May bezieht sich in seinem Buch The Meaning of Anxiety auf Kierkegaards Werk Der Begriff Angst.

Die Frage »Wer bin ich?« beschäftigte schon die alten Griechen. Sokrates (470–399 v. Chr.) sah die Aufgabe der Philosophie darin, durch Selbsterkenntnis die Glückseligkeit zu fördern. »Das Leben, das nicht einer Prüfung unterzogen wird, ist für einen Menschen nicht lebenswert«, lautet einer seiner berühmtesten Sätze. Für Søren Kierkegaard war die Selbstanalyse ein Mittel zum Verständnis der Verzweiflung, die seiner Ansicht nach nicht aus der Depression, sondern aus der Selbstentfremdung resultiert, wie er in seinem Buch Die Krankheit zum Tode (1849) darlegte.


Napoleons Machtgier, auf dem Gemälde als riesiger Schatten dargestellt, führte dazu, dass er sein wahres Selbst und seine Grenzen aus den Augen verlor und verzweifelte.

Kierkegaard beschrieb in seinen Ausführungen mehrere Ebenen der Verzweiflung. Die niedrigste und allgemeinste habe ihren Ursprung in der Unwissenheit: Der Mensch habe eine falsche Vorstellung vom Wesen des »Selbst« und sei sich seiner Möglichkeiten noch nicht bewusst. Ob dieser Zustand angesichts seiner Banalität den Namen Verzweiflung überhaupt verdiene, ließ Kierkegaard offen. Echte und tiefe Verzweiflung entstand seiner Ansicht nach erst mit zunehmender Selbsterkenntnis. Wenn, so schrieb er, ein junges Mädchen aus Liebe verzweifle, so verzweifle sie in Wahrheit nicht über den Verlust des Geliebten, sondern über sich selbst. Dieses Selbst wird ihr nun »zur Plage« – sie will es loswerden und verzweifelt, weil ihr dies nicht gelingt.


Sich selbst loswerden

Was genau Kierkegaard damit meint, erklärt er am Beispiel eines Herrschsüchtigen, »dessen Losung heißt: ›entweder Cäsar oder nichts‹«. Er legt dar, dass hinter dem Streben dieses Mannes der Wunsch stehe, sich selbst aufzugeben oder »loszuwerden« – ein Ding der Unmöglichkeit. »Wenn er Cäsar geworden wäre, so wäre er sich verzweifelt losgeworden; nun ward er aber nicht Cäsar und kann verzweifelt sich nicht loswerden. Wesentlich ist er gleich verzweifelt, denn er hat sein Selbst nicht, er ist nicht er selbst.«

Nach Kierkegaards Ansicht gibt es hierfür eine Lösung. Wenn der Mensch den Mut aufbringe, so zu sein, wie er wirklich ist, könne er Frieden und innere Harmonie finden, denn: »Das Selbst sein zu wollen, das er in Wahrheit ist, das ist ja gerade das Gegenteil von Verzweiflung.« Wenn wir damit aufhörten, unser wahres Selbst zu leugnen, und unsere wahre Natur zu entdecken und zu akzeptieren versuchten, löse sich die Verzweiflung auf.

Da Kierkegaard die Verantwortlichkeit des Individuums für das eigene Leben so stark betonte, gilt er oft als Begründer der Existenzphilosophie. Die von R. D. Laing eingeführte existenzielle Therapie und die humanistische Therapie, die von klinischen Psychologen wie Carl Rogers praktiziert wurde, sind direkt von Kierkegaard beeinflusst.

Søren Kierkegaard


Søren Kierkegaard wurde in Kopenhagen geboren und wuchs in materiell gesicherten Verhältnissen auf. Er wurde streng pietistisch erzogen. Als er anfing zu studieren, entschied er sich zunächst für die Theologie, dann wechselte er zu Philosophie. Nachdem er von seinem Vater ein beträchtliches Vermögen geerbt hatte, beschloss er, sein Leben ganz der Philosophie zu widmen. 1840 verlobte er sich mit Regine Olsen, löste aber die Verlobung ein Jahr später wieder auf, weil er glaubte, nicht für die Ehe zu taugen. Sein melancholisches Wesen prägte sein gesamtes Leben. Er war ein Einzelgänger, der gerne in den Straßen herumlief, sich mit Fremden unterhielt oder allein in der Gegend herumfuhr. Kierkegaard brach am 2. Oktober 1855 auf der Straße zusammen und starb am 11. November im Frederiks-Hospital in Kopenhagen.

Hauptwerke

1843 Furcht und Zittern

1843 Entweder – Oder

1844 Der Begriff Angst

1849 Die Krankheit zum Tode

Big Ideas. Das Psychologie-Buch

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