Читать книгу Jenny Marx - Marlene Ambrosi - Страница 9
ОглавлениеVerliebt, verlobt, getrennt
Die Jahre 1830 und 1831
Jenny von Westphalen stand im Mittelpunkt der Familie. Die junge Frau bezauberte durch ihre Intelligenz und nahm durch ihr Interesse an aktuellen Themen und gesellschaftlichen Problemen für sich ein. Offene Parteinahme für die Armen oder Aufmüpfigen entschuldigte ihr Umfeld mit jugendlicher Unreife. Nur mit dem ältesten Bruder gab es immer wieder Reibereien. Ferdinand machte aus seiner Regierungstreue und seiner Ergebenheit zum preußischen König keinen Hehl und stieß damit auf Unverständnis und Widerspruch bei seiner jüngeren Schwester. Der Karrierejurist, sehr adelsbewusst, zeigte sich zudem den im väterlichen Haushalt lebenden Frauen gegenüber recht überheblich. Die „Damen benehmen sich ganz artig, jedoch lasse ich mich mit ihnen nicht vertraulich in wichtige Unterhaltung ein, u. setze ihnen in der Regel ein ernstes etwas phlegmatisches Antlitz entgegen“ 1 , schrieb er seiner Braut. Stiefmutter Caroline, ihre Schwester Christiane Heubel, die seit 1817 im Westphal’schen Haushalt lebte, und Jenny hätten gerne mit ihm über seine zukünftige Frau, Louise von Florencourt, geplaudert und ihm Einrichtungstipps für seine neue Wohnung in Bitburg gegeben, aber er unterband jegliche Vertraulichkeit. Ferdinand war nicht bereit, sich „mit diesen gleichgültigen abstoßenden Personen … in Unterhaltungen über das einzulassen, was mir das Liebste und Edelste auf der Erde ist und was wäre es dann auch, wenn sie in Dein Lob u. in mein Glück Deinetwegen mit einstimmten, müsste ich mir ja doch stets sagen, dass es nicht aus ihren Herzen kam. So erwiedre ich denn auf ihre Abneigung mit Kälte und Trockenheit.“ 2 Zum Eklat ließ er es wegen des Vaters, dessen angenehmes Wesen allgemein betont wurde, nicht kommen. Ferdinands Mutter, Ludwigs erste Frau, hatte des Vaters Sanftmut, seine seltene Herzensgüte und die immer gleiche Gemütsstimmung gerühmt, und diese Meinung teilte Caroline, die zweite Frau. „Ein herrlicher Charakter, durch den ich hienieden einen Himmel genieße, alle Stürme des Lebens tragen wir mit Liebe untereinander, denn oft hat freilich das Schicksal unsanft an uns gezerrt, aber wer eine solche Stütze hat wie ich an ihm habe, da sinkt mein Fus nicht“ 3, pries sie ihren Mann bei Vetter Perthes. Ein solcher Mann war ein guter, verständnisvoller, liebevoller Vater, aber Ferdinand wünschte sich von ihm mehr Durchsetzungskraft. In seinen Lebenserinnerungen beklagte er: „Der edle Vater waltete über dem Ganzen in seiner unzerstörbaren Freundlichkeit und Selbstverleugnung, mit seinem fein gebildeten Geist und angeborenen Takt sich mehr unterordnend und zurückhaltend, als ihm seiner höher angelegten Persönlichkeit zukam. … Doch es lag nun einmal ein hinderndes Etwas, eine unübersteigliche Schwierigkeit im Wege – … vorwiegend in den Eigenthümlichkeiten seiner Gattin, deren Bildungsstandpunct und Begabung so ganz verschieden war von der seinigen. Dies trat denn auch in der Art und Weise der Erziehung der Kinder, sowohl was die leibliche Wartung, als was Zucht und Gehorsam betrifft, immer bemerkbarer hervor. Das leitende Princip der Mutter war, den lieben Kindern ihren Willen lassen! – und sie wurden von ihr, man kann sagen, ihnen in’s Angesicht gelobt, selbst, wenn sie dumme Streiche machten und was sich nicht schickte, ward entschuldigt oder – nicht gesehen, vor allem aber Fremden, den Freunden gegenüber, wurden der Kinder vortreffliche Eigenschaften herausgestrichen.“ 4 Eine moderne Erziehung, die Ferdinand nicht gutheißen konnte. Sein gnadenloses Urteil über die in seiner Wahrnehmung leicht proletarisch angehauchte und nicht standesgemäße Stiefmutter verriet ein angespanntes Verhältnis. Wenigstens erinnerte er sich, dass „etwas dieser Art … wir Älteren schon in Salzwedel erfahren (hatten); was Wunders, dass wir – ich nehme Carl aus – uns am Ende selbst besser und tüchtiger dünkten, als wir waren.“ 5 Das mochte bei ihm zutreffen. Obwohl der Erstgeborene nach dem Tode des Vaters den Kontakt zur Stiefmutter und seinen Halbgeschwistern hielt, leugnete er sie. In seinen Erläuterungen zu den von ihm 1859 herausgebrachten Manuskripten seines Großvaters erwähnte er nicht mit einem Wort die zweite Ehe seines Vaters. Jenny war empört, denn damit unterschlug er nicht nur 30 glückliche Lebensjahre des Vaters, sondern auch ihre und Bruder Edgars Existenz. Auf diese Weise konnte er nach Ansicht Jennys sie „geschickt um ihr, ihn störendes, Dasein bringen.“ 6 Einer der Gründe für sein Verschweigen war, dass er seine Halbschwester Jenny, eine geborene von Westphalen, nicht erwähnen wollte, weil diese inzwischen Frau Marx, die Frau eines Staatsfeindes, geworden war. Es war ihm nicht daran gelegen, dieses Faktum der Öffentlichkeit ohne zwingenden Grund zu unterbreiten.
Jenny wuchs unbeschwert in angenehmen Verhältnissen zu einer jungen Frau von Stand heran. „Meine älteste Tochter Jenny … schön an Seel und Körper, sie ist unsere wahre Freude im Leben …“ 7, schwärmte die Mutter bei ihrem Vetter über die Tochter, ein großes, schlankes Mädchen mit einem hübschen, schmalen Gesicht und ausdrucksvollen Augen, umrahmt von dunklen Haaren. Bald schon wurde die junge Adlige von der Männerwelt umworben, ihre Heiratschancen waren vorzüglich. „Jenny war ein mit den Reizen der Jugend ausgestattetes, schönes Mädchen, ausdrucksvollen Antlitzes, durch ihren hellen Verstand und energische Charakter-Anlagen die meisten ihrer Altersgenossinnen überragend. Es konnte nicht fehlen, dass sie unter den jungen Männern aller Augen auf sich zog“ 8, schrieb Bruder Ferdinand stolz an seinen Schwiegervater. Sie werde „fleißig von Curmachern umschwärmt, soll jedoch fortfahren, denselben ihr sangfroid – was in diesem Stücke gut angebracht ist – entgegenzusetzen.“ 9 Die Baronesse zeigte nicht die kalte Schulter, als ein Karl von Pannewitz aus Schlesien auftauchte. Die inzwischen zur „Ballkönigin“ avancierte Sechzehnjährige verliebte sich in den schneidigen, zackigen Secondeleutnant mit den guten Umgangsformen, und nach kurzer Bekanntschaft hielt dieser bei Vater Ludwig um ihre Hand an und erhielt die Zustimmung. Jenny war selig, turtelte mit dem schmucken Militär und fühlte sich wichtig im Kreise der jungen Damen, die, kaum erwachsen, von einem Manne zur Frau begehrt wurden. Die Verlobung fand (vermutlich) im Frühling 1831 statt. Alles schien den vorbestimmten Weg zu nehmen und die romantische Jenny träumte von Hochzeit.
Im Casino am Kornmarkt in Trier avancierte Jenny von Westphalen zur Ballkönigin
Laut den preußischen Militärakten gehörte ein Secondeleutnant Karl von Pannewitz (9. März 1803 – 16. Oktober 1856) dem 2. Bataillon des Infanterieregiments Nr. 28 an, das vom 8. Oktober 1830 bis zum 15. Juli 1831 in Trier und bis Mai 1832 im Hochwald stationiert war. Im Hause 462 bezog vom 8. Oktober bis zum 16. Dezember 1830 nachweislich ein von Pannewitz Quartier.
Die Verbindung zwischen der kapriziösen Baronesse und dem Leutnant sorgte bald für Gerede. Louise, inzwischen Ferdinands Frau, mischte eifrig mit. Nachdem sie von Caroline von Westphalen in einem „Triumphbrief“ von der Verlobung erfahren hatte, teilte sie im Oktober 1831 ihrer Mutter wichtigtuerisch mit: „Desto unangenehmer wurden aber wir durch Deine Nachrichten, Jenny’s neu geknüpftes Verhältniß betreffend, überrascht. Mir ist es noch ganz unerklärlich, wie die Mutter so schnell von ihrem wahrhaft unvernünftigen Enthusiasmus zurückgekommen ist, u. wie überhaupt die Enttäuschung in so kurzer Zeit so grell hat erfolgen können. Begierig sehen wir nun Alle Euren weiteren Bemerkungen über dieses leider! so bald von seinem ersten schönen Nimbus entkleidete Verhältniß entgegen, u. vor allem wünschen wir Jenny’s Empfindungen näher ergründen zu können, indem Ferdinand mit mir der Meinung ist, daß wenn das arme bethörte Mädchen jetzt schon den übereilten Schritt bereut, die Auflösung der Verbindung für alle Theile sehr zu wünschen ist. Wahrlich, Mutter u. Tochter dauren mich Beide sehr!“ 10 Im Familien-, Verwandten- und Bekanntenkreis wurde vermutlich über Probleme zwischen Fräulein von Westphalen und Karl von Pannewitz geklatscht, aber man war noch im Ungewissen, ob es zu einer Aufkündigung der Verlobung kommen würde. Louise zerbrach sich über Dinge den Kopf, die sie eigentlich nichts angingen. Sie bedauerte vor allem ihren Schwiegervater, den „Pylades“, denn ihr erschien „die Mutter, die doch wahrscheinlich die Hauptbeförderin von Jennys Verlobung gewesen ist, um so unverantwortlicher, da es bei wahrer Liebe für ihren ausgezeichneten Mann ihr erstes Streben hätte sein sollen, ihn … zum Verlassen des Geschäftslebens zu überreden, statt daß sie ihn, durch das eitle Befördern jener thörichten Verbindung … noch fest an seine Ketten geschmiedet hat. Oh, möchte doch dieses unpassende Verhältnis aufgelöst werden!“ 11 Nach ihrer und Ferdinands Ansicht hätte Ludwig von Westphalen aus gesundheitlichen Gründen den Dienst quittieren sollen.
Louise bat ihre Eltern, die in Trier lebten, um alle relevanten Informationen, denn der weiteren „Entwicklung von Jennys merkwürdigem Verhältnisse, sehen wir begierig entgegen.“ 12 Von Schwiegermutter Caroline hatte die Neugierige nämlich wenig befriedigende Auskünfte erhalten: „In der sie betreffenden Hauptsache, äußert sie sich übrigens sehr wenig und dunkel, so dass wir, ohne Eure vorhergegangenen Erläuterungen, von Jennys jetzigem Verhältnisse gar keine richtige Ansicht bekommen hätten.“ 13 Voller heuchlerischer Anteilnahme bat Louise ihre Mutter, Frau von Westphalen zu versichern, „daß es mir gewiß um Jennys und um ihretwillen sehr leid thäte, dies Verhältniß, von dem sie sich so viel Freude versprochen hätte, so trübe umwölkt zu sehen, dass ich indessen sehr hoffte und wünschte, dass sich diese betrübte Angelegenheit noch auf ein oder die andre Weise zu ihrer Zufriedenheit endigen würde.“ 14 Ihre Doppelzüngigkeit verriet ihr ambivalentes Verhältnis zu ihrer Schwiegermutter. Sie zeigte Adelsdünkel und Arroganz und vergaß, dass ihre Mutter ein gebürtiges Fräulein Wegener war, das sich „hochgeheiratet“ hatte; somit war auch sie wie Jenny halb bürgerlich. Vielleicht förderte Caroline von Westphalen gerade deshalb die Liaison Jennys mit dem adligen Leutnant, damit der Makel wie bei Louise beseitigt werden konnte.
Die Entlobung erfolgte spätestens Ende Oktober 1831 und natürlich suchte Louise nun in den Briefen an ihre Eltern nach den Ursachen. Sie konnte „noch immer nicht begreifen, was für gewichtige neue Gründe meine Schwiegereltern u. Jenny so schnell gegen diese Verbindung eingenommen haben. Die schlechten pecuniären Aussichten für die Zukunft sind ja die nämlichen geblieben, als sie bei der Schließung dieser Verbindung waren: die Hauptgegengründe müssen jetzt also wohl in der Persönlichkeit des H. v. Pannewitz aufgefunden sein; doch schreibt meine Schwiegermutter, dass sie sich in seinem Charakter zwar nicht geirrt hätten“ 15, aber der „Hauptfehler des H.v.P.“, so hatte Louises Mutter kolportiert, sei dessen „Mangel an Kenntnis und an Sinn daran!“ 16 Bildungsmangel und Bildungsunlust waren für Louise natürlich „ein großer übelstand“, „doch hätten wir nicht geglaubt, daß dieser von Seiten der Mutter u. Jenny’s so hoch angeschlagen würde, u. glauben überhaupt nicht, daß dieser neu entdeckte Fehler einen alleinigen gewichtigen Grund zur Auflösung der Verbindung darbieten könnte, wenn nicht bedeutendere Charakter – u. moralische Fehler noch zum Grunde liegen.“ 17 Die Forderung nach Bildung über das übliche Maß hinaus konnte bei der so kritischen Jenny eigentlich kaum überraschen. Louise verbiss sich in das Thema, nahm die Rolle der ungeliebten Caroline von Westphalen und deren Schwester Christiane ins Visier. Zu ihren Eltern: „Fast möchte ich sagen, dass mir das jetzige Benehmen der beiden ältern Damen gegen den unglücklichen Liebhaber noch weit mehr widersteht als ihr früheres; oder um mich deutlicher auszudrücken, dass die thörichte, eitle Verblendung, die sie früherhin zum Begünstigen und Befördern dieser Verbindung bewog, mir fast noch verzeihlicher erscheint, als ihre jetzige Härte, Ungerechtigkeit u. Indelicatesse in Behandlung dieses Verhältnisses. Ja wenn nicht wirklich, uns sämtlich verschwiegene, bedeutende moralische Fehler, der Abneigung der beiden ältern Damen gegen H.v.P. zum Grunde liegen, so möchte ich behaupten, daß ihrem Verfahren gegen ihn sogar alle Rechtlichkeit fehlt. Wenn aber wirklich moralische Flecken an dem armen Verfolgten durch die spähenden Beobachtungen hätten aufgefunden werden können, so würden sie diesen Makel sicher nicht verschwiegen haben, da ihnen dadurch das leichteste und gerechteste Mittel zu der von ihnen so heiß gewünschten Auflösung der Verbindung in die Hand gegeben würde.“ 18 Die Stiefschwiegertochter vermutete letztendlich „gekränkte Eitelkeit“ bei den Damen: der Leutnant habe ihnen nicht mehr hofiert und sei deshalb in Ungnade gefallen. Louise ergriff Partei: „Bei aller Oberflächlichkeit und Alltäglichkeit des jungen Mannes, die ich, ohne ihn zu kennen, reichlich suggerire, dauert er mich doch indem er unrechtlich und unpassend behandelt wird. – Ja, der sonst so ruhige Carl meinte in seiner Entrüstung über die ganze Sache, dass, wenn er an H. v. Pannewitz Stelle wäre, er wohl wüsste, welch einen Aufsage-Brief er den sämtlichen Damen zusenden würde.“ 19 Sogar Bruder Carl wurde instrumentalisiert, damit Louise sich moralisierend aufspielen konnte. Für sie war zudem „das Umhertreiben auf Casino-Bällen unter solchen Umständen (...) fast eine öffentliche Blame zu nennen.“ 20 Jenny war zwar jung und lebenslustig, aber keine Herumtreiberin. Bruder Ferdinand hoffte auf Einsicht der Schwester nach der gescheiterten Verlobung, „wenn es ihr bei ihrem sonst verständigen Urtheil nicht bereits gelungen sein sollte. Aber mindestens bleibt immer eine harte sehr empfindliche Lehre zurück.“ 21 Er stellte bei seinem Schwiegervater Erwägungen zum Ende der Beziehung an, nämlich „dass der Mangel an Vermögen auf beiden Seiten … nicht als ein wesentliches Hinderniß erschienen ist; dagegen zählte ich umso gewisser auf die anderen guten und für die Zukunft noch mehr versprechenden Eigenschaften; sobald hierin aber bei dem Mann nur ein gewöhnlicher Grad anzutreffen war, u. zwar so wie er im Offiziersstande eben vorkommt, – musste ich auch die Sache für ein wahres Unglück ansehen.“ 22 Der Bruder begrüßte letztendlich die Trennung von dem doch sehr durchschnittlichen Leutnant. Mit keinem Wort ging er hingegen darauf ein, die Eltern hätten die Verlobung wegen zu naher Verwandtschaft zu der Familie von Pannewitz nicht gut geheißen. Die Mutter der ersten Frau Ludwigs war eine Friederike Albertine von Pannewitz gewesen, und dies führte in der Literatur zu überlegungen, ob nicht zu enge familiäre Verbindungen vorlagen. Dies ist im Prinzip für die Kinder aus der zweiten Ehe irrelevant.
Schwägerin Louise ereiferte sich auch Anfang Januar 1832 noch. Während ihre Familie in aller Bescheidenheit Weihnachten gefeiert hatte, missfielen ihr die Festlichkeiten bei ihrer Schwiegerfamilie. An ihre Eltern: „In Jenny’s Gemüth muß aber auch kein Fünkchen Gefühl wohnen, sonst würde sie sich doch schon aus Mitleid mit ihrem unglücklichen ihr so viel Liebe bewiesen habenden Verlobten, gegen solch eine unpassende Feier gewehrt haben. … Wie lange wird es dauren, u. der erste, beste Nachfolger tritt an H. v. Pannewitz Stelle, wenn die etwaigen Bewerber nicht durch die dem Armen widerfahrene Behandlung etwas kopfscheu gemacht sein sollten.“ 23 Was die Schwägerin nicht ahnte, war, dass der „erste, beste Nachfolger“ bereits in unmittelbarer Nähe war. Ausgehend von ihrer begierigen Anteilnahme an Jennys erster Verlobung lässt die Vorstellung schaudern, wie sie sich über die nächste Liaison geäußert hat.
Von den Hauptpersonen liegt keine Äußerung zu dieser Episode vor, und so bleiben nur Mutmaßungen. Für Jenny von Westphalen war des Leutnants engstirnige Geisteshaltung für die Trennung entscheidend gewesen. Der preußische Soldat hatte Gehorsam und Exerzieren gelernt, selbständiges Denken und kritische Auseinandersetzungen waren ihm fremd. Er sah keinen Sinn darin, Bildung und Wissen über das übliche Maß hinaus zu erlangen. Wider Erwarten zeigte sich die Verlobte nicht nur an Handarbeit, sondern auch an Literatur und sozial-politischen Themen interessiert. Die Gründung des Staates Belgien und vor allem die Julirevolution in Frankreich 1830 waren Diskussionsthemen im häuslichen Kreise gewesen und Jenny wollte auch bei Pannewitz zu den brennenden politischen Fragen nicht brav schweigen, wie es von einer jungen Dame von Stand erwartet wurde. Noch schlimmer: Die Braut votierte nicht für das Niederschlagen revolutionärer Aktionen durch das Militär. Ihr Verlobter hingegen zeigte vermutlich keinerlei Verständnis und Sympathie für die Aufrührer. Für ihn war das Eingreifen der Armee eine Selbstverständlichkeit. Er war bereit, die aufmüpfigen Bürger in Trier niederzuschießen und niederzustechen, ganz nach Friedrich Wilhelms IV. späterem Motto: „Gegen Demokraten helfen nur Soldaten“. Bei näherem Kennenlernen behagte Jenny die Einstellung des Verlobten immer weniger, und ihr Verhalten wurde eine Herausforderung für den elf Jahre älteren Leutnant, der er nicht gewachsen war. Inwieweit es Jenny als chic empfand zu opponieren, mag dahingestellt sein, aber sie fühlte in ihrem Innersten, dass ihrem Leutnant noch etwas fehlte, was sie für unverzichtbar hielt: ein soziales Gewissen, d.h. Empathie mit den Armen und Bedürftigen und Verständnis für die aufgeklärten, mündigen Bürger, die Mitspracherecht in ihrem Staat einforderten und nicht länger Untertanen sein wollten. Das musste keineswegs eine prinzipiell antimonarchische Haltung bedeuten, aber der Soldat Karl von Pannewitz empfand es als zu provozierend, dass das 17-jährige Fräulein eine andere – aus seiner Sicht revolutionäre! – Meinung vertrat. Sie oder er zogen die Konsequenz.
Schwägerin Louise mag durchaus richtig mit ihrer Beobachtung gelegen haben, dass Mutter und Tante in beide Entscheidungen involviert waren. Jennys Wahl des protestantischen, adligen, preußischen Leutnants Pannewitz konnten sie eigentlich nur gutheißen, zumal die Mitgift der Braut bescheiden war. Inwieweit sie zur Entlobung rieten, ist nicht zu belegen.
Die Trennung war letztlich ein guter Schritt. Wäre Jenny mit Karl von Pannewitz in den Stand der Ehe getreten, wäre ihr Leben typisch für eine Adlige verlaufen. Sie hätte in ihren Kreisen verkehrt, hätte standesgemäß repräsentiert und ein materiell abgesichertes Leben geführt – allerdings mit dem Risiko, wie manche Frauen ihrer Zeit aus Mangel an geistiger Anregung zu verkümmern.
Die „harte, empfindliche Lehre“ war schnell abgehakt. Schwägerin Louise meinte nun mitfühlend: „Da Jenny die Bälle wieder besucht, so nehmen wir denn an, daß auch ihr Trübsinn hoffentlich mehr und mehr weicht.“ 24 Bald träumte die Baronesse wieder von der großen Liebe. Interessante Männer gab es in der Garnisonsstadt einige, und sie würde schon einen passenden Mann aus ihren Kreisen finden. „Die Betheiligung an den gesellschaftlichen Verhältnissen Triers hatte sich im Hause meiner Eltern einigermaßen gesteigert, indem die Mutter, in lebhaftem Interesse für den Eintritt ihrer Tochter Jenny in die Welt, den gesellschaftlichen Verpflichtungen ihre ganze Aufmerksamkeit zuzuwenden sich gedrungen fühlte, so weit dies irgend mit den beschränkten Einnahmen des Vaters zu vereinigen stand“ 25, bemängelte Ferdinand in seinen Lebenserinnerungen die kostenintensive Heiratspolitik der nach Höherem strebenden Stiefmutter. Caroline zog alle Antipathie auf sich, war der Sündenbock, nicht der gute Vater.
Die Entwicklung der Kinder Ferdinand, Franziska und Lisette aus der ersten und Jenny und Edgar aus der zweiten Ehe von Ludwig von Westphalen, Carl lässt sich nicht eindeutig zuordnen, verlief unterschiedlich. Die Diskrepanz lässt sich besonders gut an Jenny und Ferdinand, den dominierenden Kindern, ausmachen. In ihrem politischen und gesellschaftlichen Denken gab es erhebliche Unterschiede. Ferdinand empfand beispielsweise die bürgerliche zweite Frau des Vaters bereits als Pubertierender als nicht standesgemäß, trotz ihrer Zugehörigkeit durch die Heirat zum Adelsstand. Auch wenn ihm nachgesagt wurde, er sei in jugendlichem übermut liberal und systemkritisch eingestellt gewesen, war dies bei ihm wie bei so vielen nur eine kurze Phase. Ferdinand internalisierte die Grundsätze seines feudalistisch geprägten Staates, war für Karl Marx ein Aristokrat „comme il faut“. Möglicherweise hätte er anders empfunden, wenn er seine Entwicklungsjahre in Trier verbracht hätte. Seine Schwester Jenny diskutierte zu Hause in aller Offenheit mit dem Vater, Edgar und Karl über die Missstände in Staat und Gesellschaft und dabei war ihr nicht verborgen geblieben, dass der Vater aufgeschlossener für die Anliegen des liberalen Bürgertums war, als er offiziell zugeben durfte. Jenny erlebte, dass auch Nicht-Adlige über Geist und Ausstrahlung verfügten, so Heinrich Marx und sein Sohn Karl. Inwieweit die Mutter ihre bürgerliche Herkunft thematisierte, ist nicht belegt, aber da auch Vater und Schwester Heubel im Haushalt lebten, gab es keine Standesunterschiede in Jennys engstem Umfeld. Es kam der jungen Frau nie in den Sinn, die Mutter geringer zu achten, nur weil sie bürgerlich war. Sie war im Gegensatz zu Ferdinand ohne Vorurteile und überlegenheitsgefühl anderen Menschen gegenüber.
„Jenny sei ein schwer zu lenkendes Mädchen mit einem Gerechtigkeitsgefühl gewesen, das zu leidenschaftlichen Ausbrüchen führen konnte und einem Wissensdrang, der sie schon als Kind zu den Büchern greifen ließ. Sie habe sich als Vertreterin des ,Jungen Deutschland‘ auf die Seite der Radikalen gestellt. Es sei so weit gekommen, dass vermieden werden musste, den Bruder Ferdinand und das stolze Mädchen sich begegnen zu lassen. Mit der leidenschaftlichen überzeugungstreue der Frau, der Jugend und der revolutionären Politikerin habe sie das Hinterwäldlertum der bürgerlichen Welt gegeißelt. Die Stiefschwester Lisette habe zwar anschauungsmäßig auf seiten des Bruders gestanden, menschlich sich jedoch durch die märtyrerhafte überzeugung, die Reinheit der Leidenschaft und das glühende Herz der Schwester angezogen gefühlt, der um der Gerechtigkeit und Liebe willen das Los der vom Schicksal Betrogenen, der Proletarier, naheging“ 26, beschrieb ein Enkel Lisette von Krosigks die Entwicklung Jennys Jahrzehnte später.
1831/32 war Jenny von Westphalen noch nicht revolutionär. Auch wenn sie sich gerne als Unangepasste, Aufgeklärte gab, die Relevanz einer gesellschaftlich korrekten ehelichen Bindung stellte sie nicht in Frage – noch war ein Bruch mit der Konvention für sie undenkbar.
1 Gemkow, Aus dem Leben einer rheinischen Familie, S.511
2 Gemkow, Aus dem Leben einer rheinischen Familie, S.511
3 Gemkow, Edgar von Westphalen, S. 405
4 Gemkow, Aus dem Leben einer rheinischen Familie, S.510
5 Gemkow, Aus dem Leben einer rheinischen Familie, S.511
6 Monz, Politische Anschauung und gesellschaftliche Stellung von Ludwig von Westphalen, S.25
7 Gemkow, Edgar von Westphalen, S.407
8 Schütrumpf, Jenny Marx, S.12
9 Gemkow, Edgar von Westphalen, S.409
10 Monz, Politische Anschauung und gesellschaftliche Stellung von Johann Ludwig von Westphalen, S.26/27
11 Monz, Politische Anschauung und gesellschaftliche Stellung von Johann Ludwig von Westphalen, S.27
12 Monz, Politische Anschauung und gesellschaftliche Stellung von Johann Ludwig von Westphalen, S.27
13 Monz, Politische Anschauung und gesellschaftliche Stellung von Johann Ludwig von Westphalen, S.28
14 Monz, Politische Anschauung und gesellschaftliche Stellung von Johann Ludwig von Westphalen, S.28
15 Monz, Politische Anschauung und gesellschaftliche Stellung von Johann Ludwig von Westphalen, S.30
16 Krosigk, Jenny Marx, S.28
17 Monz, Politische Anschauung und gesellschaftliche Stellung von Johann Ludwig von Westphalen, S.30
18 Monz, Politische Anschauung und gesellschaftliche Stellung von Johann Ludwig von Westphalen, S.31
19 Monz, Politische Anschauung und gesellschaftliche Stellung von Johann Ludwig von Westphalen, S.32
20 Monz, Politische Anschauung und gesellschaftliche Stellung von Johann Ludwig von Westphalen, S.32
21 Monz, Politische Anschauung und gesellschaftliche Stellung von Johann Ludwig von Westphalen, S.33
22 Monz, Politische Anschauung und gesellschaftliche Stellung von Johann Ludwig von Westphalen, S.33
23 Monz, Politische Anschauung und gesellschaftliche Stellung von Johann Ludwig von Westphalen, S.34
24 Monz, Politische Anschauung und gesellschaftliche Stellung von Johann Ludwig von Westphalen, S.34
25 Gemkow, Aus dem Leben einer rheinischen Familie, S.512
26 Monz, Politische Anschauung und gesellschaftliche Stellung von Johann Ludwig von Westphalen, S.35