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Unbefugten kein Zutritt

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Ich schlage die Augen auf und bin zu Hause. Mist, aus dem kurz abtauchen wird also nichts. Ich bin unsicher, ob mich das traurig stimmt oder glücklich macht. Es war alles ein Traum. Der Traum aus der vergangenen Nacht – ich konnte ihn ohne Anstrengung weiter träumen – krass.

05:55 Uhr – noch fünfundzwanzig Minuten, bis der Wecker sich meldet. Ich drehe mich um und versuche, an die nächtlichen Geschehnisse anzuknüpfen. Der Kinosaal, Morenos Präsentation. Nichts. Sehr schade!

Ich betrachte die abgeschliffenen Glasscherben meines Traumfängers und die unruhigen Ornamente, die sie an die Zimmerdecke zaubern. Rhea hatte recht, dieses mystische Geschenk beschert mir gute Träume – oder nennen wir sie spannend. ›Die alten Indianervölker knüpften Netze, welche die schönen Träume einfingen. Für die Bösen ließen sie in der Mitte ein Loch, um sie hindurchzulassen.‹ Die Worte meiner Schwester sind mir noch genau im Gedächtnis. Auch wenn ich kein abergläubischer Mensch bin, so üben die alten Mysterien und Riten früherer Generationen doch eine gewisse Faszination auf mich aus. Ich sage ja nicht, dass alle Träume in Erfüllung gehen, aber ein Körnchen Wahrheit wird wohl in jeder noch so abstrusen Weissagung zu finden sein.

Als Rhea ganz am Anfang ihrer Facharztausbildung stand und deutlich öfter zu Hause war, nahm sie sich hin und wieder Zeit für meine nervtötenden Fragen. Nun weiß ich zum Beispiel, dass sich Albträume unter Stress oder allgemeiner psychischer Belastung häufen. Somit sind labile Menschen stärker betroffen als andere. Irgendwie gemein. Gerade die Ängstlichen bekommen häufig Albträume. Wenn der Glaube an die schützende Kraft des Traumfängers diesen Menschen helfen kann, so will ich ihm seinen Nutzen auf gar keinen Fall absprechen. Die Indianer glaubten daran und sie standen sehr oft unter hohem Druck. Essen besorgen, Feinde bekämpfen, aufpassen, dass keiner krank wird, dass das Wetter die Ernte nicht ruiniert oder die Götter wütend werden. Sicher spendete der Glaube an die schützenden Traumnetze ihnen und ihren Kindern Trost. Ein schöner Brauch. Rhea opferte ihre wertvolle Zeit, um für mich dieses Geschenk zu basteln. Egal, ob der Traumfänger einen nun vor dunklen Nachtschatten beschützt oder nicht, er ist ein wahrer Schatz, auch ohne Superkräfte.

06:20 Uhr – ich quäle mich aus dem Bett. Nur noch zwei Tage bis zu den Sommerferien. In achtundvierzig Stunden ist alles vorbei und die Schule rückt für sechs Wochen in unendliche Ferne. Ich werde faulenzen, eine Woche mit meinen Eltern nach Süd fliegen und den Rest der Ferien mit Fenja und Tarik als Betreuer für Kinderfreizeiten in unserem Städtchen tätig sein. Es sollen Kinder aus allen Himmelsrichtungen anreisen, um Land und Leute besser kennen zu lernen. Wir bekommen ordentlich Feriengeld und den Spaß zu dritt gratis oben drauf. Tarik wird einen Zirkusworkshop leiten und mit den Teilnehmern jonglieren, Einrad fahren, slacken und Menschenpyramiden bauen. Fenja und ich sind für den Bus eingeteilt. Das heißt, wir unternehmen in kleineren Gruppen Ausflüge. Die letzten Jahre verlief diese Arbeit sehr chillig. Die Kinder wechseln täglich und werden somit nicht übermäßig anhänglich. Wir zeigen ihnen die Naturschutzgebiete, Forschungseinrichtungen, das Gefängnis oder unsere allseits beliebte Süßwarenfabrik. Auch wenn ich diese Orte schon unzählige Male besucht habe – der Blick aufs Honorar lässt mich darüber hinwegsehen.

Nach dem Schulabschluss möchte ich eine Reise durch ganz Polar unternehmen. Jeden Winkel kennenlernen, alle möglichen Dialekte ertragen müssen und fremdes Essen kosten, bis ich platze. Da es voraussichtlich eine Weile dauert, bis eine junge Frau mit ein Meter siebzig und sechsundfünfzig Kilo platzt, heißt es – sparen! Ein Jahr bleibt mir und dieses werde ich nutzen, um so viel wie möglich dazu zu verdienen.

Fenja wartet ganz aufgewühlt am vereinbarten Treffpunkt. Ich laufe einen Schritt schneller, um zu sehen, was los ist. Sie zappelt mit den Fingern und schafft es nicht, ruhig stehen zu bleiben. Irgendetwas läuft schief, das kann ich förmlich riechen.

Als sie mich entdeckt, rennt sie in meine Arme und beginnt fürchterlich zu schluchzen.

»Er ist…«, sagt sie mit weinerlicher Stimme.

»Wer denn, was ist denn los mit dir? Wer ist was?« Sie krallt die Hände in meinen Rücken und drückt sich fest an mich. Die Tränenflut macht ihr das Sprechen unmöglich, also schiebe ich sie behutsam zur Rathausmauer. Wir setzen uns und ich versuche, sie mit Streicheleinheiten zu beruhigen.

»Ganz langsam, Fenja. Ich höre dir zu.« Ihren Kopf auf meine Schulter gelegt, warte ich geduldig auf Antwort.

»Tarik…«, ich fahre erschrocken herum.

»Tarik? Ist ihm etwas passiert?« Fenja schnieft in ihr Taschentuch und zerknüllt es anschließend in ihren tränennassen Händen.

»Er ist gestern auf dem Heimweg vom Park von einem Auto angefahren worden.« Ich bin wie von Sinnen. Wasser tritt mir in die Augen und ich will auf der Stelle etwas unternehmen. Wie können wir hier auf der Mauer sitzen, während er schwer verletzt… Oh verdammt…

»Wo ist er? Liegt er im Krankenhaus? Was machen die Ärzte mit ihm? Wie lange kann das denn dauern? Können wir zu ihm?« Die unzähligen Fragen im Kopf legen meinen Verstand lahm. Ich fühle mich derartig hilflos, dass ich aufspringe und in ähnlicher Weise wie Fenja von einem Bein auf das andere trete. Ein mögliches Szenario habe ich mir noch nicht ausgemalt. Mein bester Freund könnte in diesem Augenblick bereits tot sein. Ich muss es wissen! »Fenja, sag was!«

»Er liegt auf der Intensivstation, aber…«, den Rest höre ich nicht mehr. Die wichtigste Antwort habe ich bekommen, Tarik lebt. »Er hatte wohl seinen Hacky Sack nicht unter Kontrolle, als ihn das Auto erfasste. Die gebrochenen Rippen werden schnell verheilen, doch die Schäden, die sein Gehirn davongetragen hat, können die Ärzte noch nicht abschätzen. Er liegt im Koma. Mehr weiß ich nicht. Seine Mum hat heute Morgen aus dem Krankenhaus angerufen und Bescheid gegeben. Sie meinte, er bräuchte Ruhe und wir sollten besser nicht vorbeikommen.«

Ich starre ins Leere und lasse die Tränen mein T-Shirt durchnässen. Wir waren gestern noch zusammen im Park. Tarik war quicklebendig und ein paar Stunden später liegt er in einem Krankenhausbett und vollführt ein Duell mit dem Tod.

»Los, wir gehen!« Ich nehme sie an der Hand und marschiere an die Bushaltestelle. »Ich kann mich jetzt nicht in die Schule setzen und dämliche Projektarbeit machen.«

»Was hast du vor?«, entgegnet Fenja und versucht mit mir Schritt zu halten.

»Na wir nehmen den Bus zum Krankenhaus. Ist mir egal, was der Jakob meint!« Fenja sagt nichts. Ich deute die fehlende Reaktion als Zustimmung und verdopple mein Lauftempo.

Da kommt der Schulbus und eine Horde Kinder stürmt auf das Schulgebäude zu. Wir drängeln uns durch die Meute, um zum Busfahrer zu gelangen, lösen zwei Fahrscheine und nehmen Platz. Normalerweise sitzen wir wie alle coolen Kids in der letzten Reihe, aber heute habe ich keinen Bock, den Weg durch den ganzen Bus zu latschen und wähle die beiden Plätze hinter dem Fahrer aus.

Der Bus setzt sich in Bewegung und wir werden von der hinein scheinenden Morgensonne geblendet. Es sollte regnen. An solch einem schrecklichen Tag sollte es wie aus Eimern gießen.

Die erdrückende Stille im Bus und die Sonne regen mich entsetzlich auf. Wenn wir nicht bald am Ziel sind, werden meine Fingernägel sämtliche Gummidichtungen der Fensterscheibe abgekratzt haben.

Noch drei Haltestellen.

Noch zwei Haltestellen.

Noch eine Haltestelle.

Da ist das Krankenhaus.

Ich bin oft hier. Wenn Rhea Frühdienst hat, hole ich sie manchmal nach der Schule ab. Dann genehmigen wir uns in den Sommermonaten ein Eis und wenn es kühler wird, den süßen Punsch vom ›Café 74‹. Bisher hatte ich also nur schöne Erinnerungen an diesen Ort.

Der Bus hält direkt vor dem Eingang und als wir aussteigen, öffnet sich die automatische Schiebetür. Ich bleibe kurz stehen und nehme Fenjas Hand. Wir schaffen das gemeinsam.

Die Tante an der Information schickt uns mit der Bitte auf die Intensivstation, dort zu klingeln und dann abzuwarten. Toll, das geht ja gut los. Die hat Nerven. Wir schwänzen doch nicht die Schule, um dann zu warten. Wir fahren also in den dritten Stock und folgen einem langen Gang, bis die erwähnte Tür erscheint. ›Unbefugten kein Zutritt. Bitte Klingeln‹. Steht an der Tür. Ja, das wissen wir und ich drücke gleich dreimal auf den Klingelknopf, um sicher zu sein, auch gehört zu werden. Es fühlt sich an, als seien Stunden vergangen, bis das Personal erscheint.

»Ja, bitte?«, fragt die ältere Dame in Schwesternkleidung sehr freundlich.

»Wir wollen zu Tarik Wöller. Er liegt hier seit gestern auf Station.« Fenja findet tapfer die richtigen Worte. Ich für meinen Teil würde lieber auf die Nettigkeiten verzichten und hineinstürmen. Doch als Angehörige einer Mitarbeiterin werde ich mich nicht über Gebühr daneben benehmen.

»Das tut mir sehr leid«, antwortet die Schwester »wir dürfen keinen Besuch zu ihm lassen. Wenn ihr wollt, kann ich eben die Mutter zu euch schicken, ja?« Sie spricht mit uns in einem Ton, der lediglich für Dreijährige angemessen wäre, deren Gummibärchenvorrat zuneige gegangen ist. Ich schäume gleich über.

»Ist gut, vielen Dank.« Hat sich Fenja gerade bei ihr bedankt?

»Was soll das?«, frage ich sie. »Warum protestieren wir nicht einfach dagegen?« Sie tätschelt meine Hand und schaut mich an.

»Du weißt doch am besten, wie der Hase läuft. Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als bei Tarik zu sein, doch wenn unser Besuch ihn zu stark aufregt und seiner Genesung im Weg steht, dann könnte ich mir das niemals verzeihen.« Sie hat recht; in allem, was sie da sagt, hat sie recht und ich muss meine Gefühle unter Kontrolle kriegen, damit ich die Wut nicht an Tariks Mum auslasse.

Es sind Schritte zu hören und die automatische Tür öffnet sich mit einem summenden Geräusch. Frau Wöller sieht verheult und müde aus. Kein Wunder, nach einer schlaflosen Nacht.

»Schön, euch zu sehen«, begrüßt sie uns auf ihre herzliche Art.

»Wollen wir uns kurz setzen?« Sie deutet auf eine kleine Sitzgruppe im Gang und wir nehmen Platz. »Habt ihr etwa die Schule geschwänzt?«, fragt sie mit einem Schmunzeln auf den Lippen. »Na ja, Tarik hätte wahrscheinlich das Gleiche getan. Schön, dass ihr hier seid. Das bedeutet uns viel.« Sie macht eine kleine Pause und Fenja ergreift das Wort.

»Was sagen die Ärzte? Können wir zu ihm?« Frau Wöller senkt traurig den Kopf.

»Er hängt an einigen Maschinen und wird künstlich ernährt. Der Chefarzt meinte aber, es wäre nur eine Frage der Zeit, bis er wieder aufwacht. Tarik hat wohl sehr viel Glück gehabt.« Sie schluckt und versucht die Tränen zurückzuhalten. »Eine Schwellung im Gehirn verursacht die Bewusstlosigkeit. Da er jedoch bisher keinerlei Blutungen aufweist, könnte er sich vollständig erholen, ohne Folgeschäden davon zu tragen.« Fenja reicht ihr geistesgegenwärtig ein Taschentuch. »Es kann Stunden, Tage, aber auch Monate dauern, bis die Schwellung zurückgeht und bis dahin braucht sein Körper Ruhe.«

»Bekommt er mit, was um ihn herum geschieht?«, frage ich.

»Wir wissen es nicht, aber ich rede sehr viel mit ihm oder lese etwas vor. Vorlesen hat er immer so gemocht und vielleicht bringt ihn das schneller wieder zurück.« Sie sieht hoffnungsvoll auf das Bild an der Wand. Ein dunkelblauer Hintergrund, in dessen Mitte ein großer, runder, weiß-gelber Kreis zu sehen ist. Licht in der Dunkelheit, ein schöner Ausblick.

»Können wir irgendetwas für Tarik tun oder Ihnen etwas helfen?«, erkundigt sich Fenja. »Wir könnten Essen vorbei bringen oder die Blumen im Haus gießen.«

»Vielleicht zündet ihr zu Hause eine Kerze für ihn an und besucht uns hin und wieder. Es tut gut, seine Freunde zu sehen. Und sicher dauert es nicht mehr lange, bis wir euch zu ihm lassen können.« Sie steckt das Taschentuch weg und nimmt unsere Hände in die ihren. »Danke, Mädels. Ich geh jetzt wieder rein und grüße ihn von euch.« Frau Wöller steht auf und lächelt uns zum Abschied noch einmal zu. Dann öffnet sich die Stationstür und sie ist verschwunden. Wir sitzen eine Weile so da und betrachten das Gemälde an der Wand.

»Meinst du, man blickt dem Licht entgegen oder wird es von der Dunkelheit verschluckt?« Fenja sieht mich desinteressiert an.

»Dem Licht? Ich weiß nicht. Für mich sieht es aus wie eine abstrakte Darstellung unserer Flagge. Auch egal, komm jetzt!« Sie schiebt ihren Stuhl zurück, erhebt sich langsam und schlürft über den Boden in Richtung Fahrstuhl. Mit ihren Fingerspitzen fährt sie an der Wand entlang und verströmt eine so tiefe Traurigkeit, dass es mir fast das Herz bricht. Die beiden gehören zusammen wie Pech und Schwefel, wie Pfeffer und Salz, Feuer und Wasser – ich könnte es ewig weiterführen. Es hat eine Weile gedauert, bis sie sich ihre Liebe eingestanden haben, ehrlich gesagt eine Ewigkeit. Doch seit diesem Tag sind sie miteinander verschmolzen und unzertrennlich. Es ist schön, wahre Liebe Tag für Tag erleben zu dürfen. Umso schrecklicher, sie nun so leiden zu sehen.

Der Fahrstuhl öffnet sich und bringt uns heil in die Eingangshalle zurück. Mittlerweile hat es tatsächlich angefangen zu regnen. Wir halten uns die Rucksäcke über den Kopf, um halbwegs trocken den Bus zu erreichen und rennen los.

Fünf Minuten.

Vier Minuten.

Drei Minuten.

Ich weiß absolut nicht, was sich sagen soll. Meine Freundin starrt mit irren Augen in Richtung Krankenhaus und lässt mich außen vor.

»Fenja, ist alles klar?« Ohne ein Wort tritt sie vor das Wartehäuschen in den Regen. Ich geselle mich zu ihr und lasse meine Traurigkeit vorübergehend abwaschen.

Als der Bus vorfährt, sind wir bis auf die Unterwäsche nass. Meine Zähne klappern trotz der siebenundzwanzig Grad, doch der Regen hat uns die Herzen erleichtert und das ist alles, was zählt.

Vor der Schule steigen wir aus und rennen so schnell wir können nach Hause, um nicht entdeckt zu werden. Ich hoffe, meine Ma schreibt mir eine Entschuldigung, denn die Lust auf Schule ist uns nach diesem Ausflug gründlich vergangen.

Da Fenja die Einladung zu einem Aufwärmkakao bei mir dankend abgelehnt hat, trete ich allein den Heimweg an. Nass, traurig und völlig am Ende.

Im Haus angekommen, sehe ich Rheas Ökolatschen auf dem Abstreicher stehen und mich überkommt ein freudiges Gefühl. Vielleicht habe ich Glück und sie nimmt sich ein paar Minuten Zeit für mich.

»Rhea?«, rufe ich nach oben. Wenige Sekunden später öffnet sich im Obergeschoss eine Tür und Schritte im vertrauten Laufrhythmus kündigen ihre Ankunft an.

»Sag mal, hast du keinen Schirm? Zieh mal schnell dein Zeug aus. Mama wird wahnsinnig, wenn du die Bastmatte durchnässt.« Sie steht mit verschränkten Armen vor mir und weiß, dass sie recht hat. »Geht es dir gut, Süße? Irgendwie siehst du kränklich aus.« Vorsichtig befühlt sie meine Stirn, ohne sich nass zu machen.

»Ich bin gesund und ja, den Schirm hab ich vergessen. Ich komme gerade aus dem Krankenhaus. Tarik hatte einen schweren Autounfall und liegt auf der ITS im Koma.« Die Worte schießen wie auf Kommando aus meinem Mund, als hätte ich sie schon tausend Mal wiederholt.

Rhea kommt einen Schritt näher und legt die Arme um mich. So bleibe ich zwar nass, aber es tut gut, gehalten zu werden.

»Sie ließen uns nicht zu ihm, es ist echt unfair.« Sie zieht mich fester an sich heran und drückt ihre Wange an meine triefenden Haare. Nun sind wir beide pitschnass und Mamas Bastmatte muss dafür büßen.

»Komm, ich mach Kakao und dann erzählst du mir alles. Willst du Vanilleeis rein?« Oh ja, das ist ein sehr gutes Trostpflaster. Ich nicke ihr zu und flitze in mein Zimmer, um mir trockene Sachen anzuziehen.

Rhea hat eine Duftkerze angezündet, sitzt im Schneidersitz auf dem Sofa und popelt Dreck aus ihren Fingernägeln. Das Gewitter hat den Himmel verdunkelt und so ist es im Wohnzimmer richtig gemütlich. Mir ist eher nach Tee zu Mute und ich würde mich liebend gern in eine Decke kuscheln, aber das Thermometer zeigt schwülwarme dreiundzwanzig Grad, was wiederum für die Eisschokolade spricht.

»Auf Anfang, erzähl!« Rhea schnappt sich ihr Glas und rutscht ganz nach vorn an die Sofakante, um mich schnell trösten zu können. Ich berichte ihr vom Park, von dem Auto und Tariks Hacky Sack, dass er nun im Koma liegt, weil er eine Gehirnschwellung hat und dass wir im Moment nur abwarten können.

Meine Schwester senkt den Kopf und überlegt. Es vergehen einige Schweigeminuten, bevor ich sie anspreche.

»Rhea«, ich versuche, nicht all zu verzweifelt zu klingen, »könntest du dich im Krankenhaus ein wenig umhören und mir dann in der Dummievariante erklären, was es mit dieser Gehirnschwellung auf sich hat? Wenn ich es verstehe, kann ich seiner Familie am besten helfen. Irgendwas muss es für mich zu tun geben. Ich werde auf keinen Fall hier herumgammeln, in Selbstmitleid ertrinken und warten, bis Fenja völlig den Verstand verliert.« Meine Augen werden feucht und es kann nicht mehr lange dauern, bis – scheiße, es ist einfach zu scheußlich. Dann heule ich eben. Ganz egal, ich werde heulen, bis ich keine Tränen mehr habe. Warum Tarik? Meine Wangen sind heiß, doch daran sind nicht die Tränen schuld. Wut steigt in mir auf und bringt mich im wahrsten Sinne des Wortes zum Kochen. Ich muss diesen Autofahrer aufspüren und zur Rede stellen. Wie kann man nur so fahrlässig sein und einen Jungen über den Haufen fahren, der sein ganzes Leben noch vor sich hat. Ich hoffe, die Gewissensbisse bringen ihn um den Schlaf. Nein, in Wahrheit wünsche ich ihm schreckliche Krankheiten und – doch ich komme gar nicht mehr zum Nachdenken. Rhea stellt ihr Glas auf den Couchtisch und geht vor mir auf die Knie.

»So, jetzt beruhige dich erst einmal, Süße.« Sie tätschelt mein Knie und nimmt mein Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger. »Niemand kann dir die Frage nach dem Warum beantworten, am wenigstens ich. Hier sind höhere Mächte am Werk.« Ich sehe in ihre grünen Augen und lasse mich überzeugen. »Tarik wird nicht gesund, in dem du Vergeltungsschläge planst.« Manchmal ist Rhea wirklich gruselig oder sie kennt mich einfach zu gut. »Es ist unklar, ob Komapatienten ihre Umgebung wahrnehmen können, aber das Gegenteil hat auch noch kein Wissenschaftler bewiesen. Also halte seine Hand, spiel ihm gute Musik vor oder sei in Gedanken bei ihm. Egal, es spielt keine Rolle. Sei eine Freundin. Für alles andere hat er Ärzte und die Familie. Vertrau mir einfach, sie tun ihr Bestes. Jeden verdammten Tag.« Mit gequältem Blick schiebt sie sich zurück aufs Sofa. »Aua, die Knie sind eingerostet.« Ich muss schmunzeln. Meine Schwester schafft es, auch in ausweglosen Situationen die Laune zu heben. »Ich kümmere mich, versprochen. Morgen weiß ich mehr und ich werde auch Entin mit ins Boot holen, wenn das für dich in Ordnung ist.« Ohne darüber nachzudenken, willige ich ein.

»Es ist mehr als in Ordnung. Danke!« Ich schmiege mich an sie und wir schalten den Fernseher ein. Um diese Uhrzeit ist dies keine gute Option, aber es sorgt für Ablenkung.

»Abendbrot!«, die Stimme meiner Mutter erklingt in unmittelbarer Nähe. Ich öffne die Augen und sehe die Essensglocke direkt vor dem Gesicht hin und her baumeln. Ich liege auf dem Schoß meiner großen Schwester und unsere zerknautschten Gesichter gleichen einander wie ein Ei dem zweiten. Wir sind wohl eingeschlafen. Mama schaltet die Glotze ab und malt mit ihrem Zeigefinger eine imaginäre Uhr auf ihr Handgelenk. Sechs Uhr – Abendbrotzeit. Pünktlichkeit wird in unserer Familie großgeschrieben, vor allem, wenn es um die Mahlzeiten geht.

Beim Essen herrscht betretenes Schweigen. Mama stiert ununterbrochen auf ihren Teller, Papa hält sich die Tageszeitung vors Gesicht und Rhea gibt vor, aus dem Fenster zu schauen, während sie mich beobachtet. Egal, wie seltsam die Situation für einen Außenstehenden wirken mag, ich bin dankbar, die Geschehnisse des Tages nicht schon wieder aufwärmen zu müssen.

Nachdem der Tisch abgeräumt und die Spülmaschine bestückt ist, verabschiede ich mich. Noch bevor der gemütliche Teil des Abends beginnt, flüchte ich in mein Zimmer, um den anderen den mitleiderregenden Anblick zu ersparen. Keine zehn Minuten später liege ich mit verquollenen Augen im Bett und lösche das Licht. Meine Gedanken sind bei Tarik, seiner Familie und Fenja. Wenn ich ihnen allen diese Nacht nur ein wenig erträglicher machen könnte. Leider verfüge ich weder über eine Zeitmaschine, um den Unfall in der Vergangenheit zu verhindern, noch habe ich ein Allheilmittel gegen schwere Kopfverletzungen oder große Traurigkeit. Mir bleibt also nichts anderes übrig, als in den Schlaf zu finden und all meine Daumen ganz fest zu drücken.

BePolar

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