Читать книгу BePolar - Martha Kindermann - Страница 11
Tag 3
ОглавлениеDas grelle Weiß der Neonlampen brennt in meinen Augen und ich brauche einen sehr langen Moment, um sie zu öffnen. Rumms – klar, ich weiß, wo ich mich befinde.
»Caris, ist alles okay bei dir?«, rufe ich in die andere Ecke des Raumes. Sie liegt, wieder einmal, vor ihrem Bett mit dem Gesicht auf dem Boden.
»Bestens, ich habe nur den Dreh noch nicht so ganz raus.« Von welchem ›Dreh‹ sie da faselt, ist mir zwar schleierhaft, aber heute gibt es Wichtigeres zu erledigen: die Terminals. Es ist eine einzigartige Gelegenheit, die wir unter keinen Umständen aufschieben können. Den groben Plan für die Gestaltung der großen Halle habe ich bereits in meinem Kopf und hoffe nun, dass die Grenzen der Technik mir nicht im Wege stehen. Da fünfzehn verschiedene Versionen unseres Aufenthaltsraumes entstehen sollen, wird die Akademie über einen gigantischen virtuellen Speicher verfügen, den wir nun füttern werden.
Wir verlassen das Zimmer, schnappen uns die Rucksäcke und sind im Handumdrehen am Objekt der Begierde angelangt. Das Terminal sieht nicht sonderlich eindrucksvoll aus, doch aus Respekt vor den Möglichkeiten nähern wir uns langsam und bedächtig. Die zwei Meter hohe, weiße Säule ist mit einem überdimensionalen Touchscreen ausgestattet, welcher kontinuierlich die Farbe wechselt. Von Dunkellila bis Zitronengelb ist alles dabei und es fällt schwer, die Augen abzuwenden. Caris tritt einen Schritt näher und fügt sich perfekt in das bunte Farbenspiel ein.
»WILLKOMMEN. CARIS ENGEL.« Das Terminal spricht zu ihr. Wow, das kam unerwartet. Eine warme Männerstimme lullt uns geradezu ein. Meine Freundin schluckt die Nervosität hinunter und antwortet mit piepslicher Stimme:
»Ja?«
»LEGE DEN RECHTEN DAUMEN AUF, UM DEINE IDENTITÄT ZU BESTÄTIGEN.« Sie tut, wie ihr befohlen und sofort wandelt sich die Hintergrundfarbe in ein Limettengrün. »PERSONIFIZIERUNG ABGESCHLOSSEN. DU BIST NUN EINGELOGGT.«
Eine sehr überschaubare Maske öffnet sich und teilt den Bildschirm in mehrere Unterpunkte ein. ›Stundenplan, Dozentenverzeichnis, Lageplan, Entwurf große Halle, Hilfe und Kontakt.‹ Das System wählt eigenständig und öffnet das passende Programm. Eine dreidimensionale und um dreihundertsechzig Grad drehbare Ansicht des Raumes wird sichtbar. Am unteren Ausschnitt sind diverse Extras vorgefertigt, die per Touch in den kahlen Raum gezogen werden können. Stühle, Tische, Sofas, Pflanzen, Tapeten, und unendlich viele Möglichkeiten, eigene Skizzen oder Anregungen in leere Felder einzufügen. Eine nette Spielerei. Als Caris ihren Entwurf wenig später bestätigt, spuckt der Computer eine weiße Plastikkarte aus. »KARTE BEIM BETRETEN DES RAUMES DURCH DEN SCANNER ZIEHEN.« Verstanden.
»Du bist dran, Roya.« Das muss mir niemand zweimal sagen, denn ich spüre schon eine Ewigkeit das Kribbeln in den Fingern.
»HALLO, ROYA ROTH.« Cool, der Typ hat einen größeren Wortschatz, als ich annahm. »SCANNE NUN DEINEN FINGERABDRUCK EIN.« Gesagt, getan. Bam! Der Hintergrund färbt sich Sonnenblumengelb und zeigt mir ebenfalls die Möglichkeiten des Hauptmenüs auf. Mit einem Wisch schicke ich mir selbst den Lageplan auf mein Tablet, stelle ernüchternd fest, dass der Stundenplan völlig leer ist und öffne das Designtool.
Ich könnte stundenlang Möbel rücken, die Wände übertünchen oder Pflanzen wachsen lassen, aber dazu fehlt mir im Augenblick die Zeit. Also gestalte ich alles im klassischen Schick mit sinnvoll eingeplanten Accessoires. Vor einer goldenen Wand entsteht eine Sofalandschaft in edler Lederoptik. Kleine Tische und Hocker laden zum Verweilen und Quatschen ein. Zwei Milchglasfronten trennen die Wohlfühlzone vom Rest der Halle und sorgen so für die nötige Ruhe. In Wellenform schlängelt sich ein Bartisch vom Ascenseur an der Wand entlang und bietet Platz zum Arbeiten. Schlichte weiße Hocker und die indirekte Beleuchtung der Tischplatte machen die Workingarea perfekt. Fehlen nur noch die Mandelbäume und…
»Alle Schüler finden sich bitte im Atelier ein. Dr. Gregorio freut sich auf die erste gemeinsame Politikstunde. Viel Spa-aß.« Ceyda ist der sympathischste Drillsergant, den man sich vorstellen kann und bringt mich dazu, mit einem Schmunzeln dem Terminator auf Wiedersehen zu sagen.
»ROYA, DU BIST NUN AUSGELOGGT, AUF WIEDERSEHEN.«
Der Gong ertönt und wir sind die Ersten auf dem Ascenseur. Ich habe gute Laune und bin gespannt, was die nächste Unterrichtseinheit bringen wird.
Der fahrbare Untersatz setzt sich in Bewegung und bringt uns ins Atelier – ein passender Name für das Klassenzimmer unter dem Glasdach. Oben angekommen, begrüßt uns ein Mann um die fünfzig mit einem markanten Gesicht, einer großen Nase und graumelierten Haaren. Er wirkt griesgrämig und kühl. Seine Art, diesen Raum mit einem Blick zu beherrschen, lässt mich erschauern. Niemand sagt etwas. Alle bleiben wie angewurzelt stehen. Keiner traut sich, seinen Platz anzusteuern. Ceydas Lektion steckt wohl noch in sämtlichen Knochen.
»Mein Name ist Dr. Gregorio und ich werde Sie in Politikwissenschaft unterrichten. Ich möchte, dass Sie morgens in Midden aufwachen und abends in Midden wieder einschlafen. Sie werden nichts anderes im Kopf haben außer unseren Ministerien, ihren Mitarbeitern, den Namen der letzten Oberhäupter, der Schuhgröße unserer Präsidentin oder den Namen der Befreier. Haben Sie das verstanden?« Ich hoffe nicht, dass er eine Antwort auf diese Frage erwartet; zudem würde ich es bevorzugen, im Schutze meiner sicheren Bank den Rest der Stunde zu erleben.
»Ihr Hauptaugenmerk liegt auf folgenden Fragen: Was läuft schief, was läuft richtig? Wer sind die Macher und an welchen Strängen muss gezogen werden, um ein Ziel X zu erreichen?« Dieser Typ ist wirklich angsteinflößend. Seine Stimme kriecht durch die Reihen, um uns alle zu infiltrieren und gehörig zu machen. Er hält die Hände gefaltet vor sein Gesicht und schließt kurz die Augen. Als er sie öffnet, atmet die Klasse synchron wieder ein.
»Noch eine organisatorische Sache. Tam Baliette?« Ein Neuer? Ich durchsuche die Reihen nach unbekannten Gesichtern, denn dieser Name ist mir bisher noch nicht untergekommen.
»Hier«, höre ich eine warme Stimme hinter mir und werde sanft bei Seite geschoben. Als Tam Gregorio gegenüber steht, schlägt mein Herz ein wenig schneller. Ich kenne diese braunen Locken, unter denen das junge Gesicht nur zu erahnen ist. Aber woher? Ich erinnere mich nicht. Ich weiß nur, dass mich ein seltenes Gefühl der Vertrautheit erfüllt.
»Dann sind wir nun endlich vollzählig. Bitte setzen.« Herr Gregorio zieht eine kleine Fernbedienung aus seiner Sackotasche und öffnet auf Knopfdruck eine Klappe in der Wand. Ein großer Bildschirm wird heraus gefahren und zeigt in Gänze unser schönes Land Polar. Regionen Nord, Nord-Ost, Ost, Süd-Ost, Süd, Süd-West, West, Nord-West und Midden, das Herzstück des Landes und Sitz der Regierung. Taranee meldet sich aufgeregt. Wie ich sie für ihre penetrante Art verabscheue. Sie streckt ihre Hand, so hoch sie kann und schnipst mit den Fingern. Absolutes Kindergartenniveau.
»Dr. Gregorio, soll ich zur allgemeinen Aufklärung kurz erläutern, warum unser Land den wundervollen Namen Polar trägt?« Diese Person ist eine Zumutung für die gesamte Akademie. Jeder Idiot weiß, dass der Umriss einem großen Stern gleicht. Deswegen sind die Regionen nach Himmelsrichtungen benannt. Ich werfe ihr einen verachtenden Blick zu und hoffe auf Superkräfte, um ihr feuerrotes Haar zu entflammen. Das war natürlich nur ein Scherz, aber manchmal geht meine Fantasie mit mir durch.
»Taranee, Sie können Ihren Arm jetzt wieder senken. Ich gehe davon aus, dass alle die Antwort auf diese Frage bereits kennen. Sollte jemand unter Ihnen an irgendeiner Stelle Wissenslücken erkennen, wende er sich bitte nach dem Unterricht an Miss…«, er sieht sie desinteressiert an.
»Winterkorn, Taranee Winterkorn«, antwortet die Heldin der Nation charmant auf seine angedeutete Frage. Um nicht lauthals loszulachen, schaue ich schnell nach unten. Möglicherweise liegt ja etwas enorm Wichtiges auf dem Fußboden…
Als ich meinen Kopf hebe, sehe ich dem Neuen gegenüber direkt in die Augen. Er macht keine Anstalten, wegzusehen, sondern grinst mich nur schelmisch an. Flirtet er mit mir? Komischer Vogel, er kennt mich doch überhaupt nicht. Um sicher zu gehen, dass der Fußboden auch wirklich nichts Außergewöhnliches aufweist, suche ich ihn erneut ab und entkomme seinen geheimnisvollen Augen.
Mit aller Kraft versuche ich, dem Unterrichtsgeschehen zu folgen, ohne die Konzentration zu verlieren. Mit derartigen Anspielungen kann ich einfach nicht umgehen – zu schüchtern, zu prüde, zu unerfahren. Zugegeben – es war ein wahnsinniges Gefühl, als ich versuchte, Tams Blick standzuhalten. Ein Kribbeln vom Nacken bis in die Fingerspitzen – irre. Doch gleichzeitig könnte ich ihn für so eine Frechheit erwürgen. Diese Sorte Jungs verdreht Mädchen zur eigenen Belustigung den Kopf. Habe ich schon oft genug auf dem Schulhof beobachten dürfen, auch wenn ich nie Opfer einer solchen Attacke geworden bin – bis jetzt. Wie soll ich also reagieren?
Caris stupst mich in die Seite.
»Du starrst ihn an.« Ich wende mich verwirrt zu ihr. »Den Neuen, du starrst ihn an. Der ist süß. Gut, er ist nicht Moreno, aber er sieht schon ganz nett aus.« Wie oberpeinlich. Ich habe sicher nicht ›gestarrt‹. Oder doch? Ich muss meiner Freundin wohl zustimmen. Tam sieht ganz okay aus. Das gibt ihm aber noch lange nicht das Recht, mir so unangenehme Gefühle zu bereiten.
»Nehmen Sie bitte Ihre Tablets zur Hand und wählen Sie unter dem Politikmenü den Punkt Übersicht aus.« Gregorio macht einen gelangweilten Eindruck. Hoffentlich war Taranees dämlicher Zwischenruf nicht ausschlaggebend für den Gesamteindruck der Klasse.
»Sie sehen nun dreißig Fragen vor sich.
1. ›Aus wie vielen Mitgliedern besteht der Große Rat im Regierungspalast?‹. Das dürfte sicher noch kein Problem darstellen.
2. ›Wann findet die nächste Ratswahl statt?‹ da Sie sich, wie ich annehme, Ihrer Aufgabe bereits bewusst sind, erwarte ich korrekte Antworten.« Welcher Aufgabe sollen wir uns denn bewusst sein? »Sie haben nun bis zum Ende der Stunde Zeit, die Lösungen zu notieren. Anschließend betätigen Sie bitte den Senden-Button und verlassen geräuschlos das Atelier. Danke.« Er nimmt teilnahmslos hinter seinem Pult Platz und starrt an die Decke. Mir bleiben noch fünfunddreißig Minuten – rann an den Speck.
1. acht ständige Mitglieder.
2. übernächstes Jahr. Easy, im April beginnt die Elevenauswahl und ein Jahr später wird ein neuer Rat gewählt. Die Fragen werden zunehmend schwieriger.
3. ›Welche Aufgaben werden den Ratsmitgliedern zuteil?‹ uff, es gibt einen für die Bildung und einen Schatzmeister und einen Ratspräsidenten. Das sind leider erst drei. Ich will mich auch nicht durch dumme Antworten blamieren und wähle den Mut zur Lücke.
Nach einer halben Stunde verlasse ich mit gemischten Gefühlen das Atelier, wie circa die Hälfte der Klasse vor mir. Der Ascenseur setzt in der Großen Halle auf und ich begebe mich in die Richtung meines Zimmers. Wer weiß, wie lange es dauert, bis uns Ceyda eine neue Anweisung erteilt? Vor der Flügeltür zum Mädchentrakt lehnt eine Gestalt mit dem Gesicht zur Wand. Als ich näher komme, dreht sie sich um. Tam.
»He.« Seine Stimme ist sanft und ich bekomme schweißnasse Hände. Er redet mit mir, ein Wunder. Aber ich werde in keiner Weise zugeben, dass ich darauf gehofft hatte. Er meint wohl, er ist der coolste Typ unter der Sonne und unwiderstehlich.
»Auch he.« Ich weiche seinem Blick aus und setze eine gelangweilte Miene auf. Als ich an ihm vorbei will, stellt er sich mir in den Weg.
»Musst du zu Prof. Pfefferdings in den Kurs?« Mist! Diesen Dünnpfiff kann ich ihm nicht durchgehen lassen.
»Sie heißt Pfefferhauser und nein, ich weiß nicht, ob ich…«
Ein Piepen ertönt aus meinem Rucksack und ich gehe der Ursache schnell auf den Grund. Aha, eine Nachricht von Ceyda. ›Bitte im Translabor einfinden. Mentalismus, Prof. Pfefferhauser‹. Also doch. Ich lasse den kleinen schwarzen Pieper in meiner Hosentasche verschwinden und wende mich Tam zu.
»Tja, wie es aussieht, muss ich tatsächlich in ihren Kurs. Warum?« Er streicht sich seine Haare aus dem Gesicht und lässt mich einen Blick auf die verborgenen stahlblauen Augen erhaschen. Wow. Roya, du darfst nicht starren!!! Warum war ich nie in einer Theatergruppe? Dann könnte ich mein mädchenhaftes Getue vielleicht besser überspielen.
»Kannst du mich mitnehmen? Mir hat hier leider keiner einen Lageplan gegeben?« Ganz cool bleiben. Er fragt nur nach dem Weg. Nichts Weltbewegendes und erst recht kein Grund, feuchte Hände zu bekommen.
»Klar, folge mir unauffällig.« Ich beschleunige meine Schritte, um peinlichem Smalltalk zu entgehen. Das Wetter hat mich noch nie interessiert und mit nennenswerten Krankheiten kann ich auch nicht dienen.
Zu meiner Überraschung sprechen wir kein einziges Wort. Hab ich ihn eingeschüchtert? Ist auch egal, er hat höchstwahrscheinlich eh nicht das Bedürfnis, sich mit mir zu unterhalten und braucht lediglich einen Lotsen durch die endlosen Flure der Akademie.
Ich öffne per Fingerscan die Tür zum Translabor und kann im schwachen Licht des Raumes unsere Mitschüler in einem Kreis sitzend in der Mitte des Zimmers ausmachen. Alle starren zu Boden. Ein sonderbarer Anblick. Ich sehe Tam fragend an, doch er zuckt nur mit den Schultern.
Als Prof. Pfefferhauser uns bemerkt, nimmt sie den Zeigefinger an die Lippen und bittet uns, lautlos Platz zu nehmen.
Zwei Minuten vergehen, ohne dass etwas passiert. Henner, Marlon, Lin, Sly und Tam tauschen heimlich Blicke und können das Lachen nur schwer unterdrücken. Immer wieder pustet der hagere Sly die Backen auf, um die andächtige Miene unserer Dozentin zu imitieren. Mit seinem dünnen schwarzen Pferdeschwanz und dem langen Gesicht erreicht er jedoch das Gegenteil und bringt die coolen Jungs beinahe zum Erliegen. Prof. Pfefferhauser hält die Augen geschlossen und sucht, wie ich annehme, weiterhin ihre innere Mitte.
»Meine Herren, ich verbitte mir dieses kindische Getue. Sie kennen die Regeln unserer Einrichtung. Zu jeder Tages- und Nachtzeit haben Sie das Recht, die Ausbildung abzubrechen und sich zu verabschieden.« Augenblicklich werden die Gesichter der Jungs ernst und Henner bekommt einen kleinen Hustenanfall. Selbstverständlich aus purer Verlegenheit.
Als er sich beruhigt hat, öffnet Prof. Pfefferhauser die Augen und blickt in die Runde.
»Ich hoffe, ich habe nun Ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Fräulein Hammerschmidt hat Sie bereits mit den Räumlichkeiten vertraut gemacht und Ihnen auch die Prioritätsstufe der Kellerräume verdeutlicht. Disziplin, Konzentration und absolute Verschwiegenheit sind die Kernpunkte der Sitzungen. Schreiben Sie sich die hinter die Ohren!« Alle kleben an ihren Lippen, sodass ich glaube, die Wände atmen zu hören.
»In der heutigen Einheit werde ich Sie mit der einfachsten Form der Hypnose bekannt machen. In Zweierteams versuchen Sie den Partner in einen Zustand absoluter Entspannung zu versetzen. Nur dann wird es in Zukunft möglich sein, weiter in das Unterbewusstsein Ihres Gegenübers einzudringen.«
Sie betätigt einen Schalter zu ihrer Linken, welcher das Licht im Hinterzimmer aktiviert.
»Henner, begeben Sie sich bitte hinter den venezianischen Spiegel und nehmen auf dem Liegestuhl Platz. Sie müssen sicher erst ein wenig herunterfahren, bevor Sie ihr Können an einem Mitschüler ausprobieren.« Henner macht sich ohne Widerworte auf den Weg.
»Bitte schließen Sie die Tür. Danke.« Als er seine Position eingenommen hat, löscht sie das Licht im Labor und wir tappen im Dunkeln. Anschließend setzt sie sich an einen der Tische direkt vor dem Spiegelfenster und benutzt ein integriertes Mikrofon, um Kontakt zu ihrem Versuchskaninchen aufzunehmen.
»Henner, verstehen Sie mich klar und deutlich? Wenn ja, drücken Sie bitte die Klingel, welche zu ihrer Rechten unter der Armlehne angebracht ist.« Wir vernehmen ein leises Surren. Nichts in der Welt würde mich dazu bringen, mit Henner die Plätze zu tauschen. Das arme Schwein.
»Meine Damen und Herren, sehen Sie zu und lernen. Ich werde mit Hilfe der bewährten Fünf-Stufen-Methode Herrn Marquard innerhalb von wenigen Minuten in seine schönsten Träume entführen. Im ersten Schritt muss er sich seines Körpers bewusst werden und jede Faser, jede Bewegung, jeden Atemzug spüren und verinnerlichen. Wenn diese Konzentration zur Routine geworden ist, können die Gedanken auf andere Dinge umgeleitet werden und führen uns letztendlich in sein Inneres.« Das klingt aufregend und vor allem unrealistisch. Ich möchte dieser Frau ja nichts unterstellen, aber einen Bullen wie Henner in Minuten zum Einschlafen zu bringen, halte ich doch für etwas zu hoch gegriffen.
»Schließ die Augen. Atme ein und wieder aus. Ein und wieder aus. Du spürst, wie sich dein Bauch hebt und senkt. Du fühlst die Luft durch deine Nase strömen.« Sie nimmt die Finger vom Mikrofonknopf und spricht zu uns. »Wie Sie bemerken, benutze ich eine intimere Form der Anrede. Dies ist eine Maßnahme, welcher ich mich bediene, um schneller zu ihm durchdringen zu können. Außerhalb dieses Raumes verbitte ich mir das DU!« Wir nicken und der Mikrofonknopf beginnt erneut zu leuchten.
»Nimm die Geräusche um dich herum wahr. Schmecke den Geschmack deiner Zunge und entspanne.« Sie macht eine längere Pause und wir hören, wie sich Henners Atmung verlangsamt und seine Augen ruhiger werden.
»Du spürst den Stuhl am unteren Rücken. Du fühlst die Schuhe an deinen Füßen. Du kannst das Leder der Armlehne warm unter den Fingern spüren. Nimm die Veränderung in deinem Inneren wahr. Du darfst jetzt ganz entspannen.«
Ich riskiere einen Blick in Tams Richtung, sehe Faszination und Überwältigung in seinen Augen und wünschte, er würde mich in diesem Moment so ansehen. Kaum ist der Gedanke zu Ende gedacht, schäme ich mich für ihn. Warum bin ich schwach und willenlos und geifere einem wildfremden Typen nach? Oh, das muss ganz schnell aufhören. Ich bevorzuge es, Herr meiner Sinne zu sein und nicht wie eine Fliege dem Licht hinterherzujagen. Aus diesem Grund begnüge ich mich im Normalfall mit Traummännern aus Büchern oder Filmen, um den inneren Gelüsten Nahrung zu geben.
»Spüre deine Augenlider. Sie bedecken ruhig die Augen und werden schwer. Dein Atem ist ruhig und gleichmäßig. Du lässt dich noch tiefer sinken. Deine Gedanken wandern an andere Orte und du kannst dich mehr und mehr entspannen.« Was könnte sie zu diesem Zeitpunkt schon alles in sein Hirn einpflanzen? Hypnose ist eine Waffe, deren Wirkung ich bisher völlig unterschätzt habe. Ich hoffe, dass diese Methode nur unter Aufsicht bei mir Anwendung finden wird. Die kurze Pause ist vorbei und Prof. Pfefferhauser setzt zu Stufe vier an. Sieben Minuten später öffnet sich die schmale Tür und wir erleben einen ganz neuen Henner.
»Wie war es, Alter?«, fragt Berd. Er ist ein kleiner, etwas gedrungener, Siebzehnjähriger mit kurzgeschorenen braunen Haaren und einer Nickelbrille. Normalerweise gibt er ausschließlich kluge Sätze von sich, über deren Wortgewandtheit ich nur staunen kann. ›Wie war es, Alter‹ zählt nicht gerade dazu. Ich nahm an, er sei einer dieser Jungen, die über den Dingen stehen. Berd ist sicherlich gut in Mathe und wird später einmal der Direktor der Nationalbank. Er hat eine blühende Karriere vor sich und wird irgendwann feststellen, dass es ihm kein Stück weiter hilft, zu den coolen Kids zu gehören. Doch bis dahin sollte er seinen Ghettoslang verbessern. Ich persönlich brauche nicht zu viele Henners oder Kunos in meiner näheren Umgebung. Die wichtigere Frage ist wohl: Wie soll ich meinen Wortschatz erweitern, wenn Berd seinen in der Gosse versauern lässt?
»Henner, nehmen Sie bitte Ihren Platz ein.« Prof. Pfefferhauser lässt keinen Raum zum Austausch. Schade eigentlich, alle brennen geradezu auf Henners Offenbarung.
»Sie werden nun ein ähnliches Prozedere mit Ihrem Partner durchführen.« Großartig! Klingt nach Spaß. Partnerarbeit ist voll mein Ding. Ich habe es schon immer gehasst. Zu zweit ist alles so beschränkt. »Wenn Sie den Stuhlkreis genauer betrachten, werden Sie feststellen, dass ich die Einteilung der Gruppen bereits vorgenommen habe.« Die Stuhlbeine sind farblich markiert, es kann nur noch schlimmer werden. Ich suche alle Beine nach einem gelben Gegenstück ab und lande schlussendlich bei dem übelsten aller Szenarien: Tam. So klar – das Universum hat es auf mich abgesehen.
Schnell sind die Stühle verrückt und alle bereiten sich auf das Experiment vor. Wieso sind meine Mitschüler so scharf auf eine Gehirnwäsche? Mir jagt dieser Umstand Angst und Unbehagen ein. Henner dreht sich um, zwinkert Tam zu und schenkt mir anschließend ein süßsaures Lächeln.
»Herzlichen Glückwunsch, Tam. Jackpot. Viel Spaß, ihr zwei Hübschen!« Ich verstehe nur Bahnhof.
»Du bist doch nur neidisch, du Idiot.« Tam grinst dämlich zurück und lässt ihn dann links liegen. Ah, jetzt hab auch ich es kapiert. In einer Gruppe mit sechs Jungen und zwei Mädchen hat Henner mit Berd als Partner wohl eine Niete gezogen. Sus ging an Marlon und Tam muss mit mir vorliebnehmen. Ich hätte es schlechter treffen können, das gebe ich zu.
»Konzentrieren Sie sich bitte augenblicklich auf Ihr Gegenüber oder ich gehe gleich zur Zwei-Sekunden-Hypnose über. Dann werde ich Sie in kürzester Zeit davon überzeugen, eine Frau, gefangen im falschen Körper, zu sein. Verstanden, die Herren?«
Tam nimmt seinen Stuhl und stellt ihn direkt vor mich. Danach rückt er immer näher an mich heran und mein Hals beginnt zu kratzen. Der Mund fühlt sich trocken an und ich muss es hilflos hinnehmen.
»Willst du?«, fragt er.
»Was? Ach so, ähm, ja gut, wenn das für dich okay ist?« Sein Charme macht es mir auf einmal ganz leicht, sich ihm anzuvertrauen. Er scheint nett zu sein und nur halb so kindisch wie die anderen pubertierenden Kerle. Außerdem, was soll schon schief gehen? Ein hinreißender Junge in meinem Alter wird mich gleich in Trance versetzen und anschließend genau wissen, was ich denke, oder? Scheiße – ich starre schon wieder – Alarmglocken an!!!
»Bist du bereit?« Und ob ich bereit bin. Ich bin zu allem bereit, wenn du mich nur fragst.
»Ja.« Ich schließe die Augen und Tam wacht über meinen Schlaf. Ein wunderschöner Traum steht mir bevor.