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Tag 7

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»Liebe Schüler, in der heutigen Lektion wird es um folgende Frage gehen: Wer sind Sie und noch viel wichtiger: Wer wären Sie gern? Selbst- und Fremdbild gehen häufig getrennte Wege und dies soll sich für Sie ändern.« Fräulein Navrotilova hakt per Tablet die Anwesenheit ab und lässt anschließend aus Versehen ihren Touchpen fallen. Sie geht langsam in die Knie, um ihn aufzuheben – ein Bild für die Götter. Ihr Minirock ist so eng, dass er bei jeder Bewegung weiter nach oben rutscht, doch sie bleibt cool und genießt. Selten schenken die Jungs einer Dozentin so viel Aufmerksamkeit. Ich riskiere einen unauffälligen Blick in Tams Richtung. Leider hängen ihm seinen Locken tief in die Augen. Die Grübchen und die gespitzten Lippen verraten ihn jedoch. Männer sind alle gleich. Keiner kommt ohne ein Schmunzeln aus, wenn auch nur der Funke einer Möglichkeit besteht, Eliska Navrotilova unter ihren schwarzen Lederrock zu gucken. Wir Mädchen verhalten uns still und lächeln im Verborgenen. Erste Lektion gelernt: Nutze deine Vorzüge!

»Ich hoffe, auch die Damenwelt hat jede meiner Bewegungen genaustens beobachtet. Ein kurzer Rock oder ein tiefes Dekolleté sind die schärfsten Waffen einer Frau. Sie müssen nur lernen, diese selbstsicher zu tragen.« Kuno pfeift durch seine riesige Zahnlücke und die anderen stimmen in ein aufforderndes Grölen ein.

Ich fühle mich beobachtet und hoffe im Innersten, dass es ein ganz bestimmtes Augenpaar ist, welches auf mir ruht. Seit unserer ›Partnerarbeit‹ im Translabor schwebe ich ein paar Zentimeter über dem Boden, sobald ich in Tams Nähe komme. Wenn er spricht, beginnen meine Ohren zu wachsen. Wenn er im Unterricht in eine Notlage gerät, dreht sich mir der Magen um. Wenn er mit anderen Mädchen redet, schaltet die Atmung auf Turbogang und sobald unsere Blicke einander begegnen, spielen die Schmetterlinge in meinem Bauch verrückt. Ich weiß, es ist völlig übertrieben, so starke Gefühle für einen Jungen zu haben, mit dem man kaum ein Wort gewechselt hat. Ich kann nicht einmal sagen, ob er mich wahrnimmt oder einfach nur ein netter Typ ist. Abwarten und Tee trinken. Peinliche Zettelchen werde ich vorerst nicht schreiben. Ich bleibe unauffällig und genieße die kleinen Freuden dieser Fantasieromanze.

Meine Hoffnung auf Beachtung bleibt leider unbegründet. Tam hat nur Augen für seinen Ärmelbund, an dem er geschickt einen überflüssigen Faden entfernt. Kein schmachtender Blick also – zu schade. Doch wie Navrotilova sagte: ›nutzt eure Vorzüge‹. Möglicherweise sollte mein Mauerblümchenkostüm ein wenig aufgepimpt werden. Die Overalls sind dafür da, weibliche Reize zu verstecken – jetzt fahren wir andere Geschütze auf. Die Jungs sollen betteln, dass uns die Stifte aus Versehen aus den Händen fallen. Sobald ich Tam am Haken habe, kann ich wie eh und je das nette Mädchen von neben an sein, um ihn für mich zu gewinnen. Oh Mann, ich klinge schon wie Chantal aus irgendeinem Kitschroman.

»Meine Herren, nehmen Sie bitte an den Seiten Platz und öffnen Sie in ihrem Startmenü die Steckbriefe Ihrer werten Mitstreiterinnen.« Ihr kehliger Akzent mit dem rollenden ›R‹ klingt einfach hinreißend.

»Ein jeder enthält ein Foto und oberflächliche Angaben über Augen-, Haar- und Hautfarbe, Größe, Gewicht und…«

»Gewicht?«, kiekst Ebba etwas zu laut. Sie bemerkt diesen Fehler und spricht im Flüsterton weiter. »Was wird das hier? Eine Versteigerung? Die Navrotilova hat leicht reden, mit ihren sechzig Kilo bei ein Meter achtzig Körpergröße. Ich weigere mich, mich diesen pubertierenden, peinlichen Jünglingen zum Fraß vorwerfen zu lassen.« Ebba verschränkt die Arme und dreht sich seitlich, um ihre Wut zu verbergen. Ich verstehe ihren Standpunkt. Ebba ist mit Abstand die größte in der Klasse und hat auch das ein oder andere Kilo zu viel auf den Hüften. Eine dunkle Bobfrisur umrandet ihr wirklich hübsches Gesicht und die fast schwarzen Augen wirken freundlich. Sie ist ein echter Kumpel und immer für einen Spaß zu haben. Leider ändert dies rein gar nichts an ihrer jetzt so misslichen Lage.

»Ladies, bitte ins Hinterstübchen. Die Herren fordere ich hiermit zu konzentriertem Arbeiten auf. Sehen Sie die Unterlagen durch und behandeln Sie die Informationen mit dem nötigen Respekt. Ein kleiner Denkanstoß: die Steckbriefe gibt es natürlich auch mit Ihren Fotos.« Mit diesen Worten dreht sie sich um und folgt uns ins Versteck.

Hinter der Glaswand wird nun die Tür zum ›Hinterstübchen‹ geöffnet. Die Beschreibung Hintersaal trifft es wohl eher. An der Decke verlaufen Schienen, welche voller Kleidungsstücke hängen. Alles ist in durchsichtige Schutzhüllen gepackt und sieht nagelneu aus.

Eine junge Frau in Schlabberpullover und quietschgrünen Leggins steht am Ende der Schiene und ist mit einem langen Stab bewaffnet. Sie hat dunkelrotes Haar, zu einem lockeren Dutt gedreht, und trägt große goldene Creolen in den Ohren.

»Meine Damen, das ist Dunja, unsere Fashionqueen. Sie wird Ihnen heute lediglich bei den Reißverschlüssen zur Hand gehen oder die Kleiderkreise bedienen. Soll heißen: Sie sind auf sich allein gestellt – vorerst. Für meinen ersten Eindruck ist es wichtig, dass Sie keinerlei Tipps von Profis oder Ihren Freundinnen annehmen. Ich möchte die ungeschliffenen Diamanten« Sie stockt, als ein lauter Knall zu hören ist. Als sie sich umdreht, bemerken wir den Bildschirm über der Tür. Er zeigt in Grautönen die Situation im benachbarten Klassenraum. Kuno liegt, alle Viere von sich gestreckt auf dem Laufsteg und hält sich die Nase. Was auch immer er gerade angestellt hat, Frau Navrotilova findet das ganz und gar nicht witzig. Sie drückt einen Knopf neben der Tür und holt tief Luft.

»Wenn die Herrschaften meinen, ich hätte weder Augen noch Ohren im Kopf, dann haben Sie sich getäuscht. Erledigen Sie Ihre Aufgaben. Wenn Sie damit fertig sind, verhalten Sie sich still. Ich bin in wenigen Augenblicken bei Ihnen, um weitere Anweisungen zu erteilen. Bis dahin verbitte ich mir jedwede Störung.« Sie rückt ihren akkuraten Pony mit der weißen Strähne gerade, glättet das schwarze, kinnlange Haar und setzt erneut ihr zuckersüßes, etwas arrogantes Lächeln auf. »Entschuldigen Sie, wo waren wir?«

Als Fräulein Navrotilova den Raum verlassen hat, betätigt Dunja einen Schalter und die gigantische Kleiderstange setzt sich in Bewegung. Berge an Röcken, Kleidern, Jacken und Blusen rollen auf uns zu und kreisen uns ein. Als die Maschinerie stoppt, werden die Schutzhüllen in die Bügel gesaugt und geben die Klamotten frei. Wie die Hühner fallen die Mädchen darüber her und ich sehe die zerkratzten Hände und ausgestochenen Augen schon vor mir. Ich für meine Person halte mich im Hintergrund und nehme die Rolle des stillen Beobachters ein, bis sich die Lage beruhigt hat.

Als meine Mitschülerinnen schwer bepackt auf die Schminktische zustürmen, kann ich in Ruhe die Überreste begutachten. Ich habe bisher wenig Zeit investiert, um mich mit Styling auseinanderzusetzen. Ich mag Jeans, meine Lederjacke, die alten Schnürstiefel und, zugegebenermaßen, Schafwollsocken. Für Kleider hab ich nichts übrig. Zu meinem Pech sind in diesem Fundus weder Jeans noch Lederjacken oder stinknormale Pullover zu finden. Der Schwerpunkt liegt eindeutig auf unseren weiblichen Schokoladenseiten.

Ich entscheide mich schlussendlich für ein schlichtes graues Filzkleid mit einem schwarzen vertikalen Lederstreifen. Es hat einen recht tiefen Ausschnitt und geht mir bis kurz über das Knie. Ganz annehmbar.

Meine Haare lasse ich von Caris zu einem Kranz flechten und ziehe anschließend ein paar Haarsträhnen ins Gesicht. Jetzt kommt der schwierige Teil: das Make-up. Zum Glück weiß Caris auch hier, was zu tun ist.

»Zuerst die Grundierung. Mach mir einfach alles nach.«

Zehn Minuten später bin ich mit meinem Spiegelbild ganz zufrieden und erwarte die nächsten Instruktionen.

Dunja kommt mit einem Wäschewagen angefahren und Taranee stößt einen Freudenschrei aus.

»Das Paradies!« Gut, damit ist alles klar. Dunjas Wagen ist bis zum Rand voll mit Schuhen. Nein, das entspricht nicht ganz der Wahrheit. Er ist bis zum Rand voll mit Pumps und Highheels. Ich werde mich absolut lächerlich machen. Es sind keine Absätze unter fünf Zentimetern in Sicht und mein bisheriger Rekord lag bei drei. An diesem Abend hatte ich vier abgequetschte Zehen und zwei große Blasen an den Fersen. Warum tragen Frauen so etwas? ›Körperverletzung‹ sage ich dazu. Nur, um diesen Grünschnäbeln da draußen zu imponieren? Meine Performance wird ein Desaster!

»Fertig werden, liebe Mädchen, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.« Aha, Fräulein Modedesignerin ist wieder anwesend. Dann kann die Show ja beginnen.

»Bitte stellen Sie sich in alphabetischer Reihenfolge an der Tür auf und betreten Sie den Raum erst, wenn ich Sie aufrufe. Schenken Sie mir keine Beachtung, sondern versuchen Sie, die geifernde Meute zu begeistern. Ihrer Fantasie sind hierbei keine Grenzen gesetzt.« Sie lacht und verschwindet wieder nach vorn.

Totenstille. Nur das Quietschen von Dunjas Wagen ist in der Ferne leise zu vernehmen. Über den Bildschirm können wir das Geschehen mitverfolgen. Als Elsika Platz genommen hat, erklingt der erste Name:

»Caris Engel, bitte.« Caris streicht ihr Kleid glatt und blickt in die Runde, auf der Suche nach ein paar aufmunternden Gesten. Doch die Mädchen sind alle so mit sich beschäftigt, dass ich die Einzige bin, die ihr die gedrückten Daumen entgegenhalten kann. Sie öffnet die Tür und betritt zielstrebig den Laufsteg. Ein Traum wird wahr. Sie trägt ein grünes Minikleid und hat die blonden Korkenzieherlocken mit einem Band aus dem Gesicht gebunden. Ihre schöne, schlanke Figur setzt sie gut in Szene und läuft anmutig über die Bretter. Für meinen Geschmack hätte sie etwas selbstbewusster auftreten können, aber sie ist eben ganz bei sich geblieben – Bravo!

Ein kurzer Applaus beendet ihren Auftritt und Muriel macht sich bereit. Sie ist so ein zartes Persönchen, dass ich Angst habe, sie könnte jeden Moment zusammenbrechen. Den Aufprall ihres Fliegengewichtes würde man akustisch wahrscheinlich nicht einmal wahrnehmen.

»Muriel Grian, würden Sie uns bitte die Ehre Ihrer Anwesenheit erweisen?« Auch wenn es in der Akademie niemals ein Pausensignal gibt, hat Eliska einen vollen Terminplan und jede Minute ihrer Zeit ist kostbar.

Muriel schließt die Augen und ich kann ihr Herz unterhalb des Kehlkopfes pochen sehen. Sie atmet tief durch und wagt dann den Schritt ins Unbekannte. Aufgrund ihrer weißen Haut, den platinfarbenen Haaren und den stechend blauen Augen, ist sie eine Erscheinung, keine Frage. Doch das bodenlange, eisblaue Kleid mit dem großen Rückenausschnitt lässt sie noch dazu mystisch wirken. Eine Elfe schwebt wortlos über den Catwalk und wieder nach hinten in die Belanglosigkeit. Nicht der Hauch eines Geräusches ist im Klassenraum zu vernehmen. Kein Kommentar wird ihrem Steckbrief hinzugefügt. Sie hat die Anwesenden in einen tranceähnlichen Zustand versetzt. Selbst die Navrotilova ist völlig perplex. Muriel ist in der Zwischenzeit hinter den Kulissen auf einen Stuhl gesackt. Ihre Zauberkraft ist verbraucht und nun gönnt sie sich eine verdiente Pause. Ich weiß nicht, ob nach diesem Auftritt irgendeine andere von uns die Aufmerksamkeit der Jury auf sich ziehen kann.

Lana, Sus und Ebba machen ihre Sache ohne weiteres Aufsehen. Keines der Mädchen stolpert und Madame Navrotilova scheint zufrieden. Ich bin die Nächste. Verdammt. Gleich wird sie meinen Namen aufrufen und ich werde mich vor all den Mitschülern zum Vollobst machen. Toll, jetzt sind meine Finger eingeschlafen. Lediglich Akira und Taranee stehen zappelig hinter mir. Die anderen sitzen quatschend in einer Ecke und werten ihre Performances aus.

»Fräulein Roth, bitte!« Das bin ich. Das bin ich. Ich muss jetzt da raus. Ich sehe nett aus. Ich bin ganz ich selbst. Tam wird mich eh nicht bemerken, da eine romantische Verbindung zwischen uns nur in meiner Fantasie existiert.

Ich hasse mich und ich hasse mein Unterbewusstsein. Es ist irrelevant, was einer der Jungs denkt. Ich muss wissen, welche Wirkung ich auf die breite Masse habe, um diese mit Eliskas Hilfe möglicherweise zu verbessern. Punkt.

Meine zitternden Hände finden den Weg zu Türklinke und ich schaffe es ohne einen Stolperer auf den Laufsteg. Es ist still im Raum. Ich schüttele die Taubheit aus den Fingern und gehe los.

Die gegenüberliegende Wand nähert sich und ich versuche, meinen Kopf komplett auszuschalten, um die volle Konzentration in die Beinarbeit zu legen. Die Drehung bekomme ich hin und trete den Rückweg an. Wahrscheinlich bin ich viel zu schnell, aber die Blicke auf meinem Körper sind nahezu unerträglich. So muss sich ein toter Fisch auf dem Fischmarkt fühlen. Ich weiß genau, in welche Richtung ich blicken muss, um in Tams Gesicht zu sehen. An der richtigen Stelle hebe ich leicht den Kopf, lächle vorsichtig und lasse die Wimpern langsam nach unten fallen. Ich hatte ihn, in diesem Augenblick hatte ich ihn. Was er jetzt daraus macht, liegt nicht bei mir. Oh nein, das war eine blöde Idee. Die Mädels und Eliska haben das Szenario hinter den Kulissen verfolgt. Eine öffentliche Demütigung wird in Kürze Wirklichkeit. Meine Augen beginnen zu flackern und ich ziehe das Tempo an. Nur schnell raus hier. Schlimmer kann es nicht werden.

Die Drehung am Ende läuft glatt und ich steuere gezielt den sicheren Hafen des Hinterstübchens an. Lief doch alles ganz… Oh…, Scheiße – die Glaswand. Au!

Der Schädel brummt und ein riesiger roter Strich ziert meine Stirn. Womit habe ich das verdient? Ist es nicht schon peinlich genug, wimpernklimpernd liebliche Blicke zu verteilen? Fehlgeleitet wende ich mich noch einmal um, mache einen Knicks und stürme zur Tür. Eine unbeschreiblich gute Leistung, Roya!

BePolar

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