Читать книгу BePolar - Martha Kindermann - Страница 6

99 Tage, 11 Stunden, 46 Minuten und 23 Sekunden zuvor

Оглавление

Dring, dring, dring. Ich öffne langsam ein Auge und starre den Wecker auf meinem Nachtschränkchen an. Ich hasse ihn. Es gibt nicht viele Dinge, die ich noch mehr verabscheue, als bügeln oder Möhren reiben. Aber an einem hellen, warmen Sommermorgen von diesem Drecksding geweckt zu werden, und das an meinem Geburtstag, ist doch wirklich das Letzte. Scheiß Schule. Manchmal vermiest sie einem alles. Es wäre viel angenehmer, einen solch wichtigen Tag im Bett mit Lesen und Herumgammeln zu verbringen. Ich brauche weder Geschenke noch Glückwünsche von Leuten, die mich sonst das ganze Jahr nicht bemerken. Morgen ist ein neuer Tag, der Wecker wird wieder klingeln und keinen wird mein voranschreitendes Alter interessieren. Wozu dann also der Aufwand?

»Roya, Liebling, alle warten auf dich!« Roya, Liebling, bäh, bäh, bäh... Am frühen Morgen ist die Stimme meiner Mutter schwer ertragbar, auch wenn sie es ja nur gut meint.

»Komme, Moment«, antworte ich und schlüpfe schnell in meine Opahausschuhe und den lachsfarbenen Flauschebademantel. Ach du schöner Bademantel, du erhellst mir den Morgen! In den Spiegel schaue ich nie zu so früher Stunde – hat sich irgendwie bewährt.

Im Erdgeschoss stehen meine Lieben und singen von Kuchen, die groß sind wie Mühlsteine. Papa hat einen in den Händen, der dieser Beschreibung beängstigend nahe kommt. Mama fließen die Freudentränen und Rhea hat ein winziges Geschenk unter dem Arm, klatscht im Takt und strahlt von einem Ohr zum anderen. Das ist meine Familie. Papa Roland Roth, Mama Roberta Roth, meine Schwester Rhea, na, wenn wir es genau nehmen, wohl eher Rhea Regina Roth und ich, Roya. Die Frage, wofür wir mit solch seltsamen Namen bestraft worden sind, stelle ich mir oft, aber überwiegend bin ich glücklich, dass ich Teil dieser tollen Familie bin.

Heute ist mein siebzehnter Geburtstag und ich bin aufgeregt, ein seltenes Gefühl. Mir kribbelt es unter den Fingerspitzen und ich tänzle auf den Zehen herum, bis ich das Geschenk öffnen darf. Es ist winzig und hellgrün eingepackt – meine Lieblingsfarbe. Ich nehme es entgegen und schaue es eine Weile an, bis ich beginne, es genüsslich auszuwickeln. Das kann bei mir schon eine Weile dauern, schließlich ist ein solch exquisites Geschenkpapier immer wieder zu gebrauchen. Eine weiße Schachtel kommt zum Vorschein, und als ich sie öffne, raschelt es. Oh wie spannend, ich will eigentlich gar nicht weiter auspacken, denn dann ist der herrliche Moment vorbei. Es liegt ein Schlüssel darin. Wir haben an jeder Tür im Haus solch einen Schlüssel. Was soll das? Ich bin verwirrt, glaube aber, genau darauf haben es meine Eltern angelegt. Was um alles in der Welt öffnet er?

»Na komm schon, planlose Roya«, meldet sich Papa und ich wackle ihm wie ein treuer Hund hinterher die Treppe hinauf bis zum Wäscheboden. Hier war ich gefühlt ein halbes Jahrzehnt nicht mehr. Der Geruch der Kammer steigt mir in die Nase, obwohl die Tür noch verschlossen ist. Sofort erscheinen die Bilder, wie ich mit Rhea zwischen den trocknenden Bettlaken Verstecken spiele und Mama wütend durch den Hausflur tobt. »Nun, du bist an der Reihe.« Papa zeigt auf die alte Holztür mit dem goldenen Schloss und wartet gespannt. Ich bin weiterhin verwirrt. Mama schluchzt und ich habe keinen blassen Schimmer, warum.

Na gut, ich drehe den Schlüssel im Schloss herum und bin sprachlos. Meine herzallerliebsten Eltern haben die Kammer in ein Traumland verwandelt. Die Decken sind mit dunkel- und hellblauen Chiffontüchern abgehangen, auf dem Boden liegt ein runder, flauschiger Teppich und unzählige Salzkristalllampen tauchen den Raum in ein warmes Licht. Ich schmeiße mich den beiden an den Hals. Mama schnieft und Papa meint:

»Wenn du aus der Schule zurück bist, werden auch deine Möbel den Weg nach oben gefunden haben.« Schule, musste er das erwähnen? Ade, ihr schönen Träume und willkommen, Realität.

Auf dem Schulhof angekommen, bemerke ich zwei mir bekannte Gestalten, welche mit dem Gesicht zu einem Baum stehen, und sehr geheimnisvoll tun. Die kleinere von beiden trägt einen blumigen Rock, grasgrüne Strumpfhosen mit Laufmaschen bis zum Knie und einen schwarzen Pullover. Die Kapuze hat sie zur Deckung tief ins Gesicht gezogen, sodass nur ein Insider die blonden Dreadlocks darunter zuordnen kann. Das andere zwielichtige Wesen mit den gebatikten Kordhosen, den unzähligen Piercings und einer Frisur, die einem explodierten Straßenköter gleichkommt, muss demzufolge das passende Gegenstück dazu sein. Fenja und Tarik, diese Pfeifen. Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen. Es ist urkomisch, ihre Verschwörung zu beobachten. Als ich näher komme, suchen sie das Weite.

»Sportunterricht«, schreit Tarik und die Enttäuschung lässt mich erstarren. Haben meine beiden einzigen Freunde diesen wichtigen Tag nicht im Kalender vermerkt? Der siebzehnte Geburtstag ist quasi der letzte Schritt vor dem Erwachsensein. Ein Jahr voller fragwürdiger Entscheidungen bricht an. Aber nein, Sportunterricht ist alles, was ich zu hören bekomme. Toll! Warum hab ich mir heute keine Befreiung wegen Unterleibsbeschwerden geholt? Wäre eine gute Idee gewesen.

Ich renne den beiden hinterher und schaffe es gerade so vor dem Stundenklingeln in die Turnhalle. Es ist verdächtig still. Shit, in der letzten Schulwoche steht auch noch Leichtathletik auf dem Programm. Verdammter Mist! Es geht eben immer ätzender. Ich hasse an Leichtathletik einfach alles. Ich will nicht in eine Sandgrube springen oder irgendeine dämliche Kugel über eine Linie werfen. Wer braucht so etwas? Meine Laune ist im Keller und ich ziehe mir lediglich die Turnschuhe an und eile ins Außengelände. Den Gesichtsausdruck unseres Sportlehrers kann ich mir bildhaft vorstellen. Er ist ein Vorreiter seiner Berufsgruppe. Wenig trainiert, etwas zu alt für das Lehrerdasein und stets mittelmäßig gelaunt. Ich werde die volle Bandbreite seiner Emotionen zu spüren bekommen.

Es scheint, die Klasse habe schon begonnen und ich versuche, mich klammheimlich in die Reihe hinter der Sandgrube zu stellen. Mist, er ist doch nicht so blöd, wie er aussieht.

»Fräulein Roth, vortreten!«, ruft er in strengem Ton. Ich hasse mein Leben, ich hasse diesen Tag, die Gesichter der anderen und in diesem Moment am allermeisten meinen zurückgebliebenen Lehrer mit der grauenhaften Aussprache. »Roya, Sie sind doch schon wieder nicht pünktlich zum Unterricht erschienen. Letzte Chance für Sie, das Ruder in eine andere Richtung zu lenken. Bitte beginnen.« Ich würde ihn am liebsten Packen und ihm jedes seiner entsetzlichen Worte noch einmal in einer erträglichen Lautung diktieren. Aber dafür bleibt keine Zeit und ich laufe, innerlich kochend, auf ihn zu. Danke Freunde, dass ihr mich an meinem Geburtstag so hängen lasst.

Ich mache mich an der Startlinie bereit und warte auf das Signal. Der Vollpfosten nimmt seine quietschgrüne Trillerpfeife an den Mund und auf einmal stimmt die ganze Klasse ein Geburtstagslied an. Mein Lehrer macht sich vor Lachen wahrscheinlich gleich in seine Jogginghose. Sie singen das Lied mit dem großen Mühlsteinkuchen. Gibt es eigentlich keine Alternative für eine Siebzehnjährige? Egal, die Überraschung ist ihnen gelungen, auch wenn ich vor Scham beinahe in der Sandgrube versinke. Was mir nach dem Ständchen natürlich nicht erspart bleibt, ist die Ehre, die erste Springerin zu sein und wie erwartet, unterirdisch abzuschneiden. Manches ändert sich eben nie.

Nach neunzig Minuten Plackerei, zwei Stunden langweiligstem Biounterricht und einem Film über den Mondschatten bin ich die Erste, die die große Schultür hinter sich lässt. Mama hat eine kleine Party in unserem beschaulichen Garten mit einer beschaulichen Anzahl an Gästen geplant und ich möchte unbedingt Teil des Vorbereitungsteams sein.

Gegen siebzehn Uhr trudeln meine Großeltern, Cousins, Tanten und, dem Himmel sei Dank, auch Fenja und Tarik ein. Der Rest der Familie wohnt einfach zu weit entfernt, um für solch einen Anlass Zeit zu finden. Gut so.

Ich bin wunschlos glücklich, trinke Bowle, esse Papas herrliche Lammsteaks und diskutiere mit Fenja und Tarik die Sommerferienplanung.

Pünktlich Zweiundzwanzig Uhr kündigt Oma ihr Gehen an und läutet das Ende der Party ein. Kein Problem, ich bin vollgestopft bis oben hin und freu mich auf mein Bett in einem fantastischen Dachbodenzimmer.

Als alle aus dem Haus sind und die Küche wieder glänzt, sind genau dreiundfünfzig Minuten vergangen und ich bin hundemüde.

»Der erste Traum in einem neuen Zuhause geht in Erfüllung«, flüstert mir meine Schwester auf dem Weg nach oben ins Ohr. Na die ist gut, ich bin doch keine zehn mehr. Rhea hat mir verraten, dass es ihre Idee war, die Eltern zum Ausbau des Dachbodens zu überreden. Nicht ganz uneigennützig, wie ich finde. Sie darf das freie Zimmer zum Labor oder was auch immer umfunktionieren. Rhea studiert Medizin und möchte, wenn sie groß ist, Hirnforscherin werden. Ich denke, sie rettet irgendwann die Welt, das werde ich ihr nur oft genug sagen müssen. Sie ist ein tolles Vorbild, obwohl wir unterschiedlicher kaum sein könnten. Das geht schon beim äußeren Erscheinungsbild los: Ich komme optisch mehr nach meinem Vater. Die grauen Augen und das braune Haar habe ich von ihm, den großen Mund und die winzigen Ohren von meiner Mum. Dass ich so klein geraten bin, ist wohl auch ihr Verdienst. Rhea hingegen ist groß, blond, attraktiv und trägt die überdimensionale Nerdbrille nur, um ihre Klugheit zu unterstreichen. Sie war schon als Kind ein Überflieger und ist trotzdem stets ein nettes, sympathisches Mädchen geblieben. Das Einzige, was ich echt nicht ausstehen kann, ist ihr schrecklicher Geschmack, wenn es um Kleidung geht. Pastelltöne, Rüschen, Blusen und Strickjacken. Immer und überall Strickjacken. Wie eine alte Jungfer zieht sie sich an. Gut, dass sie als Ärztin zum Kittel tragen gezwungen ist, sonst würden die Patienten reihenweise aus den Zimmern flüchten und schlagartig genesen.

Mein Bett, es kommt immer näher. Papa hat es unter die Dachfenster gestellt und somit hängen die Tücher symmetrisch an beiden Seiten des Metallgestelles hinunter. Es sieht wunderschön aus. Es klopft und Rhea steht in der Tür.

»Ich habe dir noch gar nicht mein Geschenk gegeben«, platzt sie heraus, holt ein großes dünnes, rundes Etwas hinter ihrem Rücken hervor und hängt es zwischen die Fenster über das Bett. Es vereinigt viele Blautöne in sich und ist mit schimmernden Perlen, Muscheln, abgerundeten Glasscherben, Federn und gedrehten Silberdrähten verziert. »Ein indianischer Traumfänger. Er fängt die guten Träume ein und lässt die Bösen durch.« Hübsch. Wenn man es dreht, bricht sich das Licht in den winzigen Glasstücken und funkelt magisch. Ich gebe meiner Schwester einen Kuss auf die Wange und schiebe sie dann aus dem Zimmer.

»Danke, das ist sehr lieb von dir! Doch nun muss ich ihn ausprobieren und dafür brauche ich Schlaf. Gute Nacht.« Ohne Widerworte schließt Rhea die Tür und überlässt mich der Dunkelheit. Ich schlüpfe schnell in Top und Buxe und krieche unter die Bettdecke. Es ist viel zu warm für Daunenfedern, aber ohne könnte ich kein Auge zu tun.

Ich lasse eine Weile den Blick durch die Kammer schweifen und stelle mir vor, was dieses Zimmer in den nächsten Jahren so erleben wird oder wen es vielleicht dulden muss. Schließlich habe ich nicht vor, alt und allein zu sterben. Ich ziehe die Jalousien an den Fenstern zu und erfreue mich an dem kleinen Spalt, der offenbleibt und das Licht der Straßenlaterne hinein lässt. Wenn ich mich jetzt in die richtige Position bringe, zaubert mein Traumfänger zarte Wellen an die Wand neben der Tür. So muss es unter der Meeresoberfläche aussehen. Ich mache die Augen zu und…

BePolar

Подняться наверх