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Tag 2
Оглавление»Da ist sie, Ceyda Hammerschmidt – die ›Gute Fee‹.« Caris spricht sehr leise und ich habe zu tun, sie in dem Wirrwarr der anderen zu verstehen. Eine große, massige Frau steht in der Mitte des Ufos und gönnt sich eine kleine Auszeit. Sie ist um die vierzig, trägt ebenfalls einen Overall, Turnschuhe auf Rädern, einen riesigen Afro, passend zu ihrem dunklen Teint, und eine runde Sonnenbrille mit Klappvisieren. Ich weiß nicht, aus welchem Film sie gekrochen ist, aber ihre Aura ist überwältigend.
»Schläft die?«, höre ich jemanden halblaut fragen. Er könnte recht haben. Möglicherweise ist sie gar nicht echt, immerhin rührt sie sich keinen Millimeter.
»Das ist deine Chance, Kuno!« Ein hagerer Typ mit blonden Strubbelhaaren wird von zwei anderen nach vorn geschoben. Er schnipst dreimal lautlos mit erhobenen Händen, dreht sich lässig um die eigene Achse und schenkt uns sein schönstes Angebergrinsen mit Frontzähnen, die wenigstens einen Zentimeter breit auseinanderstehen. Seine Segelohren sind so überdimensional groß, dass ich Angst habe, er könnte jeden Moment abheben und doch ist er der mutigste Ritter aus unseren Reihen und wagt sich auf unbekanntes Terrain.
Mit kleinen, vorsichtigen, fast tänzelnden Schritten nähert er sich dem Ufo und setzt einen Fuß auf die Scheibe. Als er den anderen hinterherziehen will, beginnt sich der Untergrund wie wild zu drehen und Kuno landet auf dem Hinterteil. Im gleichen Augenblick beginnt Ceyda zum Leben zu erwachen. Wie ein Roboter nimmt sie all ihre Körperteile wieder in Gang und scannt die Gruppe auf fehlende Personen. Kuno geht wie ein begossener Pudel zurück in die Reihe und hält sich den Po. Die anderen Jungs klopfen ihm anerkennend auf die Schultern, obwohl es ihnen vor Lachen kaum möglich ist.
»Guten Abend, ihr Lieben«, meldet sich die Fee auf Rollschuhen zu Wort und klappt mit einem kurzen Drücker die Visiere ihrer Sonnenbrille nach oben, ohne Kunos peinlichen Auftritt mit nur einer Silbe zu erwähnen. Hut ab. »Mein Name ist Fräulein Hammerschmidt, aber nennt mich ruhig Ceyda.« Ihre Stimme strahlt eine solche Wärme aus, dass man sie sofort ins Herz schließen muss. »Ich bin eure Ansprechpartnerin in allen Gefühlsfragen, koordiniere die Stundenpläne, teile Arbeitsgruppen ein, bin als Studienberaterin tätig oder werte diverse Arbeiten aus. Wie ihr seht, mag ich technische Spielereien, was es euch ermöglicht, mich rund um die Uhr zu erreichen. Ein Klick, ein Drücker, ein Piep – egal, ich bin schneller zur Stelle, als ihr ›Hilfe‹ rufen könnt.« Sie lockert ihre Knie und fährt ein paar Mal hin und her, um allen ihre Ausrüstung präsentieren zu können. Walky Talkys, Tablets in Mini, Midi und Maxi, ein Babyphon mit Videoanzeige, ein Pieper, Stethoskop, Nachtsichtgerät, Taschenlampe, Lupe, Messer, Schuhanzieher. All das holt sie aus ihren Taschen, klappt es aus ihren Schuhen oder lässt es einfach erscheinen. Der Wahnsinn. In meinem Kopf dreht sich alles.
»Jeder von euch verfügt über ein personalisiertes Tablet, mit welchem ihr problemlos mit mir in Kontakt treten könnt. Die Wunder der Technik zeigen mir auch zu jeder Zeit, wo ihr euch aufhaltet und ob eure Vitalfunktionen im Normbereich angesiedelt sind. Letzteres war natürlich ein Spaß!!!« Sie lacht herzlich. So eine Frau wird in dieser leistungsorientierten Bildungsstätte sicher viel zu tun haben.
»Die große Halle – Dreh- und Angelpunkt der Akademie.« Sie hebt die Hände beim Fahren anmutig in die Höhe und animiert uns dazu, die Schönheit des Raumes zu bestaunen. Hohe weiße Wände, das wunderschöne Farbenspiel des Glasdaches, die Endlosigkeit der Flure – es ist ruhig und friedlich hier, wenn auch etwas zu trist für meinen Geschmack. »Womöglich kommt euch alles trist und farblos vor.« Meine Worte – seltsam. Sofort stellen sich bei mir die Armhaare auf. »Dies zu ändern wird eure erste Aufgabe sein. Die Einrichtung ist recht karg«, wohl eher gar nicht vorhanden, »aber ihr strotzt vor Innovationen, um mit ein wenig Farbe und neuem Mobiliar den Ort zu eurer ganz persönlichen Oase zu machen.« Das kann ja heiter werden. Ich nehme gern den Pinsel in die Hand und habe auch kein Problem, mir die Finger schmutzig zu machen, das ist nicht der Punkt. Pinke Farbe im Eimer, um den anderen Mädels ein gemütliches Heim zu schaffen, stört mich allerdings sehr. Caris wirft mir einen unsicheren Blick zu. Vermutlich teilen wir uns diesen Gedanken.
»Neben der Tür befindet sich eines unserer Terminals. Diese verfügen über verschiedenste Funktionen, welche ihr zu gegebener Zeit kennenlernen werdet. Erster Punkt im Menü: ›Design‹. Jeder Schüler darf die eigenen Entwürfe speichern und nach Belieben abrufen.« Ein Raunen geht durch die Reihen und ich sehe in weit aufgerissene Augen, soweit ich blicken kann. Caris greift meine Hand.
»Puh, Glück gehabt, Roya. Ich dachte schon, wir müssen uns alle einigen – eine Horrorvorstellung! Aber so – wie cool. Ich brauche auf jeden Fall Lavalampen, Palmen und einen großen Liegestuhl.« Das sind tolle Ideen und ich hätte auch nichts dagegen, sofort mit den Skizzen zu beginnen, wäre da nicht Ceyda und ihre Bemühungen, den gackernden Hühnerhaufen zum Schweigen zu bringen. Das kann nur eines bedeuten – der fröhliche Teil kommt später.
»Ihr dürft euch wieder beruhigen, denn bis morgen Nachmittag bleibt genügend Zeit, um sich der Aufgabe zu widmen.« Sie klappt die Visiere der Brille herunter und wieder hoch und schielt auf ihr Klemmbrett. Dann zerreißt sie die obere Notiz, zerknüllt das Papier und wirft sie gekonnt in den Papierkorb hinter uns. Seltsam, ich könnte schwören, dass hier vorher kein Papierkorb stand.
»Liebe Schüler, wir setzen unsere Reise fort. Bitte findet euch auf dem Ascenseur ein!« Ah, so heißen also diese Ufo-Scheiben-Fahrstühle. Kann man ja kaum aussprechen. Ich trete selbstsicher zu Ceyda und ernte dankbare Blicke meiner Mitschüler. Nicht alle hatten ihre Anweisung verstanden. Hoffentlich bemerkt keiner, dass ich gerade um einige Zentimeter gewachsen bin.
Der ›Ascenseur‹ nimmt Fahrt auf und befördert uns ins Untergeschoss der Einrichtung. Ich verspüre einen kalten Luftzug und ein Schauer läuft mir über den gesamten Rücken. Wenige Sekunden später sind wir am Ziel. Die Decken hier unten sind niedrig und die Beleuchtung dürftig. Die gefliesten weißen, sterilen Wände erinnern mich mehr an eine pathologische Einrichtung als an Forschungsräume einer elitären Schule. Vor uns liegt ein langer Gang, der sich im Grundriss kaum von den Zimmerfluren unterscheidet. Zwei Türen zur linken, zwei Türen sowie eine große Stahltür zur rechten und am Ende des rechten Ganges die Pforte zu einem Theatersaal, Aula oder ähnlichem – nehme ich an.
»Die Klassenzimmer. Ihr dürft gern hineinschauen. Wir treffen uns in zehn Minuten wieder hier.« Ihre Worte sind kaum verklungen, als sich die Klasse bereits in alle Winde zerstreut hat. Caris zieht mich in das erstbeste Zimmer. Ich habe keine Ahnung, welcher Unterricht in diesem Raum stattfinden soll. Die größte Wand besteht vollständig aus Spiegeln und in der Mitte führt ein langer Steg auf diesen zu. An den Seiten sind vier Bänke mit je zwei Stühlen positioniert und in der hinteren Ecke versperrt eine milchige Glaswand die Sicht auf eine Hintertür.
»Oh, ein Laufsteg.« Caris schlägt die Hände vor's Gesicht und geht leicht in die Knie. Sie berührt vorsichtig die Wände, die Bänke, die Spiegel, die Milchglaswand und kommt völlig verzaubert wieder bei mir an. Ihre Augen leuchten und es macht den Anschein, als sei ihr größter Kindheitstraum soeben erfüllt worden – ein Laufsteg, was wenn sie recht hat? Ich nahm an, unser Ziel sei es, Teil der Regierung zu werden und nicht, den Titel Miss Polar zu ergattern. Ich hoffe, dass sie sich irrt. Ich hoffe, dass sie sich irrt. Ich hoffe stark, dass sie sich irrt. So – drei Wiederholungen sollten genügen! Auf Highheels und Hochsteckfrisuren lege ich nicht sonderlich viel Wert. Die Vorstellung daran, wie sich meine männlichen Mitschüler in diesem Unterrichtsfach schlagen würden, bringt mich allerdings zum Schmunzeln.
Ich reiße Caris aus ihrem Dornröschenschlaf und schiebe sie auf den Gang und ab ins nächste Zimmer. Hier drinnen bekomme ich sonst nur Beklemmungen.
Aus dem Nachbarraum sind laute Stimmen zu vernehmen und wecken meine Neugierde. Die Tür ist von innen verstellt, also klopfe ich an und wir werden hineingelassen. Zwei Jungs stehen auf einem mattierten Boden und machen sich kampfbereit. Sie sind barfuß und haben die Hosenbeine nach oben geschlagen. Der Größere von beiden, ein muskulöser Sunnyboy mit blonder Surferfrisur, lockt seinen Gegner mit der Hand und kassiert den ersten Fausthieb. Er wehrt sich und schmückt den Angreifer mit einem stattlichen Veilchen. Endlose Minuten vergehen, in denen Schläge ausgeteilt und Tritte eingesteckt werden. Als der kleine Dunkelhaarige mit den Tunneln in den Ohren zu Boden geht und das Handgemenge beendet, stürzen drei Mädchen ängstlich auf die Matte und alle anderen verlassen das sinkende Schiff auf schnellstem Wege.
Kuno lehnt an der Tür und hält die Hände zu einer Schale geformt.
»Ein kleiner Obolus für die Helden des Rings?« Er grinst breit und schließt sich dem Zug der Flüchtenden an. Dann wendet er und steckt seine unverkennbare Visage erneut durch die Tür.
»Spar deine Kräfte Henner, der nächste Gegner wird dir nicht einen ganzen Kopf unterlegen sein.«
»Nimm den Mund nicht so voll, Kuno! Ich werde nämlich darauf zurückkommen. Ein Zahn weniger ständ dir gut zu Gesicht!« Kuno verschwindet.
Die drei Mädchen haben sich mittlerweile um den Sieger versammelt und helfen ihm auf die Beine. Henner, wie ich ja nun weiß, nutzt sein schauspielerisches Talent, um den Ladies ernsthafte Verletzungen vorzuspielen. Ein Mädchen mit roten Haaren und riesigen Lippen kommt ihm ungebührlich nah und zieht neidvolle Blicke auf sich.
»Falls du mich beeindrucken wolltest, kann ich dir gratulieren. Ich mag Männer, die ordentlich austeilen können. Vielleicht schützt du in Zukunft deinen hübschen Kopf. Mit Brei darin nützt er dir nichts mehr.« Sie lässt ihren Zeigefinger langsam an seinem Arm hinabgleiten und wartet auf eine Reaktion seinerseits. Henner ignoriert sie jedoch und wendet sich seinem Opfer zu.
»Alles gut, Marlon?« Er streckt ihm die Hand entgegen, zieht ihn in die Senkrechte und schlägt ihm freundschaftlich auf die Schulter. Dieser zuckt kurz zusammen und tut es ihm dann gleich.
»Logo, Alter, freu mich schon auf die Revenge!« Männer – es ist nicht zu fassen. Schlagen sich halb tot und gehen anschließend als dicke Kumpel von Bord.
Die Rothaarige und ihre beiden Schatten folgen den Jungs mit einigem Abstand und werfen uns zum Abschied missbilligende Blicke zu.
»Wer ist die denn?«, frage ich Caris, deren Augen pures Gift versprühen.
»Von denen hältst du dich besser fern. Lana und Ebba stehen nur unter dem falschen Einfluss, aber diese Taranee, mit ihren vollen Lippen und dem tollen Duft, wird ihrer Haarfarbe mehr als gerecht.« Normalerweise bilde ich mir meine Meinung lieber selbst und lasse mich nicht von anderen auf eine Seite ziehen. In diesem Falle aber schätze ich Caris' Warnung sehr hoch ein und vertraue ihren Ratschlägen. Mit Zicken kam ich noch nie sonderlich gut klar. Abstand halten hingegen gehört definitiv zu meinen Stärken.
Nachdem wir den seltsamen Sportraum verlassen haben, in dem mit großer Wahrscheinlichkeit ›Nahkampf‹ unterrichtet wird, folgen wir Ceydas Anweisung und finden uns am Ausgangspunkt ein.
»Alle wieder vollzählig? Dann kann es ja weiter gehen.« Ich werde nicht schlau aus dieser Frau, aber das macht es umso interessanter. »Wir begeben uns nun in den gesicherten Bereich unserer Einrichtung und ich bitte um Disziplin und ungeteilte Aufmerksamkeit. Hier wird intensiv geforscht und jede Störung von außen kann zur Ergebnisverfälschung führen.« Fräulein Hammerschmidt hat für diese Worte ihr ernstes Gesicht aufgesetzt und sieht uns über die Gläser ihrer Brille mit hochgezogener Augenbraue durchdringend an. Das Zimmer zu unserer Rechten ist mit einer schweren Brandschutztür versehen. Daneben ist ein Scanner angebracht, um die Tür vor unbefugtem Eindringen zu schützen. Alle verhalten sich so leise, dass nur Ceydas Rollen auf den Fliesen zu hören sind.
»Ihr werdet später an einem der Terminals euren Fingerabdruck hinterlassen, um Zugang zum Laboratorium zu erhalten.« Ich hoffe, irgendwer gibt uns eine Einführung in die Bedienung dieser Dinger. Was Technik anbelangt, bin ich ein hoffnungsloser Fall, denn normalerweise habe ich Fenja für solche Angelegenheiten. Die gute Fee drückt ihren Daumen an den Scanner und die Tür öffnet sich mit einem leisen Zischen – ein Geräusch, als ließe man langsam die Luft aus einem Reifen. Als die Tür vollständig zur Seite gefahren ist, signalisiert uns Ceyda, ihr geräuschlos zu folgen und rollt vornweg. Der Ort ist angsteinflößend. Der Raum ist weiß gefliest vom Boden bis zur Decke und die gegenüberliegende Wand ist mit großen blinden Glasfenstern bestückt. Vor diesem venezianischen Spiegel stehen in einer langen Reihe, weiße, schmale Tische mit flachen Drehhockern. Die Tischleuchten sind zurzeit die einzige Lichtquelle. Neben der Spiegelwand führt eine kleine Tür zu einem Zimmer hinter dem Glas. Hier gibt es eine zahnarztähnliche Liege mit großer, verstellbarer Deckenleuchte und daneben steht ein rollbarer Apparat, der einem Computer sehr nahe kommt. Mir scheint, es sei eine Art Folterkammer, in der fragwürdige Versuche an Menschen durchgeführt werden. Oder ich habe zu viele schlechte Filme gesehen – wahrscheinlicher, denn von medizinischem Besteck oder anderen Folterinstrumenten fehlt jede Spur.
Als wir uns wieder zum Ausgang begeben, fällt mir ein großer Lautsprecher über der zischenden Tür auf. Sicher kann Professorin Pfefferhauser so Kontakt zu den Dozenten und Studierenden aufnehmen. Wir verlassen den Raum genauso still, wie wir gekommen sind, und schleichen Ceyda, wie die Küken ihrer Entenmama, hinterher. Im Flüsterton teilt sie uns mit, dass dies das Labor für Transinduktion sei und Frau Professor Pfefferhauser die Leitung dieser Abteilung innehabe. ›Transinduktion‹, was auch immer das ist, es klingt nicht nach grausamen Experimenten und das beruhigt mich.
Den nächsten Stopp legen wir auf der gegenüberliegenden Seite an einer Tür mit schwarzem Viereck ein.
»Das Computerkabinett«, erklärt Mamaente und scannt ihren Daumen. Diesmal ist kein Zischen zu hören, denn die Tür muss von Hand geöffnet werden. Ceyda drückt die Klinke kraftvoll nach unten und die Tür öffnet nach innen. Ein wahres Paradies für Hacker und Computernerds liegt vor uns.
»Ihr dürft euch gern umsehen, aber ohne etwas anzufassen, verstanden?« Ceyda spricht mit überzeugender Erwachsenenstimme und alle Anwesenden nicken ihr geistesabwesend zu. Caris setzt sich an einen der Tische und starrt auf den Flatscreen vor sich.
»Wie bedient man dieses Ding? Es gibt doch nirgendwo eine Maus, geschweige denn eine Tastatur.« Sie fährt suchend mit ihren Händen die Tischplatte ab.
»Mentalismus, Caris, hast du der Pfefferhauser nicht zugehört?« Ich glaube, meine Zimmergenossin ist mit allem etwas überfordert. Mein Sarkasmus macht es nicht gerade besser. Das bemerke ich aber immer erst, wenn es zu spät ist. Plötzlich beginnt sich an der Decke eine rote Lampe wie verrückt zu drehen und eine schreckliche Sirene ertönt.
»Alle sofort hinlegen!« Ceydas Anweisung lässt uns gesammelt zu Boden gehen. Nur Kuno, der Angeber, steht wie angewurzelt da und hält beide Hände in die Luft.
»Kuno, leg dich gefälligst auf den Boden, oder willst du von einem Laserstrahl gegrillt werden?« Ceydas Stimme klingt messerscharf und augenblicklich liegt der lange, hagere Kerl kerzengerade unter dem Stuhl. Ich glaube, es vergehen fünf Minuten, bis das rote Licht ausgeht und das Lied der Sirene verstummt. Niemand regt sich.
»Sind die Laser ausgeschaltet?«, fragt Taranee, auf ihre penetrante Art und ich wundere mich, wie sie es schafft, trotz ihrer Angst, den arroganten Touch beizubehalten. Dennoch, ihre Frage ist berechtigt. Ich habe durch meine ungünstige Liegeposition seit zwei Minuten einen Krampf in der Hüfte und hätte nichts gegen Bewegung einzuwenden. Ceyda schwingt sich elegant auf ihre Rollschuhe und klatscht in die Hände.
»Die Gefahr ist gebannt, ihr dürft euch erheben.« Die Klasse atmet erleichtert auf. »Dies war eine Demonstration. Bei unbefugtem Betreten, illegalem Surfen, Diebstahl, Vandalismus oder Essen am Arbeitsplatz kann schon einmal der Alarm ausgelöst werden. Solch eine Aktion endet normalerweise immer im Büro des Chefs, welches sich direkt um die Ecke befindet. Soll heißen: Lasst es lieber bleiben und haltet euch an die Hausordnung! Wir sind eine Eliteschule und hier werden ausschließlich disziplinierte, intelligente und ernsthafte Schüler studieren. Wem diese Regeln widerstreben – da ist die Tür.« Sie zeigt zum Ausgang und das Lächeln ist gänzlich aus ihrem Gesicht verschwunden. »Bei mir erhaltet ihr die Chance, die Schule und ihre Werte auf eine lockere Art kennen und verstehen zu lernen. Sollte euch das nicht gelingen, hat Frau Prof. Pfefferhauser noch ganz andere Methoden auf Lager, glaubt mir. Wir wollen niemandem etwas Böses. Unsere Aufgabe besteht darin, euch die Wichtigkeit dieses Projektes und die Wichtigkeit eurer eigenen Funktion in diesem Gefüge verständlich zu machen. Wer sich einfügen kann, hat die Möglichkeit, Großes zu leisten und sein Wissen weiterzugeben. Allen anderen wünsche ich gute Heimreise!« Sie macht eine kleine Drehung und rollt aus dem Zimmer.
Ich bin verwirrt und mein Kopf ist hohl, hohl, hohl. Ich bin nicht sicher, ob ich Teil eines ›Gefüges‹ sein will. Es ist ungewohnt, eine wichtige Rolle zu spielen. Dieser Umstand übt einen starken Druck auf mich aus. Keine Ahnung, ob ich das auf Dauer aushalten kann. Ich habe gern eine Aufgabe, bin gern unter Menschen und tue gern sinnvolle Sachen, aber ich habe noch nicht besonders oft Verantwortung übernommen. Können sich meine Mitmenschen auf mich verlassen? Ich werde darauf vertrauen müssen, dass die Dozenten schon wissen, was sie tun.
Ceyda fährt zum Ende des Ganges und öffnet eine schwere Flügeltür. Noch ist alles dunkel und ich hoffe, diesmal ist keine Sirene eingeschaltet. Sie bedient einen Stromkasten neben der Tür und schaltet die Lichter ein. Wir stehen in einem Kinosaal. Circa fünfzig weinrote Samtstühle sind auf eine große Leinwand gerichtet. Schön, dass ich mit meinen Vermutungen einmal richtig lag.
»Bitte Platz nehmen und bequem machen.« Ceyda rollt zum Technikraum und löscht die Lichter. Dann startet sie den Filmprojektor und sucht sich einen Sitzplatz.
Die Nationalflagge von Polar in den Farben Indigo, Weiß und Gelb erscheint, begleitet von einer Instrumentalversion der Landeshymne. Nun wird eine Landkarte gezeigt und langsam in unsere Hauptstadt gezoomt. Die graphischen Bilder verwandeln sich in Luftaufnahmen und plötzlich finden wir uns vor dem Regierungspalast wieder. Das Bild wird unscharf und die Musik verwandelt sich in reale Hintergrundgeräusche. Herr Moreno tritt auf und zeigt mit der rechten Hand in Richtung des Regierungsgebäudes.
»Ich stehe hier vor dem Wahrzeichen unseres Landes. Hier wird die Vergangenheit abgespeichert und die Zukunft vorprogrammiert. In unterschiedlichen Gremien werden die Pfeiler dieser Gesellschaft gestrickt, gebaut und gefeilt, wieder eingerissen und neu errichtet. Ein Kreislauf, der seit Jahrzehnten zu funktionieren scheint. Alle Mitarbeiter hier sind an ein und demselben Ziel interessiert: dieses Land sicher zu machen, von Hunger und Arbeitslosigkeit zu befreien, die Familien zu stärken, die Forschung voranzutreiben, die Umweltkatastrophen einzudämmen und die Welt in kleinen Schritten ein wenig besser zu machen. Alle sieben Jahre werden neue Kräfte mit innovativen Ideen in sämtlichen Bereichen benötigt, denn die Welt dreht sich oft schneller, als wir mithalten können.
»Ihr seid diese neuen Kräfte. Wir haben euch ganz bewusst ausgewählt, denn jeder Einzelne bringt Fähigkeiten mit, welche diesem Gefüge nützlich, ja unabdinglich, sein werden.« ›Gefüge‹, da ist es wieder dieses fremde Wort. Er ist also tatsächlich der Meinung, wir sind die Zukunft Polars? Kuno und Taranee kümmern sich als Minister um die Familienpolitik? Na, viel Spaß auch.
»Ich kann mir vorstellen, dass ihr Zweifel hegt, ob ihr dieser Aufgabe gewachsen seid. Doch glaubt mir, Professor Pfefferhauser und unserem Team hochqualifizierter Psychologen, Pädagogen, Politikwissenschaftlern und Wirtschaftsingenieuren – ihr seid die Eleven von morgen. Ihr seid Innovation, ihr seid Perspektive, ihr seid die Zukunft!« Ich schaue mich um und blicke in hypnotisierte Gesichter. Alle starren gebannt auf Moreno. Bin ich die Einzige, die sich eigene Gedanken erlaubt? Mir schwirren unzählige Fragen im Kopf herum und ich hätte gern Raum, um meine Knoten im Gehirn zu ordnen.
Warum bin ich hier? Warum soll ich mich auf diese dämlichen Auswahltests vorbereiten, an denen ich keinerlei Interesse habe? Warum lassen sich die anderen so blind führen? Ist dieser Moreno ein Staatsdiener auf der Suche nach jungen Talenten oder bastelt er sich seinen eigenen Fanclub aus fehlgeleiteten jugendlichen Mängelexemplaren zusammen und winkt ihnen mit leeren Versprechungen? Was immer hier vor sich geht, ich werde es früher oder später durchschauen, auch wenn ich just in diesem Moment den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen kann. Ich schließe die Augen, um den Ablenkungen des Kinosaals zu entfliehen und kurz abzutauchen.