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Der Himmel ist seit gestern nicht heller geworden

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Es regnet. Der gleichmäßige Rhythmus der prasselnden Tropfen weckt mich behutsam auf. Es ist Zeit, doch meine Augen sind noch nicht bereit für einen weiteren chaotischen Tag. In meinem Kopf findet eine wilde Karussellfahrt statt, die jeden Moment außer Kontrolle geraten kann. Wann ist ein Traum ein Traum und inwieweit nennt man es Wahnsinn? Meine nächtlichen Ausflüge sind so plastisch, greifbar und spürbar. Caris, Ceyda, Dr. Gregorio, Tam, das Kribbeln im Bauch – ich kann mir das nicht alles einbilden. Ich rieche die Mandelbäume, ich spüre den Ascenseur unter meinen Füßen, höre Caris' Lachen und erinnere mich genau an das Gefühl, als Tam mir im Translabor gegenüber saß und meine Gedanken in seinen Händen hielt. Was auch immer da passiert ist, alles fühlt sich tausendfach besser an als die Realität, die mich jetzt aufsucht.

Tarik. Die Schwellung seines Gehirns hält ihn weiterhin im Koma gefangen und erstickt jeden Hoffnungsschimmer auf schnelle Genesung im Keim. Die Schule ist mir völlig gleichgültig und ich werde auch heute keinen Fuß in mein Klassenzimmer setzen. Es ist einfach unmöglich.

Ich schleiche mich in die Küche in der Hoffnung, nicht sofort bemerkt zu werden. Mama sitzt am Tisch und hält mit ihren Händen eine Tasse Kaffee umklammert. Der Himmel ist seit gestern nicht heller geworden und es herrscht herbstliche Stimmung in unserem Haus.

»Lauerst du mir auf?«, frage ich sie vorsichtig.

»Liebling, es ist halb neun. Ich habe deinen Wecker ausgeschaltet und in der Schule Bescheid gegeben. Setz dich.« Meine Mutter hat einen seltsamen Ton in der Stimme und die bekannte Übelkeit kehrt zurück. Wie in Trance ertaste ich die Eckbank und setze mich. Was sie zu sagen hat, kann nichts Gutes bedeuten. Eine Träne rollt mir über die Wange und ich schaffe es nicht, die Verzweiflung zurückzuhalten. Ich habe Angst.

»Es geht um Tarik.« Mama faltet ihre Hände und sieht mir mitfühlend in die Augen.

»Stopp. Hör sofort auf zu sprechen.« Ich fahre hoch und schlage auf den Tisch. »Wenn er tot ist, will ich es nicht wissen. Also sei lieber still.« In keiner anderen Situation hätte ich so mit meiner Mutter gesprochen, aber im Moment ist es das Einzige, was ich heraus bringe.

»Er lebt, Liebes. Aber es sieht nicht gut aus. Seine Eltern haben angerufen und euch für heute Nachmittag ins Krankenhaus bestellt. Es gab wohl einen Zwischenfall und nun könnte alles ziemlich schnell…«, sie stockt.

»Was könnte ziemlich schnell?« Mein Tonfall ist ruppig. Ganz normal, wenn ich so auf die Folter gespannt werde.

»Es könnte ziemlich schnell zu Ende gehen. Die Ärzte haben wenig Hoffnung.« Ich setze mich und lasse die Tränen fließen. Meine Mutter nimmt mich in den Arm und die Zeit vergeht.

»Ich würde vorschlagen«, sagt sie, »du gehst duschen und dann fahre ich dich zu Fenja. Sie braucht dich jetzt gerade am allermeisten. Dein Frühstück bekommst du im Auto.«

Fenja liegt auf ihrem Bett mit dem Gesicht in ihr Kissen gedrückt.

»Bist du wach?«, frage ich im Flüsterton. Sie murmelt irgendetwas Unverständliches. Ich setze mich an die Bettkante und grüble, was als Nächstes zu tun ist. Ich bin selbst so gefangen in meiner Trauer, dass mir die Kraft fehlt, einer anderen Person Trost zu spenden.

»Ach Roya!«, sie fällt mir so ruckartig um den Hals, dass ich fast vom Bett stürze. »Ich packe das nicht. Ich will endlich wissen, was da los ist. Diese Ungewissheit frisst mich auf.« Ich empfinde haargenau dasselbe, auch wenn ich dazu kein Recht habe. Tarik ist mein bester Freund, doch Fenjas große Liebe schwebt zwischen Leben und Tod. Um ihren Schmerz zu verstehen, müsste ich meinen wahrscheinlich mit hundert multiplizieren. Lieben zu dürfen ist ein wunderschönes Geschenk, welches ich leider noch nicht erhalten habe. Die zusätzliche Angst, dieses Gefühl zu verlieren, ist mir also fremd. Umso hilfloser fühle ich mich in Fenja's Gegenwart. Ich kann ihr nicht helfen.

Es klingelt. Fenja schlägt ihre Fingernägel in meinen Rücken. Au.

»Das sind sie. Die vom Krankenhaus – und sie werden uns eine schreckliche Nachricht überbringen.« Ihr Weinen ist so herzzerreißend, dass ich kaum ein Wort verstehe.

»Fenja, es wird alles in Ordnung sein. Die Ärzte klingeln nicht bei Wildfremden, um ›Nachrichten‹ zu übermitteln, beruhige dich.« Was, wenn sie genau das tun und wir in wenigen Minuten den Tod unseres Freundes – ich darf gar nicht daran denken.

Und da ist es…

Es klopft zaghaft an der Tür und für den Bruchteil einer Sekunde bleibt mein Herz stehen.

»He, ihr zwei. Alles in Ordnung?« Rhea steckt den Kopf durch die Tür. Okay, weiteratmen. Es ist nur meine Schwester, die sich zu uns aufs Bett setzt und mich fest drückt.

»Du bist der gemeine Bote vom Krankenhaus, stimmt's? Ich wusste es.« Fenja funkelt meine Schwester wütend an.

»Nein, wieso?«, entgegnet Rhea. »Ich habe Einiges in Erfahrung gebracht und nahm an, ihr wäret froh, dies aus meinem Mund zu hören.« Sie erwartet eine Reaktion, aber wir starren sie nur an.

»Also, Tarik leidet an einem Schädelhirntrauma, aber das wisst ihr ja bereits.« Wir nicken und lauschen gebannt. »Das Ganze ist allerdings nie eine eindeutige Diagnose. Tariks Schwellung im Gehirn ist recht stark und drückt massiv auf die benachbarten Hirnregionen. Da er keinerlei Blutungen hatte, was gut ist, gingen die Ärzte von einer schnellen Rückbildung des Ödems aus. Leider ist in der letzten Nacht der Druck in seinem Kopf so enorm angestiegen, dass es im Moment unklar ist, ob…«, sie stock und Fenja fängt an zu zittern. Ich streiche ihr behutsam über die Arme und halte sie fest.

»Ob?« Ich schaue meiner Schwester in die Augen und erwarte ihre Antwort.

»Ob er überhaupt wieder aufwacht, ja. Mittlerweile haben wir die Gewissheit, dass er irreparable Schäden davontragen wird. Es liegt leider im Rahmen des Möglichen, dass er nie wieder sprechen, geschweige denn selbstständig essen oder trinken kann. Das Gedächtnis wird am meisten in Mitleidenschaft gezogen sein.«

»Das bedeutet doch aber nicht zwangsläufig, dass er nicht wieder aufwacht, oder?« Rhea hat einen seltsamen Blick in den Augen. »Wollen seine Eltern etwa die Geräte abstellen?« Ich bin fassungslos.

»Nein, so weit ist es noch lange nicht. Die Ärzte überwachen ihn rund um die Uhr und registrieren jede kleine Bewegung oder Hirnaktivität. Über die Sache mit den Geräten wird erst im Falle eines Hirntodes gesprochen.« Bei dem Wort ›Tod‹ sackt Fenja auf dem Bett zusammen.

»Hirntod, also wenn Tarik schon fort ist und nur sein Körper in diesem dämlichen Krankenhaus rumliegt. Meinst du das?« Ich stehe auf und laufe umher. Das klingt so entschieden, endlich, ausweglos.

»Den alten Tarik werden wir nicht mehr zurückbekommen?«, fragt Fenja und drückt ihr Kissen ganz fest gegen ihre Brust.

»Ja, Süße, so ist es.« Rhea kniet sich vor Fenja auf den Fußboden und versucht sie zu beruhigen.

»Mein Freund Entin und ich arbeiten gerade an einem langfristigen Forschungsprojekt, welches sich mit dem ruhenden Gehirn befasst. Wir beobachten eine Reihe schlafender Menschen, um Antworten auf so viele ungeklärte Fragen zu erhalten. Was erlebt ein Schlafender bewusst und unterbewusst? Ist es möglich, mit einem ruhenden Gehirn zu kommunizieren? Dieser tragische Unfall hat mich auf die Idee gebracht, unsere Erkenntnisse auch bei Komapatienten anzuwenden. Auf diesem Gebiet gibt es bereits zahlreiche Studien ohne klare Ergebnisse. Mit einer von Entin entwickelten EEG-Technik könnten wir möglicherweise einen entscheidenden Schritt nach vorn machen.«

»Hieße das, wir dürften im Idealfall mit ihm sprechen?« Fenja's Augen beginnen zu leuchten. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Das klingt mir alles so nach Hokuspokus. Befragen sie dann die magische Zauberkugel, um mit ihm in Kontakt zu treten?

»Sollte es funktionieren, ja.«

»Bitte, Rhea, können wir es versuchen? Es gibt keine Sicherheit, dass er aufwacht aber auch keine, dass er es nicht tut, oder? Roya, was meinst du?« Ihre Euphorie ist toll, ohne diese wäre jedes Vorhaben zwecklos. Ich würde ihr nur gern die nächste Enttäuschung ersparen.

»Ich denke, wir sollten erst einmal die Wöllers fragen. Sie haben die Entscheidungsgewalt inne. Ist diese Untersuchung denn anstrengend für Tarik oder gefährlich?« Das hätte ich besser stecken lassen. Fenjas Augen beginnen zu glitzern und mich überkommen die Schuldgefühle.

»Oh je«, stellt sie unter Tränen fest, »wir können ihn doch nicht in Gefahr bringen!«

»Mädels, wenn ich Zweifel hätte, würde ich einen solchen Plan wohl kaum vorschlagen. In Maßen ist diese Methode absolut ungefährlich.« Sie hat recht. Einen Versuch ist es wert.

»Ich hol mal das Telefon bei deiner Mum«, sage ich und verschwinde aus dem Zimmer.

Eine Stunde später sitzen wir mit Wöllers vor dem Bild mit dem leuchtenden Kreis und Rhea versucht allen die Vorgehensweise zu erklären.

»Wow, kannst du mich im Schlaf zu einer Killermaschine machen und mir Superkräfte ins Gehirn einpflanzen?« Thies, Tariks kleiner Bruder, ist Feuer und Flamme. »Ich wäre gern super schlau und irre witzig, da stehen die Ladies drauf!«

»Thies!« Tariks Vater rempelt ihn grob an und seine Mutter fängt an zu weinen. »Wir befinden uns hier nicht in einem schlechten Blockbuster. Zeig etwas Respekt!« Herr Wöller legt die Hände auf die seiner Frau und versucht Thies' Benehmen zu entschuldigen.

»Also«, meine Schwester reißt das Ruder erneut an sich, »die Sache läuft folgendermaßen: Tarik wird an ein EEG Gerät angeschlossen, welches seine Gehirnaktivitäten aufzeichnet. Der jeweilige Gesprächspartner erhält ebenfalls eine elektronische Kopfbedeckung und dann suchen wir eine gemeinsame Frequenz. Im Falle schlafender Menschen kann man die entstehenden Wellen zur Kommunikation nutzen und dem Gehirn Informationen übermitteln.«

»Wird es funktionieren?« Frau Wöller setzt sich aufrecht und hält die Hände ihres Mannes fester umklammert.

»Da wir noch nie mit komatösen Patienten gearbeitet haben, kann ich den Erfolg nicht garantieren. Mit Ihrer Zustimmung würde ich es jedoch auf einen Versuch ankommen lassen. Maximal eine Viertelstunde, um Tarik nicht zu überanstrengen.« Die Gruppe nickt übereinstimmend. »Gut. Dann überlegen Sie bitte, wer von Ihnen starten möchte. Ich würde vorschlagen, drei mal fünf Minuten. Sie werden sehen, es verlangt schon einiges an Kraft ab.« Fenja und Tariks Eltern folgen Rhea auf Station und ich bleibe mit Thies zurück. Er ist mit dieser Situation brutal überfordert und benimmt sich sonderbar, um die Hilflosigkeit zu kaschieren. Klaro, er ist zwölf Jahre alt und sein Bruder verschwindet von heute auf morgen aus seinem Leben.

»Hast du Lust auf ein Spiel? Ich könnte die Schwestern nach Karten oder Würfeln fragen.«

»Nö.« Er schaut mich nicht einmal an und holt sein Handy aus der Hosentasche. Gut, das hätten wir geklärt. Nur keine unnötigen Worte verschwenden.

»Dann mach ich jetzt ein paar Minuten die Augen zu. Weck mich, wenn irgendetwas ist.« Mehr als ein ›mmh‹ bekommt er nicht zu Stande.

Als ich das Klicken der Stationstür höre, sehe ich Fenja auf uns zu kommen.

»Na, wie war es?« Sie weint und Thies dreht sich genervt zum Fenster. »Hat es nicht funktioniert? Oder warum schaust du so traurig?« Sie lehnt sich an die Wand und rutscht auf den Fußboden.

»Er ist fort, Roya. Keine messbar erhöhte Gehirnaktivität während des Versuches. Keine körperliche Reaktion. Er kann mich nicht hören und wahrscheinlich auch nie wieder einen anderen. Er kann sich nicht einfach aus dem Staub machen, ohne auf Wiedersehen zu sagen.« Fenja stiert zur Decke und lässt die Tränen ihren Hals hinab fließen. Ich setze mich neben sie auf den Boden und lausche ihrem Kummer. »Tarik sieht schlecht aus, weißt du. Ganz bleich, wie er da in seinem OP-Hemd in diesem Bett liegt. Dort ist kein Bild an der Wand und Blumen darf er auch nicht im Zimmer haben. Überall piept und blinkt es. Keine optimale Umgebung, um aufzuwachen.« Ich nehme ihre Hand.

»Fenja, du hast mit ihm gesprochen. Meinst du nicht, das allein ist schon Grund genug? Wenn er die Kontrolle über seinen Körper zurückerobern kann, dann wird er alles tun, um dein lächelndes Gesicht wieder zu sehen.«

»Hallo, ihr beiden.« Wir erheben uns in solch einer Geschwindigkeit, dass mir schwindelt. Tariks Eltern sind zurück und wir haben sie vor lauter Schluchzen nicht kommen hören.

»Gibt es etwas Neues?« Ohne nachzudenken, überfalle ich die Familie Wöller mit meiner Fragerei. Tariks Vater setzt sich und schließt kurz die Augen.

»Wir tappen weiterhin im Dunkeln. Keine Veränderung der Vitalfunktionen, null Anstieg der Gehirnaktivität. Immerhin haben wir so auch keinen Schaden angerichtet. Es war den Versuch auf jeden Fall wert und wir sind Rhea zutiefst dankbar für die Möglichkeit. Nun setzen wir auf die Zeit, die ja bekanntlich alle Wunden heilt.« Es tut mir so unendlich weh, die Anwesenden in tiefer Traurig- und Hoffnungslosigkeit versinken zu sehen, und trotzdem muss ich die vielleicht letzte Chance nutzen, die ich habe.

»Dürfte ich eventuell zu ihm? Ich weiß…«, doch Tariks Mutter legt mir beschwichtigend die Hand auf die Schulter und nickt.

»Natürlich, Roya! Bitte verzeih, dass wir es dir nicht eher angeboten haben.«

In Tariks Zimmer angekommen, klappt mir buchstäblich die Kinnlade herunter. Fenjas Schilderungen waren geschönt und werden dem Bild, welches ich jetzt vor mir sehe, nicht annähernd gerecht. Ich erkenne meinen Freund kaum wieder. Mir wird übel. Wie kann ein kerngesunder siebzehnjähriger Junge in kurzer Zeit so abbauen? Sein Gesicht hat eine aschgraue Farbe angenommen und dunkle Ringe umranden die geschlossenen Augen. Ein Schlauch ziert den dünnen Hals und er versinkt in einem Meer aus Maschinen. Es riecht nach Anspannung, Angst und Traurigkeit der Besucher, gemischt mit dem sterilen Geruch des Desinfektionsmittels. Durch den Kabelsalat ist es schwierig, überhaupt an ihn heranzukommen und ich brauche eine Weile, um den Weg an das Bett zu finden. Ich nehme seine schlaffe Hand und halte sie fest. Immer und immer wieder betrachte ich meinen Freund von oben bis unten und hoffe, dass dies nicht unser Abschied ist.

Ich sitze bestimmt zwanzig Minuten friedlich neben ihm und lasse all unsere gemeinsamen Erlebnisse vor meinem inneren Auge ablaufen. Möglicherweise spürt er die Verbindung und die Gefühle, die sich in mir breitmachen. Freude, Abenteuer, Zusammenhalt – die Liste ist lang. Ich kann von Glück reden, einen so tollen Freund zu haben und wünsche mir aus tiefstem Herzen, ihn bald wieder Witze reißen zu hören.

Als Rhea das Zimmer betritt, wende ich mich mit einem traurigen aber dankbaren Lächeln zu ihr.

»Sag nichts, ich kann mich noch nicht verabschieden. Ich halte seine Hand, ich sehe ihn atmen und höre sein Herz schlagen. Es ist noch Zeit.« Sie nickt. Ich drücke ihm einen Kuss auf die Wange und lasse unfreiwillig los.

»Bis bald, Tarik.«

BePolar

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