Читать книгу Wegbereiter der Shoah - Martin Cüppers - Страница 13
4. Deportationen nach Osten
ОглавлениеGanz wesentlich wurde die Lage der polnischen Juden ab Ende 1939 von den gigantischen deutschen Plänen zur Bevölkerungsverschiebung in Europa bestimmt. Als Ziel war anfangs vorgesehen, aus dem Reichsgebiet sämtliche Juden und aus den annektierten polnischen Gebieten Juden sowie alle als ‚rassisch minderwertig‘ erachteten Polen ins Generalgouvernement abzuschieben.87 Spätestens mit seiner von Hitler am 7. Oktober 1939 ausgesprochenen Ernennung zum Beauftragten „für die Festigung deutschen Volkstums“ war Himmler die treibende Kraft bei der Vertreibung von Hunderttausenden von Polen und Juden. Bereits am 30. Oktober 1939 befahl er, bis Jahresende eine Million Menschen aus Deutschland und den annektierten Gebieten zu deportieren. Die Hälfte der Vertriebenen sollten Juden sein.88
Die konkrete Realisierung der Planungen wurde dem Reichssicherheitshauptamt übertragen, wobei sich die Vorstellungen Himmlers in Bezug auf den zeitlichen Umfang der Aktionen schnell als völlig unrealistisch herausstellten. Heydrich entwarf im November 1939 einen zweistufigen Plan, nach dem in einer ersten Phase bis zum 17. Dezember insgesamt 80 000 Juden und Polen aus den annektierten Gebieten abgeschoben werden sollten. Diese Vorgabe wurde übererfüllt. Insgesamt 87 000 Polen und Juden wurden zwischen dem 1. und 17. Dezember in 80 Güterzügen aus dem Warthegau ins Generalgouvernement vertrieben.89 Danach stockte das Deportationsprogramm. Wegen der Kriegsvorbereitungen gegen Frankreich, hauptsächlich aber wegen der Weigerung Hans Franks, weitere Juden in seinem Herrschaftsbereich aufzunehmen, wurden diverse „Nah-“ und „Zwischenpläne“ mit geänderten Zielsetzungen ersonnen, deren Realisierung allerdings schon nach kurzer Zeit wieder obsolet war. Als die Deportationen schließlich wegen der von der Wehrmacht für den Aufmarsch gegen die Sowjetunion benötigten Transportkapazitäten im März 1941 endgültig eingestellt wurden, waren insgesamt ungefähr 350 000 Menschen, darunter mehr als 100 000 Juden, ins Generalgouvernement abgeschoben worden. Gleichzeitig wurden etwa 430 000 Volksdeutsche vor allem in den ins Reich eingegliederten ehemals polnischen Gebiete aufgenommen.90
Das Gros dieser Volksdeutschen gelangte aufgrund eines am 16. November 1939 abgeschlossenen deutsch-sowjetischen Vertrages aus dem sowjetisch besetzten Teil Polens in den deutschen Machtbereich. Die SS-Totenkopfstandarten waren an ihrem Empfang und Weitertransport sowie bei deren Ansiedlung in den annektierten Gebieten beteiligt. Der Nachrichtenzug der Reiterstandarte stellte an Grenzübergängen im Distrikt Lublin im Februar 1940 während etlicher Tage Kommandos zum Empfang und der Weiterleitung der Trecks von Wolhyniendeutschen ab.91 Im Warthegau wurden in der Gegend von Kutno, Lenschütz und Litzmannstadt auf mündlichen Befehl Himmlers von Mitte April bis Mitte Mai 1940 drei verstärkte Reiterzüge der SS-Kavallerie zur Unterstützung von deren Ansiedlung eingesetzt. Dabei wurde erst mittels täglicher Patrouillen von SS-Reitern „der Widerstand der Polen gegen die neuangesiedelten Wolhyniendeutschen unterbunden“.92 Selbst Anfang des folgenden Jahres wurden die Einheiten noch mit derartigen Aufgaben betraut.93 Im Gegenzug wurden unter Mithilfe der Waffen-SS Zehntausende von Juden und Polen aus ihrer Heimat vertrieben. In den annektierten polnischen Gebieten des Warthegaus war die in Lucmierz stationierte Ersatzschwadron im November und Dezember 1940 an systematischen Vertreibungen der polnischen Bevölkerung beteiligt. Gleichzeitig wurde die jüdische Bevölkerung der Region ghettoisiert und dabei laut dem betreffenden Bericht „automatisch“ einer „Befriedung“ unterzogen.94
Ab Herbst 1939 standen Umsiedlungsaktionen von Juden in direktem Zusammenhang mit den Absichten der nationalsozialistischen Führung, die gesamte „Judenfrage“ nunmehr dauerhaft zu lösen. Schon die frühen Planungen für ein Judenreservat im Distrikt Lublin beinhalteten Überlegungen, nach denen eine Vielzahl von Juden im Zuge der deutschen Maßnahmen durch Hunger, die schlechten Lebensbedingungen, aber auch durch direkte Tötungen sterben sollten.95 Mit dem ersten Transport von 901 Wiener Juden in den Distrikt Lublin begann am 20. Oktober 1939 der Versuch der Umsetzung der Pläne. Vor Ort waren SS-Einheiten genau im Bilde. In einem Bericht der Reiterstandarte hieß es: „In nächster Zeit werden einige tausend Juden aus anderen Gebieten hierher gebracht. Die 5. Schwadron hat die Bewachung des Transportes. Weiterhin wird in Chelm ein Konzentrationslager errichtet. Die Bewachung wird ebenfalls von der 5. Schwadron gestellt werden, bis eine Infanterie-Totenkopfstandarte eintrifft.“96 Auch in anderen Stationierungsorten war die SS-Kavallerie an Deportationen beteiligt.97
Mit welcher Dimension von Terror die Vertriebenen in der neuen Umgebung konfrontiert waren, veranschaulicht ein Beispiel aus Zamosc. In der südlich von Lublin gelegenen Stadt waren im Dezember 1939 nach mehrtägiger Fahrt in Güterwaggons ohne Verpflegung über 500 Juden aus Leslau angekommen. Während Frauen und Kinder nach und nach in jüdischen Wohnungen einquartiert werden konnten, wurde ein Teil der Männer gezwungen, sich getrennt von ihren Familien im 20 Kilometer entfernten Szczebrzeszyn niederzulassen. Angehörige der in Zamosc stationierten 3. Schwadron der 2. SS-Reiterstandarte unter Josef Fritz nahmen am 17. Januar 1940 etwa 20 dieser Männer bei dem Versuch fest, zu ihren Frauen und Kindern zurückzukehren. Anschließend wurden die vertriebenen Juden zu Tode gequält. SS-Reiter übergossen die Festgenommenen auf dem Kasernengelände der Schwadron bei strengem Frost immer wieder mit kaltem Wasser, bis die Männer zu Eissäulen erstarrt waren. Die Tortur zog sich insgesamt über drei Tage hin.98
Letztlich führten Unstimmigkeiten mit der Verwaltung im Generalgouvernement im März 1940 zur Aussetzung der Transporte in den Distrikt Lublin. Sie wurden zwar im Laufe des Jahres noch einmal aufgenommen, insgesamt jedoch nur in geringem Umfang weitergeführt. Statt dessen favorisierte die NS-Führung vorübergehend den sogenannten Madagaskar-Plan; das war das Vorhaben, die europäischen Juden auf die Insel Madagaskar zu deportieren. Mit dem ausbleibenden Sieg über England und der daraus resultierenden Unsicherheit der Schifffahrtswege konnte der Plan von den Deutschen letztlich jedoch nicht realisiert werden.99