Читать книгу O Samael - Martin Francis Forster - Страница 13
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»Wir bringen ihn heim. Wir legen ihn in sein Bett und sorgen dafür, dass er dort gefunden wird! Sonst kommt er nicht in geweihte Erde.«
Wir hatten meinen Vater so vorsichtig wie es uns möglich war vom Baum geholt. Ich war hinaufgeklettert, hatte das Seil mit einem scharfen Messer, das Nele aus ihren Kleidern gezogen hatte, durchschnitten und Sebastian hatte unten den leblosen Körper aufgefangen.
Nele schlug zielsicher den Weg zum Hof ein. Sebastian und ich mühten uns mit dem Leichnam ab, fassten ihn abwechselnd unter den Armen und an den Beinen, wobei es unser Fortkommen zusätzlich erschwerte, dass immer der Hintere von uns beiden den unebenen Weg nicht sehen konnte. Als wir den Hof endlich erreichten, war ich schweißgebadet.
Die Türen waren nicht verriegelt, sodass wir ohne Umstände in das Haus kamen. Ich zündete zwei Laternen an, und wir schleppten meinen Vater die Treppe hinauf in seine Schlafkammer, wo wir ihn auf das Bett fallen ließen.
Nele zog ihm die Schuhe aus, riss ihm alle Kleider vom Leib, wusch ihm Hände, Füße und Gesicht und befahl mir, nach einem Nachthemd zu suchen. Es dauerte etwas, bis ich ein Hemd fand, das mir sauber genug schien. Um es ihm anziehen zu können, trennte Nele vorsichtig eine Naht der Länge nach auf und nähte sie, nachdem wir den Toten in das Hemd gezwängt hatten, mit Sorgfalt wieder zu.
»Viel Aufwand für ein Begräbnis in geweihter Erde«, murmelte ich.
Nele sah mir in die Augen, und ich erkannte, dass sie auf besondere Weise mit meinem Vater verbunden gewesen sein musste. Verbitterung und Zorn mischten sich in ihre Trauer.
»Johannes war kein gottloser Mann. Er war ein guter Mensch! Er mag Fehler gemacht haben, aber er war ein guter Mensch. Ich will, dass er anständig begraben wird. Ich will, dass seine Seele ihren Frieden findet.«
»Aber das Mal an seinem Hals? Das wird ihn verraten«, warf Sebastian ein.
»Das lass meine Sorge sein. Niemand wird Fragen stellen.«
»Er hat mich Bastard genannt.«
Unvermittelt brach aus mir hervor, was ich über Monate unterdrückt hatte. Die erlittene Demütigung, der Zorn und die Wut, die sich in mir angestaut hatten, der Schreck – aber auch die Erkenntnis, dass ich meinen Vater nun nicht mehr würde fragen können, welchen Grund er gehabt hatte, mich derart zu beleidigen – waren ihres Käfigs leid geworden. Für einen Moment herrschte beklommenes Schweigen, dann tat Nele schlichtweg so, als hätte sie mein Trotzen nicht gehört.
»Ich werde es übermalen, und wenn wir ihm das Hemd bis oben zuknöpfen, wird niemand etwas davon bemerken«, sagte sie bestimmt.
»Und was machen wir mit seiner Zunge?«
Die hervorquellenden Augen hatte ich meinem Vater mit Gewalt zurück in den Schädel gedrückt, damit wir dem Toten die Lider schließen konnten. Das feuerrote Mal an seinem Hals, das die Schlinge hinterlassen hatte, würde Nele mit etwas Geschick vertuschen können. Doch die Zunge, die dem mittlerweile steifen Körper grotesk zwischen den bläulich angelaufenen Lippen heraus hing, widersetzte sich und wie sehr wir uns auch bemühten, wir schafften es nicht, sie ihm in den Mund zu schieben.
Nele atmete tief durch.
»Wir werden sie abschneiden müssen.«
Ich sah, wie sie sich einen Ruck gab. Sie überwand sich, fasste die Zunge beherzt zwischen Daumen und Zeigefinger und versuchte, sie ein wenig weiter herauszuziehen. Mit dem Messer, mit dem ich im Wald schon den Strick durchtrennt hatte, schnitt sie in einem Zug die Spitze ab. Das abgetrennte Stück schob sie ihm in den Mund.
»Wir brauchen Leim für die Lippen«, sagte sie.
Sebastian schüttelte sich bei dem Gedanken daran, was Nele mit dem Leim vorhatte, doch er bot sich an, zur Schreinerei zu laufen und welchen zu besorgen.
»Ich finde den Weg von hier aus. In einer Stunde bin ich zurück« sagte er und war fort.
»Er hat mich Bastard genannt«, wiederholte ich, als wir allein waren.
»Ja ...«
Nele seufzte. Sie setzte sich an den kleinen Tisch, der in der Schlafstube stand, drehte den Docht der Öllampe höher und blickte aus dem Fenster. Es war tiefe Nacht geworden, draußen war es stockfinster, und so konnte sie nichts anderes sehen als ihr eigenes müdes Gesicht, das sich im Schein der Laterne in den fleckigen Scheiben spiegelte.
»Weißt du, dein Vater ... der Mann, den du für deinen Vater gehalten hast«, begann sie nach einer Zeit, »kam eines Tages zu mir. Er kam, weil ihm etwas weh tat. Etwas, das längst nicht mehr da war, bereitete ihm Schmerzen; alte Geister aus der Vergangenheit ließen ihn leiden«, begann sie.
»Meine Mutter?«
»Nein. Seine Hand, Junge. Er kam wegen seiner Hand.« Sie machte eine Pause, und ich schwieg. Nele ließ sich Zeit, bevor sie wieder anhub und weiter erzählte.
»Und ja, auch deine Mutter ... Natürlich trauerte er auch um sie. Doch das war ein anderer Schmerz, einer, den man nicht kurieren kann. Schuldgefühle lassen sich nicht heilen. Das kann nur die Zeit allein.
Aber es war seine Hand, wegen der er mich aufsuchte. Weißt du, seine Hand – die, die fort war – brannte und juckte ihn an manchen Tagen, wenn das Wetter umschlug, ganz fürchterlich, und er kam zu mir und bat um Hilfe. Diese Sorte Schmerzen kannte ich, dagegen konnte ich etwas tun. Ich stampfte ihm ein Pülverchen aus getrockneten Pilzen und Hanf, das tat ihm gut und linderte seine Schmerzen. So kam er wieder und wieder zu mir ...
Dann, irgendwann, blieb er ein Stündchen und fing an zu reden. Belangloses Zeug, das ihm durch den Kopf ging; Geschichten vom Hof, ein wenig Gerede aus dem Dorf. Ich hörte ihm zu. Und er hörte mir zu. Niemand sonst hört mir zu. Aber er tat es. Er staunte, er lachte oder nickte manchmal einfach nur mit dem Kopf. Es tat uns beiden gut ... Ich mochte ihn. Und er mochte mich.«
Sie schaute versonnen auf das Bett, in dem mein Vater lag, und versank wieder in langes Schweigen. Der Morgen begann zu dämmern. Ich wartete geduldig, bis sie weiter sprach.
»Er war genauso einsam wie ich es war, und das verband uns. Er erzählte von seiner Schwiegermutter, von der Demütigung, als Krüppel auf ihrem Hof zu leben und von ihrem Wohlwollen abhängig zu sein. Er sprach auch von dir, Adam. Von dem Sohn, den er nicht verstand und der mit ihm nichts gemein zu haben zu schien. Der ihm die Anerkennung und den Respekt verweigerte, den er als Vater verdient hätte.
Dabei sah er seine eigene Verantwortung nicht. Johannes tat sich selber leid. Und weil ich ihn von seinem Selbstmitleid befreien wollte, habe ich einen Fehler gemacht. Ich bin schuld an seinem Tod. Ich trage die Schuld daran, dass er sich das Leben genommen hat.« Sie stockte abermals.
»Du? Wie meinst du das?«
»Ich glaubte, es würde ihm helfen, die Wahrheit zu kennen. Aber das war ein schrecklicher Irrtum. Ich hätte es besser wissen müssen!«
Im Halbdunkel sah ich Tränen über ihre Wangen laufen. Ich fühlte mich unwohl und hätte sie am liebsten allein gelassen, denn ich hatte keinerlei Erfahrung darin, einen Menschen zu trösten.
Den Kummer der Seele öffentlich vor sich herzutragen, war etwas, das mir verboten worden war, und das mich bei anderen schnell anwiderte. Entweder nahm man Gegebenheiten hin, weil sie unabänderlich waren, oder aber sie waren es nicht; dann musste man nach einem Weg suchen, um ihnen zu entgehen oder um ihnen eine Richtung zu geben, der man folgen mochte. Geweint hatte ich jedenfalls noch nie. Buben weinen nicht, hatte ich einst von dem Mann, der jetzt tot neben uns lag, gelernt.
»Weißt du, ich kannte deine Mutter. Ada.«
»Du hast sie gekannt?«
Meine Mutter war hier, auf diesem Hof, aufgewachsen. Dennoch hatte ich das nicht erwartet und war überrascht. Nele sah bedrückt aus und tat sich sichtlich schwer damit, sich mir anzuvertrauen. Wieder musste ich warten, bis sie endlich weiter erzählte.
»Wie alt bist du heute?«, frug sie.
»Ich werde im Winter siebzehn.«
Sie nickte nachdenklich: »Dann ist es mehr als siebzehn Jahre her, dass sie zu mir kam. Ich selbst war damals nur wenig älter als sie. Es war einer der letzten Tage im Frühling. Deine Mutter war ein junges, hübsches Ding, ich erinnere mich gut. Mehr als hübsch, Ada war wunderschön. Ich glaube, jeder Mann im Dorf war damals in sie verliebt. Und das lag nicht allein an ihrer Schönheit. Sie besaß diese fröhliche Unbeschwertheit, die den Menschen das Herz aufgehen ließ, wenn man sie nur ansah.« Sie strich sich mit den Fingern die Tränen von den Wangen. »Nun, sie ging bereits schwanger mit dir, als sie eines Morgens vor meiner Hütte stand. Ihre Mutter, deine Großmutter, hatte sie zu mir gebracht, denn das Kind, das sie bekommen sollte ... es war nicht von ihrem Verlobten.«
»Dann ist es also wahr. Ich bin ein Bastard.«
»Ein Bastard, ja, aber dennoch ...« Ein tröstendes Lächeln glitt über ihr Gesicht.
»Dennoch was?«
»Ein Kind der Liebe.«
Die schwülstigen Worte klangen in mir nach ... Liebe.
»Wer war mein richtiger Vater?«
»Ich bin sicher, sie wollte dich behalten. Das brauchte sie nicht zu sagen, ich konnte es ihr angesehen. Es war deine Großmutter, die sie dazu drängte, dich wegmachen zu lassen. Sie hatte bereit die Ehe mit diesem wohlhabenden Gewürzhändler aus Aachen arrangiert: Johannes. Er war eine außergewöhnlich gute Partie, wie es damals schien, und die Hochzeit stand kurz bevor. Deine Großmutter wollte dich opfern für das vermeintliche Glück ihrer Tochter. Ein uneheliches Kind! Wer hätte deine Mutter da noch heiraten wollen?
Also tat ich, was ich so oft tat. Ich braute den Trank, der das Ungeborene sterben lässt, und noch in der Hütte zwang die Alte ihre Tochter, ihn zu trinken.« Sie hielt inne und blickte mich verwundert an. »Du dürftest eigentlich gar nicht hier sein!«, flüsterte sie.
Ich verstand nicht, was sie meinte und sagte: »Das ist das Haus meines Vaters. Natürlich darf ich hier sein.«
»Aber du solltest nicht hier sein, Adam. Du dürftest gar nicht auf der Welt sein!«
Neles Stimme hatte sich verändert. Ich begriff, was sie eben gesagt hatte, und ein Schauer lief mir über den Rücken.
Obwohl meine Großmutter versucht hatte, mich abtreiben zu lassen, weil ich der Bastard eines Fremden war und sie um die Zukunft ihrer Tochter fürchtete, lebte ich. Dabei wusste ich nur zu gut, dass jenes Mittel, das Nele braute, hätte wirken müssen; ich war dabei, als Katharina es einnahm.
Dann hatte ich sogar die Nacht überlebt, in der das Feuer ihr das einzige Kind genommen und alle Hoffnungen auf ein sorgenfreies Leben in Wohlstand zunichte gemacht hatte.
Gott – oder der Teufel – hatte ihre Pläne durchkreuzt. Einer von beiden wollte, dass ich meine Rolle in dieser Welt nach seinen Regeln spielte. Und ich ahnte, nein, ich wusste damals schon längst, wessen Regeln das sein sollten.
»Und du hast meinem Vater ... Du hast Johannes davon erzählt«, stellte ich fest.
»Weil ich glaubte, es würde ihm helfen; ja. Hätte ich nur meinen Mund gehalten!«
Nele begann wieder zu weinen. Ich fasste sie vorsichtig an der Schulter – weniger um ihr Trost zu spenden, mehr um zu unterstreichen, dass ich vor ihr saß, und dass ich ein Recht auf die Antwort der Frage hatte, die ich nun stellte.
»Bitte, Nele, wer ist mein leiblicher Vater?«
Sie schüttelte langsam den Kopf. »Niemand aus dem Dorf«, schluchzte sie.
»Kennst du seinen Namen? Lebt er noch?«
»Ich weiß es nicht. Er war ein Wandergeselle. Unterwegs von irgendwo nach nirgendwo.«
Wir hörten Schritte auf der Treppe. Sebastian kam zurück.
Nele fasste sich; mit einem Ruck stand sie auf und wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht.
»Eins noch, Nele. Als wir, Martha, Katharina und ich, dich im Frühjahr im Wald aufgesucht haben, da hast du zum Abschied etwas Beängstigendes zu mir gesagt; etwas, das ich nicht verstanden habe.«
»So? Was habe ich gesagt?«
»Du sagtest: ,Eins wird ihn töten.’ Was soll das bedeuten?«
Sie sah mich an. Sie schien nicht verwundert zu sein. Vielmehr betrachtete sie mich mit einer Mischung aus Neugier und Verständnislosigkeit.
»Hab ich das? Ich erinnere mich nicht.«
Ich spürte, dass sie die Wahrheit sagte. Sie erinnerte sich tatsächlich nicht.
Als Sebastian den Raum betrat, wirkte die Wurzel-Nele wieder so stark, wie ich sie kannte. Sie nahm ihm zielstrebig den Topf mit dem Leim aus der Hand und machte sich stumm an die Arbeit.
*