Читать книгу O Samael - Martin Francis Forster - Страница 4
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Eben noch war Stille.
Der Mondhimmel hatte die Farbe von angelaufenem Silber, und in der Neujahrsluft hing eine Ahnung von Schnee, der bald kommen mochte.
Alle Welt wartete.
Die Stadt wartete gespannt auf das Glockengeläut, das die Mitternacht verkündete, und mein Vater ungeduldig darauf, mich in den Arm nehmen zu können, denn ich war längst überfällig, schon einige Tage über der Zeit.
Als ich in der letzten Minute des Jahres 1843 endlich das Licht der Welt erblickte, hatten sich die Wehen schon seit Weihnachten hingezogen, und so wurde meine Geburt zu einer schmerzhaften und quälenden Tortur. Besonders schmerzhaft für mich, weil ich zu guter Letzt gar versucht hatte, mich durch Drehen und Wenden meiner Bestimmung zu entziehen.
Meine Mutter, halb wach, halb betäubt, stöhnte kaum, als teigig-bleiche Hände ihr den Bauch aufschnitten und mich aus ihrem Leib metzgerten; ich hingegen, der ich mich so geweigert hatte, meine warme, weiche Höhle zu verlassen, musste unweigerlich lachen, als ich die einfältigen Gestalten erblickte, die mich in Empfang nahmen.
Der Arzt, ein fetter Kerl mit dem Gesicht eines Kürbisses, grunzte: »Ein Sonntagskind, grade noch«, durchschnitt die Nabelschnur und gab mich in die Hände einer noch fetteren Frau, die eben meiner Mutter das Beißholz aus dem Mund genommen hatte und mich nun in saubere Tücher wickelte, um mich tumb grienend meinem Vater, der seit Stunden bangend vor der Tür verharrte, vors Gesicht zu halten.
Er wiederum, unter dem Einfluss mehrerer Flaschen Wein und somit wohl in Ermangelung von Sinn und Verstand, hatte nichts Besseres zur Hand, um seinem – unverdienten, wie ich viele Jahre später erfahren sollte – Stolz Ausdruck zu verleihen, als einen chinesischen Knallkörper, den der Wahnsinnige im Freudentaumel tatsächlich zündete. So kam es, dass ich nicht einmal zwei Minuten alt war, als ich begann, meinen Vater zu verachten, denn mit einem ohrenbetäubenden Knall und viel Getöse stimmte die ganze Welt ein in seinen schwachköpfigen Veitstanz, und in diesem Augenblick ging die Erde unter:
Zum Klang der Domglocken trat aus einer Wolke von Schwefel der Leibhaftige selbst, packte mich mit seinen haarigen Händen, nahm mich auf seinen Rücken und öffnete mir mit einem infernalen Donnerschlag das Tor zum Orkus.
Wie ich erschrak!
Dass ich von diesem Moment an auf dem linken Ohr so gut wie taub war, sollte später eine Menschenseele retten. Meine eigene Seele und wohl die der halben Menschheit schien ohnehin verloren. Diese eine Seele aber, die nicht verloren war, hatte es stets verstanden, die aufgewühlte Erde in einen seltsam ruhigen Ort zu verwandeln, in ein Paradies ohne Kain und ohne Abel. Diese Seele hätte vielleicht sogar die Kraft besessen, die meine zu läutern, wenn ich es nur zugelassen hätte.
Der Teufel jedoch ist ein ganzer Mann, und ein rechter Mann fackelt nicht lange. Zielsicher lenkte er mein Schicksal mit straffen Zügeln, und bei meinem allerersten Ritt auf seinem Rücken gab er mir einen Vorgeschmack auf die ewigen Kriege des Lebens, auf Hungersnöte, Feuersbrünste, Krankheiten und tausenderlei Tode und all den anderen ungerecht verteilten Kummer überall um mich herum.
Unter seinen schwarzen Schwingen sah ich die Welt, wie sie seit jeher gewesen war und wie sie immer sein würde. Ich sah die Menschen, gefangen in ihrem ewig wiederkehrenden Kreis aus Geburt und Tod, sah ihre vergeblichen Mühen und ihre sterbenden Träume. Hoffnung und Verzweiflung gingen Hand in Hand, wechselten nur durch eine Geste des Gehörnten binnen Augenblicken ihre Gestalt und tarnten sich gegenseitig hinter der anmutigen Maske eines süßen Versprechens. Kleine Glücke, bei denen Trauer und Reue Pate standen.
Doch in dieser Nacht mit ihren wechselnden Farben zeigte mir der dunkle Verführer neben dem Leid auch die irdischen Schönheiten in ihren unendlichen Facetten und versöhnte mich dadurch mit meiner Angst. Die Welt wurde bunter, als sie es je zuvor gewesen war.
Wir stürmten mit dem Schneegestöber, ritten durch zerberstende Sterne, galoppierten über glühende Sonnenaufgänge, nur um schließlich durch zwielichtige Spelunken, prunkvolle Schlösser und schwülstige Freudenhäuser zu tanzen.
Einem wütenden Kometen gleich, zogen wir einen hell lodernden Schweif hinter uns her, in dessen Sog aus Versuchung sich die Huren, Mörder und all die bigotten Heuchler in ihren Eitelkeiten verfingen, ehe ihr Jauchzen erlosch.
Hier wurde getanzt, dort wurde geschändet. Wurde hier gevögelt, so wurde nebenan gestorben. Alles zugleich. Und manchmal gar zur selben Zeit, am selben Ort.
Alldieweil spürte ich das Muskelspiel seiner kräftigen Schulterblätter, roch ich seine strotzende Männlichkeit und sog ihren herben Duft tief in mich ein. Ich war so aufgeregt! Mein kleines Herz raste wie wild, als wir Richtung Himmel schossen und ich seinem tiefen Lachen lauschte.
»Was möchtest du haben?«, rief er mir über die Schulter zu. »Schau dich nur um! Es gehört alles dir! Was auch immer du dir wünscht, ich werde es dir schenken.«
Ich wusste noch nicht, dass ein Neugeborenes keine Worte kennt. Ich öffnete den Mund, wollte etwas sagen, doch lediglich ein seliges Glucksen kam über meine Lippen.
Der Gehörnte schwieg. Wir standen weit über der Erde in der Luft, und in den Wolken rings um uns herum knisterten die Blitze. »Aha«, sagte er nach einer Weile. »Das wird schwierig werden.«
Dann legte er die Flügel eng an seinen Körper, und im Sturzflug fielen wir scheinbar haltlos zurück zur Erde.
Alles, was ich wollte ...
War das gut? War das schlimm? War das Übel, das ich ahnte, die eigentliche Essenz von allem?
Als der Knallkörper explodierte und meinem Vater die Hand abriss, entfachte das Höllenlicht aus Schwefel und Salpeter ein funkelndes Bengalo in allen Ecken meines weiten Universums. Von überall rieselten glühende Schnuppen auf Laken, Vorhänge und Teppiche, und über goldenen Funken stiegen feine weiße Rauchfähnchen auf. Die fette Hebamme ließ mich fallen, der fette Arzt, dieser Tölpel, zuckte zusammen und trat mich zur Seite. Durch eine Lache aus Fruchtwasser glitt ich über den Boden, die Türe zum Korridor öffnete sich und eines der Mädchen, das heißes Wasser hatte bringen wollen, bückte sich mit der Absicht, mich hochzuheben. Der Arzt stieß sie zur Seite und stürzte aus dem Zimmer. Das heiße Wasser ergoss sich über mich, die Blechwanne fiel herunter und begrub mich unter sich.
Auf dem Treppenabsatz gab es ein hysterisches Gerangel, als die wogenden Massen der Hebamme sich einer biblischen Flut gleich an dem Mädchen und dem Arzt vorbeizudrängen versuchten; allen dreien im Nacken das Schmerzgebrüll meines betrunkenen, Blut verspritzenden Vaters.
»Ada!«, schrie er in die leuchtende Nacht. »Ada!« und immer wieder »Ada!«, während meine schöne Mutter im Kindbett bei lebendigem Leib verbrannte.
So fiel in jener Neujahrsnacht das Stadthaus meiner Vorväter in Schutt und Asche. Der Rauch trug glimmende Teilchen mit sich, und neben dem Haus brannte alsbald der Schuppen, loderten die Stallungen und verglühte das Gewürzlager, das bis unter die Decke mit Leinensäcken und Holzfässern voller kostbarer getrockneter Kräuter, Samen, Körner und Wurzeln gefüllt war.
Als es in den Morgenstunden zu schneien begann, hatte sich das Vermögen meines Vaters in Luft aufgelöst.
Am nächsten Tag fand man mich schreiend, aber nahezu unversehrt in der Asche, geschützt durch die umgestülpte Blechwanne, die mit einer feinen Schicht Neuschnee bedeckt war. Es sei ein Wunder Gottes, murmelten die Leute, dass ich den Brand überlebt hatte. Doch ich wusste, dass, als das Chaos über mich herein brach, nicht Gott, sondern jemand anderes meine Hand gehalten hatte.
Heute noch wache ich in mondhellen Nächten auf, wenn der Wind heult und das Laub in den Bäumen zum Rascheln bringt, dass es klingt wie knisternde Flammen und trauere. Dann ist mir (wie kann das sein?), als stiegen mir die Gerüche von gerösteter Senfsaat, verkohltem Zimt, schwarzem Salbei und frischem Schnee hinter die Stirn, um sich dort mit meinem kalten Albschweiß zum Elixier der Stunde meiner Geburt zu vermengen. Über allem hängt schwer das schwefelige Bouquet eines ewigen Kummers.
Und ich höre meiner Mutter Weinen.
Für all dies gab mein Vater Zeit seines Lebens mir die Schuld. Doch da er bei Tisch immer links von mir saß (meine Großmutter, dieser verhärmte Knochen, die mir kaum mehr Zuneigung entgegen brachte als ihr Schwiegersohn, saß rechts und hatte somit weitaus größeren Einfluss auf meine Erziehung), hörte ich allenfalls die Hälfte seiner vor sich hingenuschelten Hasstiraden und scherte mich einen Hundsdreck um das Gewäsch des einhändigen Kaspers.
Die wenigen vollständigen Worte, die ich mitbekam, setzte ich in meinem Kopf zu neuen Sätzen zusammen, zu orakelhaften Sinnsprüchen ohne Sinn, legte sie zurück in meines Vaters Mund, und so formte sich mir das Bild eines nicht nur verkrüppelten, sondern gleichermaßen stumpfsinnigen Jammerlappens, der nichts konnte oder tat, der hier auf dem Land auf dem Hof meiner Großmutter zu nichts nutze war und tagein, tagaus als Schmarotzer das Abendmahl mit uns einnahm, und der ansonsten den Tag über den Leuten aus den Augen ging.
So wuchs ich heran und gedieh prächtig – wie ich die Amme, die mich gestillt hatte, zu meiner Großmutter sagen hörte.
Noch an jenem Neujahrstag hatte man mich mit der Befürchtung, ich könne den Abend nicht erleben, auf den Namen Adam getauft. Aber bald schon zeigte sich, dass ich von robuster Natur war. Ich wurde größer und stärker und half schon früh, wo ich konnte, sammelte Holz, mistete den Stall, fütterte und melkte die zwei Kühe und die Handvoll Ziegen. Bald begann ich, im Hause kleinere Reparaturen an den Fensterläden, den Treppenstufen oder dem Dach auszuführen, und es kam der Tag, an dem meine Großmutter fand, ich sei lange genug zur Schule gegangen, und es sei nun an der Zeit, etwas Anständiges zu lernen, weshalb sie mich, ich war nicht einmal dreizehn Jahre alt, beim hiesigen Dorfschreiner in die Lehre gab.
So kam ich also zu Meister Esau, und hier war es, wo seine älteste Tochter, sie war sechzehn zu der Zeit, mir als Erste die Augen öffnen sollte für das, was ich für die Leute zu sein schien. Etwas Besonderes nämlich; das verheißungsvolle Abbild ihrer verlorenen Träume und Hoffnungen.
So wuchs ich heran und gedieh prächtig zu jenem Geschöpf aus begehrenswertem Körper und klarem Geist, gepaart aus unvoreingenommener Neugier und fast schon arroganter Gleichgültigkeit. Und in Anbetracht des Mangels an Zuneigung und guten Vorbildern verwundert es wenig, dass ich zwar äußerlich anziehend, doch innerlich anteilslos und unfähig war, echtes Mitgefühl zu empfinden.
Ich war ein verstocktes Kind, das mit einem unnachahmlich offenem Blick die Menschen in die Irre führte. Meine Verstocktheit legten sie als Bescheidenheit aus, mein Schweigen als Zurückhaltung. In meinen ebenmäßigen Zügen sahen die Leute nichts Arges, in meinen Augen, warmblau wie der See an einem Sommernachmittag, wollten sie etwas Engelsgleiches entdecken. In meinem Wuchs und Körperbau sahen sie die Anmut und Entschlossenheit eines himmlischen Kriegers. In meinen muskulösen Gliedern den Fleiß und die Früchte harter Arbeit eines irdischen Werkers. Und meine Lippen! Diese Lippen, karmesinrot und voll, immer leicht geöffnet, immer mit sinnlich-sanftem Schwung zugleich alles fordernd und nichts erwartend, konnten wortlos sagen, was sie wollten, konnten lächelnd lügen ohne zu reden. Und eben das wollten sie, die Menschen: belogen werden; einjeder auf seine eigene Weise. Jedem die Lüge, die er brauchte.
All das wusste ich nicht. Und es sind auch nicht meine eigenen Worte, die ich hier wiedergebe. Ich bin nicht so verblendet, so selbstverliebt, dass ich Derartiges über mich selbst würde behaupten wollen. Ohnehin klingen diese pathetischen Worte ziemlich übertrieben und sind bei genauerer Betrachtung nur wenig schmeichelhaft für mich.
Nein, Pathos und schwülstige Theatralik sind die sprachlichen Werkzeuge des Teufels, und er selbst, ständig schwankend zwischen bissiger Häme und einem besessenem Hang zur Dramatik, hat mir einen Teil des verbrämten Geschwafels in die Feder diktiert.
Und manches wurde mir von dem unschuldigsten Menschen der Welt, dem ich einst unendliches Leid zugefügt habe, auf die Stirn zugesagt.
Ich möchte hier lieber erzählen von dem Anderen, dem Verborgenem, dem Dunklen in mir, das ich unsichtbar wähnte
für alle, die mir begegnen sollten, und das sich – wenn überhaupt – allenfalls in der Narbe offenbart, die ich als unverhohlene Warnung, wenngleich sie bislang jedermann in den Wind schlug, wie eine Prophezeiung mit mir trage.
»Deine Lippen lügen wortlos, doch die da ...«, und liebevoll strichen blasse Finger über die alte Wunde, ehe die müde Hand erschöpft zurück sank, »die da verrät dich, wenn man nur Willens ist, hinzuschauen.«
Dann hatten die trüben Augen sich abgewandt und der Blick war in die Ferne geschweift, als könnte er von irgendwo dort auf Hilfe hoffen.
Im herben Widerspruch zu meinem makellosen Gesicht steht diese Narbe daumenlang auf meiner rechten Wange. Sie ist die Signatur der ersten Nacht meines Lebens, als ich von Reitstiefeln getreten über den nassen Boden glitt, als der Teufel mich zwischen seine schwarzen Flügel nahm und für den frisch geschlossenen Pakt einen Blutzoll verlangte, und sie schmälert meine Anziehungskraft nicht einen Deut. Ganz im Gegenteil: der Teufel hatte mir ein Geschenk gemacht, das mir Zeit meines Lebens jene Spur von Verwegenheit verlieh, die aus dem Schönling einen Mann macht und ihn dadurch über den Feigling erhebt.
Diese Narbe legt Zeugnis ab von allgegenwärtiger Gefahr, mahnt düster an die Sterblichkeit, raunt hinter vorgehaltener Hand Geschichten über die Hölle, erzählt sogar von Beelzebub selbst. Doch die Rufe der Kassandra – als wäre es je anders gewesen! – verhallen ungehört; denn ja, es stimmt, meine Lippen lügen ohne zu reden, und neben meinem Lächeln verstummt der Narbe Warnung.
Als wollte er zeigen, dass ab hier sein Herrschaftsbereich begann, hatte der Schreiner einen Fuß auf den alten Grenzstein vor seinem Hof gestellt. Holzstaub ließ sein Haar im Licht der untergehenden Sonne goldgepudert erscheinen, und Hemd und Hose waren von oben bis unten mit Spänen bedeckt. Das gefiel mir.
»Du siehst aus, als könntest du ordentlich zupacken.«
Es war ganz offensichtlich die Narbe, die ihn zu dieser Schlussfolgerung verleitete.
»Nun gut. Sechs Jahre geht der Bub bei mir in die Lehre, dann sehen wir weiter.«
Er spuckte sich in die schwielige Pranke, hielt sie meiner Großmutter hin, und sie schlug ein.
»Er steht nun unter deiner Obhut, Esau«, sagte sie mit steifer Miene. »Jetzt bist du in der Pflicht. Behandle ihn gut oder tritt ihn. Aber achte auf ihn, und sieh zu, dass aus ihm etwas Gescheites wird!«
Sie ging davon, ohne mich noch einmal anzusehen. Ich stand allein mit dem Meister vor dem Tor.
Der Oktober neigte sich dem Ende zu, und an den Bäumen hing das letzte bunte Laub, als des Schreiners Heim auch zu meinem wurde.
Ein wenig unbeholfen strich er mir durchs Haar.
»Komm mit, Junge! Ich zeig dir deinen Platz.«
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